I.
Es ist nicht das erste- und hoffentlich auch nicht das letzte Mal, daß sich aus den Reihen der Partei kritische Stimmen über einzelne unserer Programmforderungen und über unsere Taktik erheben. An sich kann das nicht genug begrüßt werden. Es kommt aber dabei vor allem auf das Wie der Kritik an, und zwar verstehen wir unter dem Wie nicht den »Ton«, mit dem es in der Partei leider Mode geworden ist, bei jeder Gelegenheit Aufhebens zu machen, sondern etwas viel Wichtigeres - die allgemeinen Grundlagen der Kritik, die bestimmte Weltanschauung, die in der Kritik zum Ausdruck kommt.
Tatsächlich liegt dem Kreuzzuge Isegrim-Schippels gegen die Milizforderung und für den Militarismus eine ganz konsequente sozialpolitische Weltanschauung zugrunde.
Der allgemeinste Standpunkt, von dem Schippel in seiner Verteidigung des Militarismus ausgeht, ist die Überzeugung von der Notwendigkeit dieses militärischen Systems. Er beweist durch alle möglichen Argumente kriegstechnisch, sozialer und wirtschaftlicher Natur die Unentbehrlichkeit der stehenden Heere. Und er hat allerdings von einem gewissen Standpunkte aus recht. Das stehende Heer, der Militarismus, sind tatsächlich unentbehrlich aber für wen? Für die heutigen herrschenden Klassen und die jetzigen Regierungen. Was folgt aber daraus anderes, als daß für die heutige Regierung und die herrschenden Klassen von ihrem Klassenstandpunkt die Abschaffung der stehenden Heere und die Einführung der Miliz, das heißt die Volksbewaffnung, als ein Ding der Unmöglichkeit, als eine Absurdität erscheinen mag? Und wenn Schippel seinerseits die Miliz gleichfalls für eine Unmöglichkeit und eine Absurdität hält, so zeigt er damit nur, daß er auch selbst in der Frage des Militarismus auf bürgerlichem Standpunkte steht, daß er sie mit den Augen der kapitalistischen Regierung oder der bürgerlichen Klassen betrachtet. Dies beweisen auch deutlich alle seine einzelnen Argumente. Er behauptet, die Ausrüstung aller Bürger mit Waffen, ein Grundpfeiler des Milizsystems, ware unmöglich, weil wir kein Geld dazu hätten, »die Kulturaufgaben leiden so schon genug«. Er geht dabei also einfach von der heutigen preußisch-deutschen Finanzwirtschaft aus, eine andere als diese, zum Beispiel eine Heranziehung der kapitalistischen Klasse zu der Besteuerung in wachsendem Maße, kann er sich auch bei dem Milizsystem gar nicht vorstellen.
Schippel hält die militärische Jugenderziehung, einen anderen Grundpfeiler des Milizsystems, für unerwünscht, weil die Unteroffiziere als militärische Erzieher nach ihm den verderblichsten Einfluß auf die Jugend ausüben würden. Er geht dabei natürlich von dem heutigen preußischen Kasernenunteroffizier aus und überträgt ihn einfach in das fingierte Milizsystem als Jugenderzieher. Er erinnert mit dieser Auffassungsweise lebhaft an den Professor Julius Wolf, der einen wichtigen Einwand gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung darin sieht, daß unter ihrer Herrschafi nach seiner Berechnung eine allgemeine Steigerung des Zinsfußes eintreten würde...
Schippel hält den heutigen Militarismus wirtschaficlich für unentbehrlich, weil er die Gesellschaf vom ökonomischen Druck »entlaste«. Kautsky gibt sich alle erdenkliche Mühe, um zu erraten, wie sich denn der Sozialdemokrat Schippel diese »Entlastung« durch den Militarismus gedacht haben mag, und begleitet jede mögliche Deutung mit trefflichen Erwiderungen. Schippel hat aber die Sache offenbar gar nicht als Sozialdemokrat, gar nicht vom Standpunkt des arbeitenden Volkes angefaßt. Wenn er von »Entlastung« redete, so liegt es auf der Hand, daß er an das Kapital dachte. Und darin hat er allerdings recht: für das Kapital ist der Militarismus eine der wichtigsten Anlageformen, vom Standpunkt des Kapitals ist der Militarismus allerdings eine Entlastung. Und daß Schippel hier als richtiger Vertreter der Kapitalsinteressen spricht, zeigt sich schon dadurch, daß er in diesem Punkte einen berufenen Gewährsmann gefunden hat.
»Ich behaupte, meine Herren«, wurde im Reichstag in der Sitzung vom 12. Januar 1899 gesagt, »es ist auch ganz falsch, wenn man sagt, die zwei Milliarden Reichsschulden betreffen lediglich unproduktive Ausgaben, es stehen ihnen in keiner Weise produktive Einnahmen entgegen. Ich behaupte, es gibt gar keine produktivere Anlage, als die Ausgaben für die Armee.« Das Stenogramm meldet dabei allerdings »Heiterkeit links«. . . Der Redner war - Freiherr von Stumm.
Es ist eben für alle Behauptungen Schippels charakteristisch, nicht sowohl daß sie an sich falsch sind, sondern daß sie den Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft zur Grundlage haben; deshalb erscheint auch bei Schippel alles, vom sozialdemokratischen Gesichtspunkt gesehen, auf den Kopf gestellt: die stehende Armee unentbehrlich, der Militarismus wirtschaftlich heilsam, die Miliz unpraktisch usw.
Es ist auffallend, wie der Schippelsche Standpunkt in der Frage des Militarismus in allen Hauptpunkten mit seinem Standpunkt in der anderen wichtigsten Frage des politischen Kampfes - in der Zollpolitik, übereinstimmt.
Vor allem haben wir hier wie dort das entschiedene Ablehnen, diese oder jene Stellungnahme zur Frage mit Demokratie oder Reaktion zu verbinden. Die Behauptung, als wäre Freihandel mit Fortschritt und Schutzzöllnerei mit Reaktion identisch, hieß es im Schippelschen Referate auf dem Stuttgarter Parteitag - sei falsch. Lange und breite geschichtliche Erinnerungen sollten beweisen, daß man sehr gut ein Freihändler und zugleich Reaktionär, dagegen Schutzzöllner und glühender Freund der Demokratie sein könne. Fast mit den gleichen Worten hören wir jetzt: »Es gibt Milizschwärmer, die das heutige Erwerbsleben mit endlos ewigen Störungen und Unterbrechungen heimsuchen und den Unteroffiziersgeist selbst bis in die letzten Schulklassen unserer Knaben und Knäblein hinein verpflanzen wollen - viel schlimmer wie der heutige Militarismus. Es gibt Gegner der Miliz, die jeder und vollends einer derartigen Überwucherung der militärisien Eingriffe und Anforderungen todfeind sind.« 1
Aus der Tatsache, daß die bürgerlichen Politiker in diesen, wie in allen Fragen keine prinzipielle Stellung einnehmen, daß sie Gelegenheitspolitik treiben, folgert der Sozialdemokrat Schippel auch für sich das Recht und die Notwendigkeit, den inneren reaktionären Kern des Schutzzolles und des Militarismus, respektive die fortschrittliche Bedeutung des Freihandels und der Miliz zu verkennen, das heißt gleichfalls keine prinzipielle Stellung zu den beiden Fragen einzunehmen.
