Rosa Luxemburg

Unser leitendes Parteiorgan

Der "Vorwärts" antwortet auf unsere Forderung, er solle als Zentralorgan im Sinne der Gesamtpartei bei allen Meinungsverschiedenheiten auftreten, daß er »die Pflicht, zu jeder auftauchenden taktischen Frage Stellung zu nehmen, durchaus anerkennt".

Im Laufe des letzten Jahres sind in unserer Partei drei Hauptfragen aufgetaucht, die zu lebhaften Meinungsdifferenzen Anlaß gegeben haben. Es sind dies:

Die Theorien von Bernstein. Die gesamte Parteipresse hat sich damit befaßt, die gesamte gegnerische Presse hat das Thema aufgegriffen, das kleinste Provinzblättchen der Partei hat in dieser oder jener Weise zu dem Bernsteinschen Buch Stellung genommen. Das Zentralorgan und Berliner Parteiblatt "Vorwärts« hat bis jetzt mit keinem Sterbenswörtchen seine Stellung zu der Frage verraten.

Oder doch? In einem »Eitle Hoffnungen« überschriebenen Artikel vom 28. März bezeichnet der »Vorwärts" das ganze Jubelgeschrei der liberalen Presse, »Bernstein hätte sich ihrem bürgerlich reformparteilichen Standpunkt genähert", als ein »unglaublich lächerliches Schachspiel. Hätten diese bürgerlichen Biedermänner«, die "diese Komödie" aufführten, das Bernsteinsche Buch nur einmal gelesen, »sie würden entdeckt haben, daß das Fundament und Endziel der sozialdemokratischen Partei - von Bernstein gar nicht angetastet wird. Letzteres ist bekanntlich gerade das, was Bernstein und seine Anhänger behaupten. Und indem der »Vorwärts« seinerseits den Widerspruch, in den sich Bernstein zur Partei gesetzt hat, ableugnet, nimmt er hier, wenn auch verstohlen, für die Bernsteinsche Stellung Partei.

2. Die Schippelsche Stellungnahme zum Militarismus. Auch bei dieser Gelegenheit, wo die wichtigste Frage der Taktik zur Debatte stand, wo die »Neue Zeit« und die Provinzblätter der Partei in ausführlichster Weise den Gegenstand behandelten, hat das Zentralorgan auch nicht eine einzige Notiz gebracht, aus der man seine Stellung zur Frage ersehen konnte. Oder doch? Er hat sie indirekt dadurch ausgedrückt, daß er erstens bei der Wiedergabe der Schippelschen Äußerungen die markanteste, entscheidendste und am meisten angefochtene Stelle: die Schippelsche "Entlastungstheorie" gänzlich verschwiegen hat; daß er zweitens bei der Wiedergabe der Auseinandersetzung Kautskys mit Schippel über die Ansichten von Engels ihr in den Augen der Leser eine praktisch-politische Tragweite zu nehmen sich bemühte, indem er ihnen bloß einen "vorwiegend bibliographischen Charakter" zuschrieb (»Vorwärts« vom 8. Februar); daß er drittens die Behandlung derselben Frage in der übrigen Parteipresse, so in der »Leipziger Volkszeitung«, auf die Schippel zweimal reagierte, seinen Lesern gänzlich verschwiegen hat. Also auch diesmal keine offene Stellungnahme, aber eine Begünstigung des gröbsten Verstoßes gegen das Programm der Partei - in verstohlener Weise.

3. Die bayrischen Landtagswahlen. Auch diese Frage hat zu lebhaften Auseinandersetzungen in der Presse geführt, zum Teil im »Vorwärts« selbst. Genosse Liebknecht hat auch hier - aber nur für seine Person - das Vorgehen der bayrischen Genossen gebrandmarkt. Das Zentralorgan als solches hat bis zur Stunde keine Stellung zu der Frage genommen. Oder doch? Ja, indirekt, indem es die abfälligen Äußerungen in der deutschen Parteipresse, so in der "Sächsischen Arbeiterzeitung«, in der "Leipziger Volkszeitung", deren Redaktionen noch Mitte Juli den Kuhhandel scharf kritisierten, seinen Lesern völlig verschwieg, dafür aber aus einer österreichischen nichtsozialdemokratischen Zeitschrift, der »Wage«, einen Artikel Vollmars auf das ausführlichste wiedergab - ohne ein Wort seinerseits.

Also auch hier keine offene Stellungnahme, wohl aber ein Vorschubleisten zugunsten des Opportunismus in verstohlener Weise.

Es sind treffliche Worte, die der »Vorwärts« da sagt, ihm sei von der Partei die Aufgabe gestellt, das was die Partei einige, zu vertreten. Nur versteht jedermann unter dem, was die Partei einigt, eben das von der Partei offiziell angenommene Programm und ihre offiziell akzeptierte und bewährte Taktik. Daß der »Vorwärts« diese nicht vertritt, haben wir an der Hand der Tatsachen gezeigt. Das Zentralorgan versteht aber unter dem, was die Partei »einigt«, offenbar einen Eiertanz zwischen einander widersprechenden Gesichtspunkten, dem im besten Falle die völlige Meinungslosigkeit zugrunde liegt. Und er sieht demgemäß mit Stolz die glänzendste Bestätigung, daß er »dieser Aufgabe nicht allzu unglücklich gedient« hat, in der Tatsache... daß er niemanden in der Partei befriedigt hat, weder diejenigen, die von ihm die Vertretung des Parteiprogramms und der Parteitaktik fordern, noch diejenigen, die das Programm und die Taktik über den Haufen werfen wollen.

