Als Herr Thiers vor einigen Jahren in London war und eben in die St.-Pauls-Kirche treten wollte, um die Grabstatuen eines Nelson, eines Collingwood und andrer britischer Helden zu beschauen, da erinnerte man ihn daran, daß er 4 Pence Entrée zu bezahlen habe.
Der kleine Franzose zog spöttisch seinen Geldbeutel und bemerkte dem Kirchendiener, daß die Engländer wenig große Männer zu haben schienen, da man sie noch für Geld sehen lasse. - So Herr Thiers in England! Louis Blanc hatte auf seiner neulichen Flucht durch Belgien bei weitem mehr Grund zu einer solchen Bemerkung.
Wenn der belgische Löwe sich in einen weißen Esel verwandelt hätte, wenn mit einem Mal der Fliegende Holländer im Antwerpener Hafen gelandet oder wenn die offizielle belgische Presse plötzlich zu einiger Scham und die Herren Chaaaazal und Hoooody zu einiger Vernunft gekommen wären, so hätten die neutralen konstitutionellen Belgier in kein größeres Zetermordio ausbrechen können als neulich, wo ihnen der flüchtige Louis Blanc in das gesegnete Ländchen hineinsprang. Ja, der Teufel, der doch sicher ein berühmter Mann ist, könnte durch sein Erscheinen nicht mehr Sensation machen als das berüchtigte Mitglied des provisorischen Gouvernements.
Belgien ist so kahl an großen Männern wie die Lüneburger Heide an Myrten; Belgien ist so arm an berühmten Leuten wie der Marstall König Leopolds an Elefanten; ja, Belgien hat nur einen großen Mann: das Manneken Pis!
Louis Blanc kam mit dem Eisenbahnzuge von Lille in Gent an. Die Fabrikschornsteine des belgischen Manchester hörten auf zu rauchen; einige Arbeiter, die gerade am Typhus sterben wollten, richteten sich noch einmal empor und schauten verwundert um sich; den Familienvätern der Börse lief es eiskalt über den Rücken, eine unheimliche Stimmung herrschte durch die ganze Stadt, und niemand wußte weshalb.
Da schaut irgendein beliebiger Mensch auf die Gasse; er sieht einen kleinen Herrn vorüberhuschen, im schwarzen Frack, mit klugfunkelnden Augen, flink und lebendig. Wer mag der Fremde sein? Der Nachschauende stutzt, er besinnt sich, er erkennt ihn: "Louis Blanc!" ruft er entsetzt, und "Louis Blanc!" tönt es weiter von Mund zu Mund; die ganze Stadt ist in Alarm. Den Gentern stehen die Haare zu Berge - sie haben einen berühmten Mann in ihrer Mitte; Belgien ist seinem Untergange nahe, die Gewitterschwüle des Tages ist zu erklären.
Jeder Tölpel ist in Belgien willkommen; frei und ungehindert kann er in dem gastfreien Lande seine Fünffrankstücke wegwerfen, wie's ihm gefällt; keine Haussuchungen finden bei ihm statt, man schleppt ihn nicht ins Amigo, der Herr Hody grüßt ihn, und der Herr Chazal sagt ihm guten Tag; oh, ein Tölpel ist in Belgien unter Brüdern, glücklich lebt er mit seinesgleichen; wenn du ein Tölpel bist, lieber Leser, so gehe nach Belgien; bist du aber ein geistreicher, berühmter Mann, oh, dann nimm dich in acht, sei auf deiner Hut, du bist deines Lebens nicht sicher, bleib lieber zu Hause! Ach, hätte ich das Herrn Blanc sagen können!
Außer der belgischen Konstitution und der flandrischen Misere ist die königliche Polizei das bemerkenswerteste Institut des belgischen Musterstaates. Ein belgischer Polizist sieht steif aus wie ein Ausrufungszeichen (!), nur wenn man ihm 25 Centimen oder einen Fußtritt gibt, dann verwandelt er sich plötzlich in ein demütig gebücktes Fragezeichen (?).
Louis Blanc gab weder 25 Centimen noch einen Fußtritt, und die Götter wollten es daher, daß ihn die nichts weniger als neutrale belgische Polizei auf der Stelle arretierte und sofort in ein Nationalgefängnis schleifte.
Diesen konstitutionellen Nationalkerker nennt man in der schönen Sprache des Landes den Mammelokker.
Louis Blanc wurde in den Nationalmammelokker gebracht. Armer Louis! Der Held des Luxembourg im Mammelokker von Gent! Aber die belgische Polizei tat ihre Pflicht. Louis Blanc war nun einmal erkannt; Louis Blanc war ein berühmter und ein geistreicher Mann. Was würde Herr Hody tun? Arretieren, arretieren! Ein geistreicher Franzose ist ansteckend, ist gefährlich ! So räsonierte die Polizei; sie war naiv genug zu glauben, daß ein Belgier von etwas Geistreichem angesteckt werden könne.
Louis Blanc saß im Mammelokker. Und sieh, ehe er noch Zeit hatte, nur ein einziges Mal über die Vergänglichkeit alles Irdischen nachzudenken, ja, ehe er noch dazu gekommen war, die trefflichen Sitten der gastfreien Belgier in tiefster Seele zu bewundern, da erschienen auch schon, wie uns der "Messager de Gand" aufs treueste berichtet, vor dem Gitter des Mammelokker: der Gouverneur, der Bürgermeister, mehrere höhere Offiziere, die Mitglieder des Barreaus und andere ausgezeichnete Personen, um den eingefangenen schrecklichen Franzosen einmal ganz in der Nähe zu begaffen, mit rechter flandrischer Gemütsruhe, wie Kinder einen Löwen beschauen, einen Tiger oder einen melancholischen Adler. O schönes flandrisches Stillleben! Es fehlte noch, daß die Genter Damen auf ihren großen Füßen herangewackelt wären, und die Nationalkomödie wäre fertig gewesen.