Zweitens sehen wir hier wie dort gleichzeitig mit der Opposition gegen einzelne Übel der Schutzzollpolitik, respektive des Militarismus, die entschiedene Weigerung, beide Erscheinungen als solche im ganzen zu bekämpfen. In Stuttgart hörten wir im Schippelschen Referat von der Notwendigkeit, gegen einzelne übermäßige Zölle zu kämpfen, zugleich aber die Warnung: sich ja nicht "festzulegen«, sich nicht »die Hände zu binden«, das heißt den Schutzzoll nicht immer und überall zu bekämpfen. Jetzt hören wir, daß Schippel wohl die "parlamentarische und agitatorische Bekämpfung konkreter militärischer Forderungen« 2 gelten läßt, daß er aber davor warnt, "rein äußerliche Zufälligkeiten und sehr nebensächliche) freilich auch sehr auffällige Rückwirkungen (des Militarismus) auf die übrigen gesellschaftliien Gebiete für sein Wesen und seinen Kern zu nehmen« 3.
1 "Die Neue Zeit", 1898/99, Nr. 19, S. 5801581. 2 "sozialistische Monatshefe", 1898, Novemberheft, S. 495. 3 "Die Neue Zeit", 1898/99, Nr. 19, S. 581.
Endlich, drittens, dies die Grundlage der beiden obigen Standpunkte, hier wie dort die ausschließliche Abschätzung der Erscheinung vom Standpunkte der vorherigen bürgerlichen Entwicklung, das heißt von der historisch bedingten fortschrittlichen Seite und die völlige Nichtbeachtung der weiteren, bevorstehenden Entwicklung und im Zusammenhang damit auch der reaktionären Seite der behandelten Erscheinungen. Der Schutzzoll ist für Schippel immer noch das, was er zu Zeiten des seligen Friedrich List vor mehr als einem halben Jahrhundert war: der große Fortschritt über die mittelalterlich-feudale wirtschaftliche Zersplitterung Deutschlands hinaus. Daß heute bereits der allgemeine Freihandel denselben notwendigen Schritt weiter über die innere wirtschaftliche Abgrenzung der eins gewordenen Weltwirtschaft ist, daß daher die nationalen Zollschranken heute eine Reaktion sind, das existiert für Schippel nicht.
Dasselbe in der Frage des Militarismus. Er betrachtet ihn immer noch vom Standpunkte des großen Fortschritts, den die stehende Armee auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht gegen die ehemaligen Werbeheere und feudalen Armeen bedeutete. Dabei bleibt aber die Entwicklung für Schippel stehen: über das stehende Heer nur mit weiterer Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht geht ihm die Geschichte nicht hinaus.
Was bedeuten aber diese charakteristischen Standpunkte, die Schippel ebenso in der Zoll- wie in der Militärfrage einnimmt? Sie bedeuten erstens eine Politik von Fall zu Fall anstatt einer prinzipiellen Stellungnahme und zweitens im Zusammmenhang damit eine Bekämpfung bloß der Auswüchse des Zoll- respektive Militärsystems anstatt der Bekämpfung des Systems selbst. Was ist diese Politik aber anderes, als unser guter Bekannter aus der letzten Zeit der Parteigeschichte - der Opportunismus?
Es ist wieder die »praktische Politik«, die in der Isegrim-Schippelschen offenen Absage an das Milizpostulat, einen der grundlegenden Punkte unseres ganzen politischen Programms, ihre Triumphe feiert, und darin liegt vom parteipolitischen Standpunkte die eigentliche Bedeutung des Schippelschen Auftretens. Nur im Zusammenhang mit dieser ganzen Strömung und vom Gesichtspunkte der allgemeinen Grundlagen und Folgen des Opportunismus läßt sich die neueste sozialdemokratische Kundgebung zugunsten des Militarismus richtig beurteilen und abschätzen.
II.
Das wesentliche Merkmal der opportunistischen Politik ist, daß sie folgerichtig stets dazu führt, die Endziele der Bewegung, die Interessen der Befreiung der Arbeiterklasse ihren nächsten, und zwar eingebildeten Interessen zum Opfer zu bringen. Daß dieses Postulat auch auf die Schippelsche Politik genau paßt, läßt sich an einem seiner Hauptsätze in der Frage des Militarismus sinnenfällig aufzeigen. Der wichtigste wirtschaftliche Grund, der uns nach Schippel zwingt, an dem System des Militarismus festzuhalten, ist die ökonomische "Entlastung" der Gesellschaft durch dieses System. Wir sehen hier davon ab, daß diese seltsame Behauptung die einfachsten wirtschaftlichen Tatsachen ignoriert. Wir wollen im Gegenteil zur Kennzeichnung dieser Auffassungsweise für einen Augenblick annehmen, daß diese verkehrte Behauptung Wahrheit ist, daß die »Gesellschaft« tatsächlich durch den Militarismus von ihren überflüssigen Produktivkräften »entlastet« wird.
Wie kann sich diese Erscheinung für die Arbeiterklasse gestalten? Offenbar so, daß sie einen Teil ihrer Reservearmee, der Lohndrücker, durch die Erhaltung des ständigen Heeres los wird und dadurch ihre Arbeitsbedingungen verbessert. Was bedeutet das? Nur dies: Der Arbeiter gibt, um das Angebot auf dem Arbeitsmarkte zu verringern, um den Wettbewerb zu beschränken, erstens einen Teil seines Lohnes in Gestvon indirekten Steuern her, um seinen Konkurrenten als Soldaten zu erhalten; zweitens schafft er aus diesem Konkurrenten ein Werkzeug, womit der kapitalistische Staat jede seiner Regungen zum Zwecke der Verbesserung seiner Lage (Ausstände, Koalition usw.) niederhalten, nötigenfalls im Blute ersticken, also dieselbe Aufbesserung der Lage des Arbeiters vereiteln kann, um derentwillen der Militarismus nach Schippel notwendig war. Drittens macht der Arbeiter diesen Konkurrenten zum sichersten Pfeiler der politischen Reaktion im Staate überhaupt, also der eigenen sozialen Versklavung.