Das ist allerdings eine Glanzleistung des »Vorwärts«, um die ihn sogar der Großmeister im Eiertanz, Herr Lieber, beneiden könnte. Der »Vorwärts« vergißt aber, daß, während er geradezu die Pflicht hat, die »Unzufriedenheit« derjenigen, die das Parteiprogramm und die Parteitaktik angreifen, zu erregen, es eine große Pflichtverletzung von ihm ist, wenn er den entgegengesetzten Wunsch, die Grundsätze der Gesamtpartei zu vertreten, nicht befriedigt.

Da das Zentralorgan auf diese Weise die Grundsätze der Partei von ihrem Gegenteil nicht zu unterscheiden vermag, so ist es nicht einmal imstande, die verschiedenen in der Partei auftauchenden Streitfragen auch nur auf ihren wirklichen Charakter zu schätzen. So kommt es dazu, die Agrarfrage, in der drei verschiedene Gesichtspunkte zum Ausdruck gekommen sind, und die vor allem ein völlig neues, weder theoretisch noch praktisch erprobtes Gebiet der Parteitätigkeit behandelte, ferner die preußische Wahlbeteiligungsfrage, die nach wiederholten Erklärungen aller Beteiligten keine prinzipielle, sondern bloß eine Zweckmäßigkeitsfrage war, diese beiden Fragen mit der Schippelschen Milizverhöhnung, mit der Bernsteinschen Verwerfung des Endziels, mit der bayrischen Abstimmung für das Zentrum auf eine Linie zu stellen.

Der »Vorwärts« bemerkt eben in jedem in der Partei auftauchenden Meinungsstreit nicht die Meinungen, sondern bloß den Streit. Die letzten Jahre des Parteilebens sind ihm bloß eine unterschiedslose Reihe von »Streitigkeiten«, wobei er als »leitendes Zentralorgan« seine Mission in dem eifrigsten Einigungs- und Versöhnungsbemühen erblickt. Diese glaubt er aber in der Weise am wirksamsten zu erfüllen, daß er seinerseits zu all den Streitigkeiten - schweigt, wie wenn er tot und begraben wäre.

Aber es ist nur die bekannte Selbsttäuschung aller Ohnmacht, zu glauben, daß die unliebsame Erscheinung verschwindet, wenn man sich über sie ausschweigt. Tatsächlich verkehrt sich die Einigungspolitik des "Vorwärts" in ihr Gegenteil, in die Verschärfung der vorhandenen Gegensätze, und dies ist es, was uns verbietet, die Beschwichtigungsaktion unseres Zentralorgans nur von der komischen Seite zu nehmen.

Durch Vertuschung der Gegensätze, durch künstliche »Vereinigung" unvereinbarer Ansichten, läßt man die Gegensätze nur zur vollen Reife gedeihen, bis sie früher oder später in einer Spaltung sich gewaltsam Luft verschaffen. Nicht wir verlangen, wie der »Vorwärts" sich ausdrückt, die »Abstoßung« (wohl ein schüchterner Ausdruck für Ausstoßung) der opportunistischen Elemente, wir haben in der »Leipziger Volkszeitung« die nach unserer Meinung notwendigen Maßregeln deutlich klargelegt. Es ist umgekehrt die Versöhnungspolitik des »Vorwärts«, die in hohem Maße die Gefahren einer Spaltung heraufbeschwört. Wer die Spaltung in den Ansichten hervorkehrt und bekämpft, arbeitet für die Einigkeit der Partei. Wer die Spaltung der Ansichten vertuscht, arbeitet auf eine Spaltung der Partei hin.

Daß der »Vorwärts« übrigens, ohne zu den Fragen je klar und offen Stellung zu nehmen, doch im opportunistischen Fahrwasser schwimmt, beweisen wieder gerade seine eigenen Ausführungen. Denn indem er uns der Bestrebungen beschuldigt, die Partei durch Prinzipienstrenge auf eine »Sekte« reduzieren zu wollen und an »scheinradikalem Gebahren« Gefallen zu finden, wiederholt er ja Wort für Wort dieselben Vorwürfe, die Bernstein unserer Partei macht.

Aussöhnung aller Meinungsdifferenzen durch eigene Meinungslosigkeit und Verteidigung der Parteiprinzipien durch Verwischung der Prinzipienverstöße - diese seine Tätigkeit glaubt das Zentralorgan in den Worten formulieren zu können: "der ,Vorwärts' hat in allen Fragen treu zum Parteiprogramm gestanden!"

Vielleicht wollte der "Vorwärts" sagen: »treu zum Programm gelegen"? . . . Die Partei braucht aber weder ein stehendes, noch ein liegendes, sondern ein vorwärts marschierendes Zentralorgan, und es ist zu hoffen, daß ihm der Parteitag in Hannover Beine machen wird.

"Leipziger Volkszeitung",
22 September 1899.


Letzte Änderung: 03. Jun. 2001, Adresse: /deutsch/rl/rlii073d.html