Offener Brief des "Radikalen" an den Ausschuß der Bürger, Nationalgarde und akademischen Legion für Ordnung, Sicherheit und Wahrung der Rechte des Volkes.

Der Ministerial-Erlaß vom 1. d. M. bezüglich der Wahlen zum bevorstehenden konstituierenden Reichstag enthält neben vielen Punkten minderen Belanges, die vor einer scharfen Kritik sich gewiß nicht stichhaltig bewiesen, namentlich drei Bestimmungen, welche die Rechte des Volkes in nicht zu verantwortender Weise kränken.

  1. Nach § 16 sind alle Arbeiter, die in Taglohn, ja sogar, die in Wochenlohn stehen, von den Wahlen ausgeschlossen. Eine ganze zahlreiche, höchst notwendige wie höchst achtbare Klasse von Staatsbürgern, deren Interessen richtig und würdig vertreten zu sehen nicht bloß für sie selbst, sondern für das Gemeinwohl wichtiger ist als so manches, dessen Aufrechthaltung die im Finstern schleichende Rückschrittspartei samt ihren gegängelten konservativen Bundesgenossen als unverletzliche Gewissenssache predigt, - dieser ganze vierte Stand darf also keinen Einfluß auf die Institutionen ausüben, deren heiliger Zweck es doch ist, den Gesamtwillen der Nation zu offenbaren, - dieses ganze, oft vorzugsweise so genannte Volk darf nicht teilnehmen an der Wahl derjenigen Männer, die den schönsten Ehrennamen Volksvertreter führen!
  2. Der § 32 verfügt, daß niemand zum Abgeordneten gewählt werden könne, der nicht Wähler in einem jener Teile der Monarchie ist, für welche die Verfassungsurkunde erlassen wurde, und um Wähler zu sein, muß man zufolge § 16 seit sechs Monaten in irgendeinem Wahlbezirk seinen ordentlichen Wohnsitz gehabt haben. Wer also kurz vor den Wahlen aus einem Distrikt in einen ändern übersiedelte, wer Gesundheits oder Geschäfte halber in Italien oder Ungarn oder Deutschland lebt, ja, wer vor unserer ruhmwürdigen Revolution im Dienste der Freiheit, die wir zum Teil ihm jetzt verdanken, die Grenzen des geknechteten seufzenden Kaiserstaates mied, wie Schuselka, Wiesner und viele andere, - der ist ... unwahlfähig! Und so kann es sich ereignen, und es liegt mehrfach sogar vor, daß Männer, die zu den Würdigsten gehören, die das Vertrauen der Nation mit am höchsten verdienen und genießen, dem Volke als Abgeordnete entzogen sind!
  3. Nur direkte und kollektive Wahlen vermögen von dem wahren Volkswillen ein echtes Zeugnis abzulegen, nur durch sie kann eine Kammer entstehen, deren Zusammensetzung in verkleinertem Maßstab die Meinungsmischung der Bevölkerung im Großen abspiegelt. Um jedoch die Eröffnung des konstituierenden Reichstages nicht noch weiter hinausschieben zu müssen, um nicht mitschuldig zu werden an dessen ohnehin so unbegreiflich wie unverzeihlich verspäteter Einberufung, wollen wir auf diese, wenn auch so begründete Forderung verzichten. Möge es für dies Mal bei dem Schoßkind der Halbliberalen, bei den indirekten Wahlen verbleiben; für die Zukunft wird der Reichstag hoffentlich diesen wie so manchen Ballast aus der modernden Rumpelkammer unserer Staatseinrichtungen über Bord werfen, um frei und leicht durch die Wogen des konstitutionellen Lebens mit vollen Segeln schiffen zu können. - Soweit indessen, als es ohne Zeitverlust möglich ist, muß schon jetzt das Naturwidrige und Verschrobene des angeordneten Wahlmodus eingerenkt, muß die den ganzen Geist einer Volkswahl verleugnende Zersplitterung der Wahlen aufgehoben werden; und das ist am einfachsten und wirksamsten zu bewerkstelligen, wenn man möglichst große Zusammenkünfte der Wahlmänner behufs Kollektiv-Wahlen veranstaltet. Dann tritt wenigstens diesem Körper gegenüber der unentbehrliche Einfluß der Kandidaten auf ihre Wähler ins Leben, und es entsteht somit wenigstens ein Miniaturbild der persönlichen Wechselwirkung zwischen dem Volk und seinen Vertretern. Hierdurch aber ganz allein sind, namentlich auf dem Land, die tausendfachen offenen und geheimen Wahlumtriebe, welche nur sogenannte Volkswahlen schmählicherweise zu Protektionswahlen einer Kotterie oder gar eines einzelnen Bestechers oder Bestochenen herabwürdigen, bei ihrer faulen Wurzel auszureißen.