Mit anderen Worten: der Arbeiter beugt durch den Militarismus einer unmittelbaren Verminderung seines Lohnes um einen gewissen Betrag vor, verliert aber dafür in hohem Maße die Möglichkeit, dauernd um die Hebung seines Lohnes und die Verbesserung seiner Lage zu kämpfen. Er gewinnt als Verkäufer der Arbeitskraft, verliert aber zugleich die politische Bewegungsfreiheit als Bürger, um in letzter Linie auch als Verkäufer der Arbeitskraft zu verlieren. Er beseitigt einen Konkurrenten vom Arbeitsmarkte, um einen Hüter seiner Lohnsklaverei erstehen zu sehen, und verhütet eine Lohnherabsetzung, um sodann sowohl die Aussicht einer dauernden Aufbesserung seiner Lage als auch die Aussichten seiner endgültigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Befreiung zu vermindern. Das ist die tatsächliche Bedeutung der wirtschaftlichen "Entlastung« der Arbeiterklasse durch den Militarismus. Hier wie bei allen Spekulationen der opportunistischen Politik sehen wir die großen Ziele der sozialistischen Klassenbefreiung kleinen praktischen Augenblicksinteressen geopfert, Interessen, die sich obendrein bei näherem Zusehen als wesentlich eingebildet erweisen.
Es fragt sich aber: wie konnte Schippel auf den so absurd klingenden Gedanken kommen, den Militarismus auch vom Standpunkte der Arbeiterklasse für eine "Entlastung« zu erklären? Erinnern wir uns, wie dieselbe Frage vom Standpunkte des Kapitals aussieht. Wir haben dargelegt, daß für das Kapital der Militarismus die gewinnreichste und unentbehrlichste Anlageart schafft. Es ist zwar klar, daß dieselben Mittel, die, durch Besteuerung in die Hände der Regierung gelangt, zur Erhaltung des Militarismus dienen wenn sie in der Hand der Bevölkerung geblieben wären, eine gewachsene Nachfrage nach Lebensmitteln darstellten, oder, vom Staate in größerem Maßstabe zu Kulturzwecken angewandt, gleichfalls eine entsprechende Nachfrage nach gesellschaftlicher Arbeit schaffen würden. Es ist zwar klar, daß auf diese Weise für die Gesellschaft im ganzen der Militarismus durchaus keine "Entlastung« ist. Allein anders gestaltet sich die Frage vom Standpunkte des kapitalistischen Profits, vom Unternehmerstandpunkte. Für den Kapitalisten ist es gar nicht gleich, ob er eine bestimmte Nachfrage nach Erzeugnissen auf seiten der zersplitterten Privatkäufer oder auf seiten des Staates findet. Die Nachfrage des Staates zeichnet sich durch eine Sicherheit, Massenhaftigkeit und günstige, meistens monopolartige Gestaltung der Preise aus, die den Staat zum vorteilhaftesten Abnehmer und die Lieferungen für ihn zum glänzendsten Geschäft für das Kapital machen.
Was aber besonders bei militärischen Lieferungen als höchst wichtiger Vorteil zum Beispiel vor staatlichen Ausgaben für Kulturzwecke (Schulen, Wege usw.) hinzukommt, sind die unaufhörlichen technischen Umwälzungen und das unaufhörliche Wachstum der Ausgaben, so daß der Militarismus eine unerschöpfliche, ja immer ergiebigere Quelle der kapitalistischen Gewinne darstellt und das Kapital zu einer sozialen Macht erhebt, wie sie dem Arbeiter zum Beispiel in den Kruppschen und Stummschen Unternehmungen entgegentritt. Der Militarismus, der für die Gesellschaft im ganzen eine ökonomisch völlig absurde Vergeudung ungeheurer Produktivkräfte darstellt, der für die Arbeiterklasse eine Herabsetzung ihrer wirtschaftlichen Lebenshaltung zum Zwecke ihrer sozialen Versklavung bedeutet, bildet für die Kapitalistenklasse ökonomisch die glänzendste, unersetzliche Anlageart, wie sozial und politisch die beste Stütze ihrer Klassenherrschaft. Wenn daher Schippel denselben Militarismus kurzerhand für eine notwendige ökonomische »Entlastung« erklärt, so verwechselt er offenbar nicht nur den Standpunkt der gesellschaftlichen Interessen mit dem der Kapitalinteressen und stellt sich somit - wie wir eingangs gesagt haben - auf bürgerlichen Standpunkt, sondern er geht auch, indem er annimmt, jeder ökonomische Vorteil des Unternehmertums sei notwendig auch ein Vorteil für die Arbeiterklasse, von dem Grundsatze der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit aus.
Es ist dies wiederum derselbe Standpunkt, den wir bei Schippel schon einmal kennengelernt haben - in der Zollfrage. Auch hier trat er, da er den Arbeiter als Produzenten vor dem verderblichen Wettbewerbe der ausländischen Industrie schützen wollte, im Prinzip für den Schutzzoll ein. Hier ganz wie in der Militärvorlage sieht er nun unmittelbare wirtschaftliche Interessen des Arbeiters und übersieht seine weiteren sozialen Interessen, die mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt zum Freihandel oder zur Abschaffung stehender Heere zusammenhängen. Und hier wie dort nimmt er auch für unmittelbares wirtschaftliches Interesse der Arbeiter ohne weiteres das, was das Interesse des Kapitals ist, indem er glaubt, daß alles, was für das Unternehmertum ein Vorteil, auch für die Arbeiter ein solcher sei. Aufopferung der Endziele der Bewegung den praktischen Augenblickserfolgen und die Einschätzung der praktischen Interessen vom Standpunkte der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit - diese beiden Grundsätze stehen ebenso im harmonischen Zusammenhang untereinander, wie sie das wesentliche Merkmal aller opportunistischen Politik bilden.
Es kann auf den ersten Blick überraschen, daß ein Befürworter dieser Politik die Möglichkeit findet, sich auf die Schöpfer des sozialdemokratischen Programms zu berufen und allen Ernstes, da doch sein Gewährsmann in der Militärfrage der Freiherr von Stumm ist, als seinen Gewährsmann in derselben Frage - Friedrich Engels zu betrachten. Es ist die Einsicht in die geschichtliche Notwendigkeit und die geschichtliche Entwicklung des Militarismus, die Schippel mit Engels gemein zu haben wähnt. Allein dies beweist nur wieder, daß, wie einst die schlecht verdaute Hegelsche Dialektik, so jetzt die schlecht verdaute Marxsche Geschichtsauffassung zu der heillosesten Verwirrung in den Köpfen führt. Es zeigt sich ferner abermals, daß beide, die dialektische Denkweise im allgemeinen, wie die materialistische Geschichtsphilosophie im besonderen, so revolutionar sie in richtiger Auffassung sind, gefährliche reaktionäre Konsequenzen erzeugen, sobald sie verkehrt aufgefaßt werden. Liest man Schippelsche Zitate aus Engels, namentlich aus dem »Anti-Dühring«, über die Entwicklung des militärischen Systems zu seiner eigenen Aufhebung und zum Volksheer, so erscheint es auf den ersten Blick unklar, worin denn eigentlich der Unterschied zwischen der Schippelschen und der parteiüblichen Auffassung der Frage liegt. Wir betrachten den Militarismus, wie er leibt und lebt, als eine natürliche und unvermeidliche Frucht der gesellschaftlichen Entwicklung - Schippel auch. Wir behaupten, daß der Militarismus in seiner weiteren Entwicklung zum Volksheer führt - Schippel auch. Wo ist denn der Unterschied, der Schippel zu seiner reaktionären Opposition gegen die Milizforderung führen konnte? Er ist sehr einfach: Während wir mit Engels in der eigenen inneren Entwicklung des Militarismus zur Miliz bloß die Bedingungen zu seiner Aufhebung sehen, meint Schippel, daß das Volksheer der Zukunft auch von selbst »von innen heraus« aus dem heutigen Militärsystem heraus wachse. Während wir, gestützt auf diese uns von der objektiven Entwicklung gebotenen materiellen Bedingungen - die Verbreitung der allgemeinen Wehrpflicht und die Verkürzung der Dienstzeit - durch den politischen Kampf die Verwirklichung des Milizsystems durchsetzen wollen, verläßt sich Schippel auf die eigene Entwicklung des Militarismus mit seinen Folgeerscheinungen und stempelt jedes bewußte Eingreifen zur Herbeiführung der Miliz als Phantasie und Bierbankpolitik.