Nachdem man sich satt geschaut und satt gewundert hatte, dachte man indes wieder daran, mit wieviel Gefahren es verbunden sein würde, wenn man einen berühmten Mann länger als 24 Stunden in den wohlgebauten Mauern des Mammelokker beherberge. Furcht stieg in den flandrischen Seelen auf; man setzte sich sofort mit Herrn Hody in Verbindung, und ehe noch der Eisenbahnzug nach Ostende abging, schaffte man den Gefangenen auch schon auf Umwegen nach einer benachbarten Station, um ihn dann mit einem Laufpaß gen Albion zu entlassen.
"Qu'on emmene cette canaille!" - das war der letzte Gruß, den ein Mitglied des Ostender Stadtrats dem Scheidenden zurief, und die Wogen rauschten, und die Möwen sangen, und hinüber fuhr der Geächtete nach dem Vaterlande Shakespeares.
Jedenfalls hat das Vaterland Shakespeares den Vorzug vor dem Vaterlande des Manneken Pis, daß sich England zu Belgien verhält wie eben der große William zu dem kleinen Manneken. Ein Walfisch und eine Laus, würde der alte Goethe sagen. Louis Blanc landete in Dover -- man kann sich denken, welch ein seliges Gefühl die britischen Herzen überschlich, als sie den "berüchtigten Kommunisten" in so desolaten Umständen ans Land steigen sahen. Wie uns der "Messager de Gand" die Schicksale Louis Blancs in Belgien berichtet, so meldet uns die "Times" in einem ihrer leitenden Artikel die Ankunft des Flüchtigen in England. "Außer dem Julikönig von 1830", meint die "Times", "ist nun auch das provisorische Gouvernement des Februar bei uns angekommen. Augenblicklich sitzt Cavaignac am Ruder - wie lange wird dies dauern, und was dann? Aber es mußte so kommen, wir haben es vorhergesagt." - Es gibt keine schönere Altweiberphrase als diese: "Aber es mußte so kommen, wir haben es vorhergesagt." Der Artikel der "Times" beginnt und schließt damit. - Unter der würdevollen großbritannischen Kälte sucht die "Times" vergebens jene stille Schadenfreude zu verbergen, jenes freundliche Schmunzeln, das dem Gerechten und dem Frommen so wohl steht. Treu spiegelt die "Times" die Stimmung John Bulls wider, jenes guten, dicken Mannes, dem seit den letzten 5 Monaten das Essen mehr als einmal herzlich schlecht schmeckte, wenn er daran dachte, was jenseits des Kanals vorging.
John Bull war ganz aus seinem Gleis gekommen; es wurde ihm gelb und grün vor den Augen, wenn er sah, wie sich eine Gesellschaft von Advokaten, Journalisten, Poeten und Astronomen im Hôtel de Ville festsetzte, um hinfort die Geschicke einer der größten Nationen der Welt zu lenken. - Aber die Engländer sind einmal so. John Bull glaubt geradeso steif und fest an die krumme Nase seines Wellington wie an die Allmacht Gottes oder an die Unsterblichkeit der Seele. Er kann sich wohl damit befreunden, daß von Zeit zu Zeit eine Änderung in den Zucker- und Rumzöllen eintritt; wenn man ihm aber begreiflich machen wollte, daß sich ein Redakteur des "Northern Star" einst auf die Bank des Schatzkanzlers oder ein Redner der "Crown and Anchor Tavern" auf den Platz des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten setzen könne, so würde er einen mit ungläubigen Augen ansehen oder "You are a donkey, Sir!" ausrufen. "Sie sind ein Esel, mein Herr!"
Ein Engländer würde sich gar nicht wundern, wenn er eines Morgens seine Zeitung in die Hand nähme und sich davon überzeugte, daß die britischen Truppen ganz China über den Haufen geworfen hätten; sähe er aber statt des alten Hume einen Harney, statt eines Lord George oder Lord John einen Ernest Jones sich im Hause der Commons emporrichten, ja, Sir Robert Peel statt einer weißen Weste eine rote und Lord Brougham statt einer karierten eine einfache Hose tragen, da würde er tiefsinnig den Kopf senken und eine halbe Stunde lang sprachlos hinab in sein Glas Brandy stieren.
John Bull begnügte sich daher auch mit einem selbstgefälligen: "Es mußte so kommen, und ich habe es vorhergesagt", als er den entsetzlichen kleinen Franzosen, den ersten Arbeiter Frankreichs, im Ship Inn in Dover absteigen sah. Nicht mit der kindischen Neugier eines belgischen Kleinbürgers, nein, mit dem mitleidigen Lächeln eines stolzen Briten schaute er auf den berühmten Flüchtling hinab. "Louis Blanc ist bei uns angekommen", sagt die "Times", "der Verfasser der ,Geschichte der Zehn Jahre' wird noch in aller Welt bekannt sein, wenn der Staatsmann des 24. Februar längst vergessen ist." Weder Gouverneure noch Bürgermeister, noch höhere Offiziere, noch die Mitglieder des Barreaus laufen herbei, um den seltenen Mann zu sehen; man sperrt ihn auch nicht in den Mammelokker; frei kann er reisen von Dover nach London und von London nach Dover, keine Seele wird sich um ihn kümmern, wenn er nur nicht über die Königin lästert, und niemand wird ihm was zuleide tun, dafern er stets sein Beef und seinen Porter bezahlt in Pfunden, Schillingen und Pence.