Wie schlecht stimmt diese Zwangsjacke, die man der Wahlberechtigung eines ganzen freien Volkes anlegen will, welches stark genug war, um die Fesseln von Jahrhunderten in drei Tagen zu zersprengen, edel genug, um keine blutige Rache an seinen geistigen Henkern und Henkersknechten zu nehmen, klug genug, um alle Ränke der Herz- und Ehrlosen, die aus schnödem Eigennutz die alte Zwingburg wieder aufbauen möchten, Zuschanden zu machen, und besonnen genug, um trotz aller durch die Mißgriffe einer kleinmütigen Regierung und die Perfidie eines übermütigen Hofadels erzeugten Gefahren sich selbst vor Anarchie und Pöbelherrschaft zu schützen, - wie schlecht stimmt dies zu dem allgemeinen Vertrauen, das die Nation seit dem 15. März zu der persönlichen Gerechtigkeitsliebe des Monarchen trotz so mancher bedenklichen Prüfung stets gehegt und bewiesen, wie schlecht stimmt es zu der am 25. April (im Verleihungs-Patent der Verfassung) ausgedrückten schönen kaiserlichen Überzeugung: "daß die Staatsinstitutionen den Fortschritten folgen müssen, welche in der Kultur und Geistesentwicklung der Völker eingetreten sind", und zu der freisinnigen Bestimmung des sonst nicht allzu freisinnigen Verfassungsentwurfs, die bei solcher Wahlverkrüppelung freilich zu einer hohlen Phrase wird, nämlich, daß "die Wahl der Mitglieder der Abgeordneten-Kammer - (wieviel mehr also des konstituierenden Reichstages!) - auf der Volkswahl und der Vertretung aller staatsbürgerlichen Interessen beruhen".

Sind das die Früchte des 13., 14. und 15. März, des 15. und 26. Mai daß sogar eine Charte wie die des 25. April zur - Unwahrheit wird? Oder will man sich oder uns gar weismachen, ein nach dieser Wahlverordnung zusammengestoppelter Reichstag könne anders als spottweise eine Volksvertretung heißen?

Auf denn. Ihr Männer des Ausschusses für Ordnung, Sicherheit und Wahrung der Rechte des Volkes, - wahrt diese Rechte des Volkes vor der angedrohten Lähmung und Verstümmelung, protestiert gegen solche Beschneidung und Verkrüppelung unseres jungen konstitutionellen Freiheitsbaumes, und zeigt Euch dadurch auch hier würdig Eures Namens, würdig des Vertrauens, das Euch alle Klassen der Bevölkerung so bereitwillig entgegentragen und dem Ihr bisher so schön entspracht!

Wien am 5. Juni 1848.

Der verantwortliche Redakteur:
Dr. A. J. Becher.

Gedruckt und zu haben bei U. Klopf sen. und A. Eurich in Wien
im Juni 1848


Letzte Änderung: 27. May. 2001, Adresse: /deutsch/1848/flugblatt22.html