Was wir auf diese Weise bekommen, ist nicht die Engelssche Geschichtsauffassung, sondern die Bernsteinsche. Wie bei Bernstein die kapitalistische Wirtschaft von selbst, ohne Sprung, schrittweise in die sozialistische »hineinwächst«, so wächst bei Schippel aus dem heutigen Militarismus von selbst das Volksheer heraus. Wie Bernstein in bezug auf den Kapitalismus im ganzen, so versteht Schippel in bezug auf den Militarismus nicht, daß die objektive Entwicklung uns bloß die Bedingungen einer höheren Entwicklungsstufe an die Hand gibt, daß aber ohne unser zielbewußtes Eingreifen, ohne den politischen Kampf der Arbeiterklasse um die sozialistische Umwälzung oder um die Miliz weder die eine noch die andere je verwirklicht wird. Da aber somit das bequeme »Hineinwachsen« bloß eine Chimäre, eine opportunistische Ausflucht, ist, um dem zielsicheren revolutionären Kampfe aus dem Wege zu gehen, so schrumpft auch die auf diesem Wege erreichbare soziale und politische Umwälzung auf elendes bürgerliches Flickwerk zusammen. Wie bei der Bernsteinschen Theorie der »allmählichen Sozialisierung« schließlich aus dem Begriff des Sozialismus selbst alles verschwindet, was wir darunter verstehen, und der Sozialismus zur »gesellschaftlichen Kontrolle«, das heißt zu harmlosen bürgerlichen Sozialreformen wird, so verwandelt sich bei der Schippelschen Auffassung das »Volksheer« aus dem freien, selbst über Krieg und Frieden entscheidenden Volk in Waffen, das unser Ziel ist, in eine auf alle tauglichen Bürger erstreckte allgemeine Wehrpflicht nach dem heutigen System des stehenden Heeres mit einer kurzen Dienstzeit. Angewendet auf alle Ziele unseres politischen Kampfes führt die Schippelsche Auffassung geraden Weges zur Verzichtleistung auf das ganze sozialdemokratische Programm.
Das Schippelsche Eintreten für den Militarismus ist eine handgreifliche Erläuterung zu der ganzen revisionistisien Strömung in unserer Partei und zugleich ein wichtiger Schritt in ihrer Entwicklung. Wir hörten auch früher schon von einem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, von Heine, daß man unter Umständen der kapitalistisdlen Regierung militärische Forderungen bewilligen könne. Dies war aber bloß als ein Zugeständnis für höhere Zwecke der Demokratie gedacht. Die Kanonen sollten bei Heine wenigstens nur als ein Tauschgegenstand für Volksrechte dienen. Nun erklärt Schippel die Kanonen um der Kanonen willen für notwendig. Ist auch das Ergebnis hier wie dort das gleiche - nämlich die Unterstützung des Militarismus, so beruht sie bei Heine wenigstens noch auf einer falschen Auffassung von der sozialdemokratischen Kampfweise, während sie bei Schippel einfach aus der Verschiebung des Kampfobjekts entspringt. Dort wurde nur statt der sozialdemokratischen die bürgerliche Taktik vorgeschlagen, hier wird dreist an Stelle des sozialdemokratischen das bürgerliche Programm gestellt.
In der Schippelschen »Milizskepsis« hat die »praktische Politik« ihre letzten Folgerungen gezogen. Weiter in der Richtung zur Reaktion kann sie nicht gehen, es bleibt ihr nur übrig, sich auf andere Programmpunkte auszudehnen, um den Rest des sozialdemokratischen Mantels, mit dessen Fetzen sie sich drapiert, abzulegen und in der ganzen klassischen Blöße als - Pfarrer Naumann zu erscheinen.
III.
Wäre die Sozialdemokratie ein Diskussionsklub für sozialpolitische Fragen, so könnte sie den Fall Schippel nach einer theoretischen Auseinandersetzung mit ihm für erledigt erachten. Da sie aber eine politische Kampfpartei ist, so ist für sie durch den theoretischen Nachweis der Verkehrtheit des Schippelsien Standpunktes die Frage nicht gelöst, sondern vielmehr erst gestellt. Die Schippelsche Veröffentlichung über die Miliz ist nicht nur eine Äußerung bestimmter Gedanken, sie ist auch noch eine politische Handlung. Womit sie von der Partei beantwortet werden muß, ist deshalb nicht nur Widerlegung der Ansichten, sondern gleichfalls politische Aktion. Und zwar muß die Aktion im Verhältnis zu der Tragweite der Schippelschen Äußerungen stehen.
Im Laufe des verflossenen Jahres wurden so ziemlich alle bisher als Grundsteine der Sozialdemokratie geltenden Postulate durch Angriffe aus unseren eigenen Reihen in ihrer unbestrittenen Gültigkeit erschüttert. Eduard Bernstein erklärte, ihm sei das Endziel der proletarischen Bewegung nichts. Wolfgang Heine zeigte durch seine Kompensationsvorschläge, daß ihm die hergebrachte sozialdemokratische Taktik tatsächlich nichts ist. Nun beweist Schippel, daß er auch direkt über das politische Programm der Partei erhaben ist. Fast kein einziger Grundsatz des proletarischen Kampfes blieb von der Auflösung in nichts seitens einzelner Vertreter der Partei verschont. Es bietet dies an sich ein durchaus nicht erfreuliches Gesamtbild. Jedoch man muß auch unter diesen sehr bedeutsamen Kundgebungen vom Standpunkte des Parteiinteresses unterscheiden. Die Bernsteinsche Kritik unseres theoretischen Guthabens ist zweifellos eine höchst verhängnisvolle Erscheinung. Allein der praktische Opportunismus ist für die Bewegung unvergleichlich gefährlicher. Die Skepsis in bezug auf das Endziel kann immer noch von der Bewegung selbst, solange sie in ihrem praktischen Kampfe gesund und kräftig ist, einfach weggefegt werden. Sobald aber die nächsten Ziele, also der praktische Kampf selbst, in Frage gestellt ist, dann wird die ganze Partei mitsamt Endziel und Bewegung nicht nur in der subjektiven Vorstellung dieses oder jenes Parteiphilosophen, sondern auch in der objektiven Erscheinungswelt - »nichts«.
Der Schippelsche Angriff zielt bloß auf einen Punkt unseres politischen Programms ab. Aber dieser einzige Punkt ist, angesichts der grundlegenden Bedeutung des Militarismus für den gegenwärtigen Staat, praktisch bereits die Verleugnung des ganzen politischen Kampfes der Sozialdemokratie.
In dem Militarismus kristallisiert sich die Macht und die Herrschaft ebenso des kapitalistischen Staates wie der bürgerlichen Klasse, und wie die Sozialdemokratie die einzige Partei ist, die ihn prinzipiell bekämpft, so gehört auch umgekehrt die prinzipielle Bekämpfung des Militarismus zum Wesen der Sozialdemokratie. Die Verzichtleistung auf den Kampf mit dem militärischen System läuft praktisch auf die Verleugnung des Kampfes mit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung überhaupt hinaus. Wir haben am Schlusse des vorhergehenden Kapitels gesagt, dem Opportunismus bleibe nur übrig, die Schippelsche Stellungnahme zur Milizfrage auf andere Programmpunkte auszudehnen, um die Sozialdemokratie gänzlich abzuschwören. Wir dachten dabei nur an die subjektive, bewußte Entwicklung der Anhänger dieser Politik. Objektiv, der Sache nach, ist diese Entwicklung in der Äußerung Schippels bereits vollzogen.
Noch eine Seite in den opportunistischen Kundgebungen der letzten Zeit, und namentlich in dem Auftreten Schippels, verdient Beachtung, wenigstens angesichts ihres symptomatischen Wertes. Es ist dies die spielende Leichtigkeit, die unerschütterliche Ruhe, ja, wie im letzten Fall, sogar die heitere Grazie, mit der an Grundsätzen gerüttelt wird, die jedem nicht ganz obenhin die Parteisache auffassenden Genossen in Fleisch und Blut übergegangen sein müßten und deren Erschütterung bei jedem aufrichtigen Sozialdemokraten wenigstens eine ernste Gewissenskrise herbeiführen sollte. Es sind dies untrügliche Zeichen, abgesehen von allem anderen, des Tiefstands des revolutionären Niveaus, der Abstumpfung des revolutionären Instinkts, Erscheinungen, die an sich unfaßbar und unwesentlich sein mögen, aber für eine Partei, die, wie die Sozialdemokratie, vorläufig zum größten Teil nicht auf praktische, sondern auf ideale Erfolge angewiesen ist, und an das individuelle Niveau ihrer Mitglieder notwendigerweise große Ansprüche stellt, zweifellos wesentlich sind. Eine harmonische Ergänzung zu der bürgerlichen Denkweise des Opportunismus ist seine bürgerliche Empfindungsweise.
Die Tragweite der Schippelschen Kundgebung nach allen Seiten hin macht eine entsprechende Gegenkundgebung der Partei zur Notwendigkeit. Worin kann und muß diese Gegenaktion bestehen? Erstens in der klaren und unzweideutigen Stellungnahme der ganzen Parteipresse zu der Frage, desgleichen Besprechung der Angelegenheit in Parteiversammlungen. Steht die Partei im ganzen nicht auf dem Standpunkte Schippels, wonach Volksversammlungen bloß Gelegenheiten sind, in denen man der Menge den Knochen der »Schlagworte« zuwirft, damit sie im gegebenen Zeitpunkt einen politischen »Herrenmenschen« in den Reichstag wählt, dann kann sie auch die Erörterung der wichtigsten parteipolitischen Grundsätze nicht als ein "Edelmanns-Essen« betrachten, das bloß für die Auslese und nicht für den großen Haufen der Genossen bestimmt ist. Im Gegenteil, nur das Hineintragen der Diskussion in die breitesten Kreise der Partei kann einer eventuellen Verbreitung der Schippelschen Ansichten erfolgreich vorbeugen.
Zweitens aber, was noch wichtiger, in der Stellungnahme der sozialdemokratischen Fraktion. Sie ist es, die vor allem berufen war, in der Schippelschen Angelegenheit das maßgebende Wort zu sprechen, einerseits, weil Schippel Reichstagsabgeordneter und Mitglied der Fraktion, andererseits, weil die von ihm behandelte Frage einer der Hauptgegenstände des parlamentarischen Kampfes ist. Wir wissen nicht, ob die Fraktion in der Sache etwas getan hat oder nicht. Da es bald nach dem Erscheinen des Isegrimschen Artikels öffentliches Geheimnis war, wer hinter dem Pseudonym steckte, so hat aller Wahrscheinlichkeit nach die Fraktion nicht mit verschränkten Armen zugesehen, wie eins ihrer Mitglieder ihre eigene Tätigkeit verhöhnte.
Und hat sie's nicht schon vorher getan, so konnte sie das Versäumte nachholen, nachdem Schippel durch Kautsky aus seinem Wolfsfell herausgeschüttelt worden war. Gleichviel, hat die Fraktion zum Fall Schippel Stellung genommen oder nicht, das Ergebnis ist ungefähr das gleiche, solange sie es nicht zur Kenntnis der Gesamtpartei gebracht hat. Gezwungen, sich auf dem Parkettboden des ihrem eigentlichen Wesen fremden, bürgerlichen Parlamentarismus zu bewegen, hat die Sozialdemokratie anscheinend unwillkürlich und unbewußt auch manche Sitten dieses Parlamentarismus übernommen, die aber mit ihrem demokratischen Charakter nicht recht in Einklang zu bringen sind. Dahin gehört zum Beispiel unseres Eraditens das Auftreten der Fraktion als einer geschlossenen Körperschaft nicht nur den bürgerlichen Parteien, was durchaus notwendig, sondern auch der eigenen Partei gegenüber - was zu Unzuträglichkeiten führen kann. Die Fraktionen der bürgerlichen Parteien, in denen parlamentarischer Kampf meistens in der reizlosen Gestvon Kuhhandel und Tauschgeschäft ausgefochten wird, haben allen Grund, das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen. Die sozialdemokratische Fraktion dagegen hat weder das Bedürfnis noch auch den Anlaß, das Ergebnis ihrer Verhandlungen als Internum zu betrachten, sobald es sich um Parteiprinzipien oder wichtigere taktische Fragen handelt. Die Erledigung einer solchen Frage nur in einer geheimen Fraktionssitzung würde dann genügen, wenn es bei uns, wie bei den bürgerlichen Parteien, lediglich auf die schließliche Erzielung einer bestimmten Abstimmung der Fraktion im Reichstag an käme. Für die Sozialdemokratie aber, für die der parlamentarische Kampf ihrer Fraktion viel wichtiger vom rein agitatorischen als vom praktischen Standpunkt ist, kann es gegebenenfalls nicht auf einen formellen Mehrheitsbeschluß der Fraktion, sondern auf ihre Diskussion selbst, auf die Klärung der Lage ankommen. Für die Partei ist es mindestens so wichtig, zu erfahren, wie ihre Vertreter über die parlamentarischen Fragen denken, als wie sie darüber in ihrer Gesamtheit im Reichstage abstimmen. In einer von Grund aus demokratischen Partei kann das Verhältnis zwischen Wählern und Abgeordneten unter keinen Umständen durch den Wahlakt und die mehr äußerlich-formelle, summarische Berichterstattung auf den Parteitagen als erledigt erachtet werden. Die Fraktion muß vielmehr in möglichst lebendiger ununterbrochener Fühlung mit der Parteimasse verbleiben, und dies wird namentlich zum einfachen Gebote der Selbsterhaltung angesichts der opportunistischen Strömungen, die in der letzten Zeit gerade unter den Parteiparlamentariern zutage treten. Eine öffentliche Stellungnahme der Fraktion zu den Äußerungen Schippels war und ist schon deshalb notwendig, weil die Partei in ihrer Masse, so sehr sie's auch wünschen mag, einfach nicht die physische Möglichkeit hat, als Ganzes selbst in dieser Frage aufzutreten. Die Fraktion ist eine berufene politische Vertretung der Gesamtpartei und hätte durch ihr eigenes offenes Vorgehen indirekt der Partei zu der notwendigen Stellungnahme verhelfen sollen.
Drittens endlich hat auch die Partei direkt als solche über den Fall Schippel ihr Wort zu sagen, und zwar in der einzigen Form, die ihr dazu zu Gebote steht - auf dem nächsten Parteitage.
Es hieß bei der Stuttgarter Diskussion über die Bernsteinschen Artikel, der Parteitag könne nicht über theoretische Fragen abstimmen. Nun haben wir im Falle Schippel eine rein praktische Frage. Es hieß, die Heineschen Kompensationsvorschläge seien bloß unangebrachte Zukunftsmusik gewesen, mit der die Partei nicht zu rechnen brauche. Nun haben wir bei Schippel Gegenwartsmusik. Und zwar hat sich in der Schippelschen Stellungnahme zur Milizfrage die opportunistische Politik, wie gesagt, zu ihren letzten Konsequenzen entwickelt, sie ist spruchreif geworden. Es erscheint uns als dringende Aufgabe der Partei, aus dieser Entwicklung durch eine klare und unzweideutige Stellungnahme die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Sie hat dazu alle Ursache. Es handelt sich gegebenenfalls um einen Vertrauensmann, einen politischen Vertreter der Partei, der ihr seinem Amte nach zum Schwert im Kampfe, dessen Aktion ihr als Damm gegen die Angriffe des bürgerlichen Staates dienen sollte. Verwandelt sich aber der Damm jeden Augenblick in ein Ding von breiartiger Beschaffenheit und bricht die Klinge im Gefecht wie eine papierne zusammen, dürfte dann nicht die Partei auch ihrerseits dieser Politik einmal zurufen:
"Fort mit dem Brei,
Ich brauch' ihn nicht!
Aus Bappe schmied' ich kein Schwert!«
IV.
Mit der Bitte um Veröffentlichung erhielt die »Leipziger Volkszeitung« am 24. Februar 1899 die folgende, von Schippel nach der Lektüre der ersten beiden Artikel verfaßte Zuschrift:
Lieber Freund Schoenlank!
Ich lese die rl.-Artikel der »Leipziger Volkszeitung" stets mit großem Interesse, nicht, weil ich ihnen immer in allen Punkten beizustimmen vermöchte, sondern weil ich an ihnen die lebhafte Kampfnatur, die ehrliche Überzeugung und die anregende Dialektik hochschätze.
Auch diesmal folge ich nicht ohne Staunen den immer höher und rascher sich gipfelnden Schlußfolgerungen, die von der Grundlage der einen Voraussetzung ausgehen:
Der wirtschaftliche Grund, der uns nach Schippel zwingt, an dem System des Militarismus festzuhalten, ist die ökonomische Entlastung der Gesellschaft durch dieses System... Schippel erklärt den Militarismus auch vom Standpunkte der Arbeiterklasse für eine Entlastung... indem er von dem Grundsatze der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit ausgeht.
Die Schlußfolgerungen in Ehren, bloß die Voraussetzung ist absolut irrig und hinfällig! Ich habe in der »Neuen Zeit« lediglich erklärt, daß die riesenhaften unproduktiven Ausgaben - sei es der Privaten für wahnwitzigen Luxus und blöde Narretei, sei es der Staaten für Militär, Pfründen und allerhand Firlefanz - das Krisenfieber abschwächen, von dem eine Gesellschaft der "Überproduktion« geradezu dauernd geschüttelt sein würde, wenn die unproduktive Verschwendung nicht einen immer ausgedehnteren Platz neben der Akkumulation zu produktiven Zwecken einnehme. Damit habe ich selbstverständlich Vergeudung und unproduktive Ausgaben nicht im geringsten gutgeheißen, noch weniger habe ich sie im Interesse der Arbeiterklasse gefordert. Ich habe nur auf andere, wie die gewöhnlich betonten, tatsächliche Wirkungen derselben »für die moderne Gesellschaft« hinzuweisen versucht.
Ich hielt es anfangs für zweifellos, daß mich niemand als einen Vorkämpfer »für diese moderne Gesellschaft« einschätzen würde. Indes habe ich doch auch mancherlei Erfahrungen, was sozialdemokratische Debatten anlangt, hinter mir; und so schob ich, um jeglicher Mißdeutung vorzubeugen, nachträglich doch noch in den Überproduktionspassus das eine kleine Sätzchen ein:
Natürlich macht mir das den Militarismus nicht angenehmer, sondern um so unangenehmer.
Das heißt dem Sinne nach doch: um so verwerflicher. Aber auch dieser Überfluß von Verwahrung meinerseits scheint nichts helfen zu sollen: »es bleibt dabei« - gerade, als ob man mit bürgerlichen Frauen diskutierte.
Indes habe ich nach diesem Hinweis zu der Offenheit des rl.Mitarbeiters der »Leipziger Volkszeitung« das Vertrauen, daß er einsehen wird, hier einen ganz falschen Start genommen zu haben, und daß daher das Rennen um den Preis der proletarischrevolutionärsten Gesinnung zwischen uns beiden nochmals von vorn beginnen muß.
Ihr
Max Schippel
V.
Wenn Genosse Schippel mit Staunen »den immer höher und rascher sich gipfelnden Schlußfolgerungen« folgt, die von der Grundlage der einen von ihm ausgesprochenen Ansicht ausgehen, so beweist das nur wieder einmal, daß die Ansichten ihre Logik haben, auch da, wo die Menschen sie nicht haben.
Die vorstehende Replik Schippels bildet zunächst zu seinem in der »Neuen Zeit« formulierten Gedanken über die ökonomische »Entlastung« der kapitalistischen Gesellschaft durch den Militarismus eine bemerkenswerte Ergänzung: Neben Militarismus erscheinen nunmehr auch »Pfründen und allerhand Firlefanz« sowie »wahnwitziger Luxus und blöde Narretei der Privaten« als ökonomische Entlastungs- und Vorbeugungsmittel gegen Krisen. Die besondere Ansicht über die wirtschaftliche Funktion des Militarismus entfaltet sich somit zu der allgemeinen Theorie, wonach Verschwendung ein Korrektiv der kapitalistischen Wirtschaft ist, und beweist, daß wir dem Freiherrn von Stumm als Nationalökonomen Unrecht getan haben, indem wir ihn in unserem ersten Artikel als Gewährsmann Schippels nannten. Stumm dachte, als er die Ausgaben für die Armee die produktivsten nannte, wenigstens an die Bedeutung des Militarismus im Kampfe um Absatzmärkte und in der Verteidigung »der vaterländischen Industrie«. Schippel sieht aber dabei, wie es sich herausstellt, von der spezifischen Funktion des Militarismus in der kapitalistischen Gesellschaft ganz ab, er sieht in ihm einfach eine geistreiche Form, eine bestimmte Menge gesellschaftlicher Arbeit jährlich zu verpuffen; der Militarismus ist ihm ökonomisch dasselbe, wie zum Beispiel die sechzehn Hündchen der Herzogin d'Uzes in Paris, die um ein ganzes Appartement, einige Dienstboten und eine ganze Hundegarderobe die kapitalistische Wirtschaft »entlasten«.
Schade, daß Genosse Schippel in dem kaleidoskopischen Wechsel seiner ökonomisch-politischen Sympathien jedesmal mit seinen Neigungen von gestern so gründlich bricht, daß ihm nicht die leiseste Erinnerung bleibt. Sonst würde er schon als gewesener Rodbertusianer an die klassischen Blätter des "Vierten Sozialen Briefes an von Kirchmann« (S. 34ff.) denken müssen, wo sein ehemaliger Meister seine jetzige Krisentheorie vom Luxus widerlegt. Aber diese Theorie ist viel älter als Rodbertus.
Konnte der Gedanke über die wirtschaftliche Entlastung speziell durch den Militarismus - wenigstens in den Reihen der Sozialdemokratie - Anspruch auf den Reiz der Neuheit erheben, so ist die allgemeine Theorie von der rettenden Funktion der Verschwendung für die kapitalistische Gesellschaft so - wie die burgerliche Vulgärökonomie selbst.
Die Vulgärökonomie hat zwar auf dem Irrgang ihrer Entwicklung mehrere Krisentheorien in die Welt gesetzt, allein die, die unser Schippel sich jetzt angeeignet hat, gehört zu den trivialsten, sie steht sogar - was die Einsicht in den inneren Mechanismus der kapitalistischen Wirtschaft betrifft - tiefer als die Theorie des widrigsten Possenreißers der Vulgärökonomie, J B. Say, wonach Überproduktion eigentlich Unterproduktion sei.
Was ist die allgemeinste Voraussetzung der Schippelschen Theorie? Die Krisen entstehen dadurch, daß im Verhältnis zur Menge der produzierten Güter zu wenig konsumiert wird, die Krisen können also duri Vergrößerung der Konsumtion innerhalb der Gesellschaft eingedämmt werden. Hier wird also die kapitalistische Krisenbildung nicht aus der inneren Tendenz der Produktion, über die Schranken des Absatzmarktes hinauszueilen, und aus der Regellosigkeit der Produktion abgeleitet, sondern aus der absoluten Unverhältnismäßigkeit zwischen Produktion und Konsumtion. Die Gütermasse der kapitalistischen Gesellschaft wird hier sozusagen als ein Reisberg von bestimmter Größe unter stellt, durch den sich die Gesellschaft durchfressen muß. Je mehr konsumiert wird, um so weniger bleibt als unverdaulicher Rest auf dem ökonomischen Gewissen der Gesellschaft lasten, um so großer die »Entlastung«. Das ist eine absolxte Krisentheorie, die sich zu der relativen von Marx genauso verhält wie die Malthussche Bevölkerungstheorie zum Marxschen Gesetz der relativen Übervölkerung.
Aber es ist nach dieser geistreichen Theorie nicht gleich für die Gesellschaft, wer konsumiert. Wenn die Konsumtion nur dazu dient, um gleichzeitig die Produktion wieder in Bewegung zu bringen, dann wächst der Reisberg wieder an, und »die Gesellschaft« hat nichts gewonnen, das Krisenfieber schüttelt sie nach wie vor. Erst wenn die Güter auf Nimmerwiedersehen absorbiert werden, wenn sie zur Konsumtion von Leuten dienen, die ihrerseits nicht mehr produzieren, dann erst atmet die Gesellschaft wirklich erleichtert auf, die Krisenbildung ist eingedämmt.
Der Unternehmer Hinz weiß nicht, wohin er mit den von ihm (d. h. von seinen Arbeitern) produzierten Waren soll. Zum Glück treibt der Unternehmer Kunz wahnwitzigen Luxus und kauft seinem bedrängten Klassengenossen die lästigen Waren ab. Er selbst, Kunz, hat aber auch Überfluß an produzierten Gütern, die ihn »belasten«: glücklicherweise gibt der vorhin erwähnte Hinz gleichfalls sehr viel für »Luxus und Narreteien« aus und bietet sich dem besorgten Kunz seinerseits als der ersehnte Abnehmer an. Jetzt, nach dem glücklich abgeschlossenen Geschäft schauen sich unsere beiden Unternehmer gegenseitig verdutzt an und haben Lust auszurufen: Bist du verrückt oder ich? Tatsächlich sind sie's beide. Denn was haben sie durch die ihnen von Schippel angeratene Operation erreicht? Sie haben freilich beide einander redlich zur restlosen Zerstörung einer bestimmten Menge Güter verholfen. Aber ach! nicht die Zerstörung der materiellen Güter, sondern die Realisierung des Mehrwertes in blankem Gold ist der Zweck des Unternehmertums. Und in dieser Beziehung läuft das witzige Geschäft auf dasselbe hinaus, wie wenn jeder der beiden Unternehmer seinen eigenen überflüssigen Mehrwert selbst restlos verschluckt, konsumiert hätte. Das ist das Schippelsche Mittel zur Abschwächung der Krisen. Die westfälischen Kohlenbarone leiden an Überproduktion von Kohle? Die Tölpel ! Sie sollen nur in ihren Palästen stärker heizen lassen, und der Kohlenmarkt ist "entlastet«. Die Besitzer der Marmorgruben in Carrara klagen über Stockung im Handel? Sie sollen doch für ihre Pferde Ställe aus Marmor errichten lassen, und das »Krisenfieber« im Marmorgeschäft ist sofort gedämpft. Und zieht eine drohende Wolke von allgemeiner Handelskrise herauf, so ruft Schippel dem Kapitalismus zu: "Mehr Austern, mehr Champagner, mehr Livreebediente, mehr Balletteusen, und Ihr seid gerettet!" Wir fürchten nur, die alten durchtriebenen Kerle werden ihm antworten: »Herr, Ihr haltet uns für dümmer, als wir sind!"
Diese geistreiche ökonomische Theorie führt aber noch zu interessanten sozialen und politischen Schlußfolgerungen. Bildet nämlich bloß die unproduktive Konsumtion, das heißt die Konsumtion des Staates und der bürgerlichen Klassen, eine wirtschaftliche Entlastung und ein Gegenmittel zur Abschwächung der Krisen, dann erscheint es im Interesse der Gesellschaft und des ruhigen Verlaufes des Produktionszyklus, daß die unproduktive Konsumtion möglichst erweitert, die produktive möglichst eingeschränkt, der von den Kapitalisten und dem Staate angeeignete Teil des gesellschaftlichen Reichtums möglichst groß, der für das arbeitende Volk verbleibende möglichst gering, die Profite und die Steuern möglichst hoch, die Löhne möglichst niedrig sind. Der Arbeiter eine wirtschaftliche "Last« für die Gesellschaft, und die Hündchen der Herzogin d'Uzes ein wirtschaftlicher Rettungsanker - das sind die Konsequenzen der Schippelschen »Entlastungs«theorie.
Wir haben gesagt, sie sei auch unter den vulgärökonomischen Theorien die trivialste. Was ist der Gradmesser der vulgärökonomischen Trivialität? Das Wesen der Vulgärökonomie besteht darin, daß sie die Vorgänge der kapitalistischen Wirtschaft nicht in ihrem tiefliegenden Zusammenhang und in ihrem inneren Wesen, sondern in der oberflächlichen Zersplitterung durch die Gesetze der Konkurrenz, nicht durch das Fernrohr der Wissenschaft, sondern durch die Brille des Einzelinteressenten der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet. Aber je nach dem Standpunkt dieses Interessenten verschiebt sich auch das Bild der Gesellschaft, und es kann sich mehr oder weniger schief im Hirn des Ökonomen abspiegeln. Je näher der Standpunkt zum eigentlichen Produktionsprozeß, um so näher steht die Auffassung zur Wahrheit. Und je weiter sich der Forscher zum Austauschmarkt, zum Gebiet der vollen Herrschaft der Konkurrenz voranbewegt, um so mehr steht das von dort aus gesehene Bild der Gesellschaft auf dem Kopfe.
Die Schippelsche Krisentheorie ist, wie wir gezeigt, vom Standpunkte der Kapitalisten als Klasse absolut unhaltbar, sie läuft auf den Rat hinaus: die Kapitalistenklasse soll selbst ihren Überfluß an Produkten konsumieren. Aber auch ein einzelner kapitalistischer Industrieller wird sie mit Achselzucken aufnehmen. Ein Krupp oder ein von Heyl sind viel zu klug, um sich dem Wahn hinzugeben, ihr eigener und ihrer Klassengenossen Luxus könne den Krisen irgendwie abhelfen. Diese Auffassung kann nur einem kapitalistischen Kaufmann, richtiger einem kapitalistischen Krämer aufsteigen, für den seine unmittelbaren Abnehmer, die »großen Herrschaften«, mit ihrem Luxus als die Pfeiler der ganzen Wirtschaft erscheinen. Die Schippelsche Theorie ist nicht einmal ein Abklatsch der Auffassung des kapitalistischen Unternehmers, sie ist direkt ein theoretischer Ausdruck des Standpunktes des kapitalistischen Krämers.
Der Gedanke Schippels von der »Entlastung« der Gesellschaft durch den Militarismus zeigt wieder, ganz wie seinerzeit die Ausführungen Ed. Bernsteins, daß der Revisionismus, wie er in der Politik zum bürgerlichen Standpunkt führt, auch in seinen ökonomischen Voraussetzungen an die bürgerliche Vulgärökonomie anknüpft.
Aber Schippel bestreitet ja unsere politischen Folgerungen aus seiner "Entlastungs«theorie. Er hätte nur von der Entlastung der Gesellschaft und nicht der Arbeiterklasse gesprochen, er hätte noch ausdrücklich, um Mißverständnissen vorzubeugen, die Versicherung eingeschoben, daß ihm "dies den Militarismus nicht angenehmer, sondern unangenehmer mache«. Man könnte glauben, Schippel hielte also vom Standpunkte der Arbeiterklasse den Militarismus wirtschaftlich für verderblich.
Wozu hat er dann auf die wirtschaftliche Entlastung hingewiesen? Welche Schlüsse zieht er aus ihr für das Verhalten der Arbeiterklasse zum Militarismus? Hören wir zu: »Natürlich macht mir das (die wirtschaficliche Entlastung) den Militarismus nicht angenehmer, sondern um so unangenehmer. Nur kann ich von diesem Standpunkt aus auch nicht in das kleinbürgerlich-freisinnige Geschrei über den wirtschafilichen Ruin durch die unproduktiven Militärausgaben einstimmen...« Schippel erachtet also die Ansicht über die ökonomisch ruinierende Wirkung des Militarismus für kleinbürgerlich, für falsch. Für ihn ist der Militarismus also kein Ruin, das "Einstimmen in das kleinbürgerlich-freisinnige Geschrei" (1) gegen den Militarismus, das heißt der Kampf gegen ihn, ist für ihn verkehrt; ja, sein ganzer Artikel ist ja darauf gerichtet, der Arbeiterklasse die Unentbehrlichkeit des Militarismus nachzuweisen. Was bedeutet angesichts dieses seine eingeschaltete Verwahrung, ihm sei der Militarismus deshalb nicht angenehmer, sondern um so unangenehmer? Sie ist nur die rein psychologische Versicherung, daß Schippel nicht mit Genuß, sondern mit Widerwillen den Militarismus verteidigt, daß er an seiner opportunistischen Politik selbst keine Freude hat, daß sein Herz besser als sein Kopf ist.
1 "Die Neue Zeit", 1898/99, Nr. 20, S. 617.
Schon angesichts dieser Tatsache könnte ich nicht die Einladung Schippels zu einem Wettrennen "um die proletarisch-revolutionärste Gesinnung" mit ihm annehmen. Die Loyalität verbietet mir, mit jemand zu wettrennen, der in der denkbar ungünstigsten Position, weil mit dem Rücken zum Start, in die Rennbahn tritt.
"Leipziger Volkszeitung«,
20. bis 26. Februar 1899.
Letzte Änderung: 03. Jun. 2001, Adresse: /deutsch/rl/rlii034d.html