In dem Falle der Hamburger Akkordmaurer, der wohl am meisten auf dem kommenden Parteitag die Gemüter erregen wird, ist unter anderem ein Moment sehr interessant: nämlich der Umstand, daß für den Ausschluß der Sonderbündler unter den Hamburger Maurern aus der sozialdemokratischen Partei mit am lautesten diejenigen eintreten, die, wie von Elm, bei jeder Gelegenheit die strikteste politische »Neutralität« der Gewerkschaften predigen. Während nach dieser Theorie, wenn man ihre Konsequenzen klar ausdenkt und offen ausspricht, die Sozialdemokratie für die Gewerkschaften vollkommen Luft sein soll, erscheint hier die schwerste Bestrafung der Mitglieder der Sozialdemokratie für gewerkschaftliche Vergehen als die heiligste Pflicht der Partei. Die Theorie der »Neutralität« erweist sich auch hier wie bereits mehrmals in der Praxis als ein einseitiges Verhältnis auf Kosten der politischen Partei.
Aber was auf der einen Seite Inkonsequenz mit der eigenen Theorie, erscheint auf der anderen als ein Protest gegen die Theorie selbst. Es wird nicht zum geringsten eine Reaktion gegen die Neutralitätslehre sein, was der Opposition manches Genossen gegen den Hamburger Schiedsspruch zugrunde liegt. Gerade der Unwille gegenüber den in der letzten Zeit laut gewordenen Theorien der gegenseitigen Gleichgültigkeit und Abgeschlossenheit der politischen und wirtstaftlichen Arbeiterbewegung läßt eine Entscheidung als Fehlgriff empfinden, die, wenn auch nur äußerlich, die Gleichgültigkeit der Partei gegenüber dem gewerkschaftlichen Verhalten ihrer Angehörigen auszudrücken scheint.
Der Parteitag, vor den die Frage nunmehr als vor die letzte Instanz tritt, hat gewiß eine schwierige Aufgabe zu lösen. Er muß auf der einen Seite unbedingt der Empörung Rechnung tragen, welche die Handlungsweise der Hamburger Akkordmaurer in den weitesten Kreisen unserer Partei hervorgerufen hat. Die lauten Protestrufe unserer Elitetruppen in Hamburg, in Berlin, in Breslau und sonst im Lande gegen den Schiedsspruch sind vor allem als höchst erfreuliche Symptome des gesunden Klassenwußtseins, des kräftigen Solidaritätsgefühls in der sozialdemokratischen Arbeiterschaft aufzufassen, vermöge derer ein Disziplinbruch, wie ihn die Hamburger Sonderbündler verübt haben, als eine Ehrenkränkung der gesamten Arbeiterklasse empfunden wird. Diese Denkweise und Empfindungsart in unseren Reihen zu mißachten und zu verletzen, kann am allerwenigsten unsere Aufgabe sein. Im Gegenteil, sie pflegen und stärken ist es, was jedes verantwortliche Organ der Partei im allgemeinen und der Lübecker Parteitag im besonderen zu tun hat.
Auch materiell, was den Kampf gegen die Akkordarbeit betrifft, auf dessen Boden sich der traurige Hamburger Zwischenfall abgespielt hat, muß der Parteitag sein vollwichtiges Wort zugunsten der Kläger sprechen. Es ist dies eine jener wirtschaftlichen Angelegenheiten, die das gesamte internationale Proletariat aufs lebhafteste interessieren. Und man muß es als ein krasses Beispiel der Sorglosigkeit auffassen, mit der Beschlüsse internationaler sozialistischer Kongresse dem Staube und den Motten überlassen werden, daß zahlreiche Mitglieder der deutschen Sozialdemokratie in einer ihrer Hochburgen in bezug auf die Akkordarbeit die verkehrtesten Ansichten zu verfechten imstande waren. Der Beschluß des internationalen Kongresses in Brüssel vom Jahre 1891 läßt keinen Zweifel über die Stellung des internationalen Proletariats zu. Die diesbezügliche, mit allen gegen eine Stimme angenommene Resolution des belgischen Abgeordneten Bertrand lautet:
In Erwägung,
-daß die Akkordarbeit sich immer mehr verallgemeinert,
-daß diese Lohnform immer mehr die Ausbeutung der Arbeitskraft und infolgedessen die Armut und das Elend der Arbeiterklasse steigert,
-daß sie den Arbeiter in wachsendem Maße zur Maschine degradiert,
-daß sie die Lohnrate beständig herabdrückt infolge der wütenden Konkurrenz, die sich die Arbeiter untereinander machen,
-daß dieses System eine unversiegbare Quelle von Konflikten zwischen Unternehmern und Arbeitern sowie unter den Arbeitern selbst bildet,
-daß sie endlich die Tendenz hat, in zahlreichen Produktionszweigen die Hausindustrie an Stelle der Fabrikindustrie zu setzen und dadurch den Geist der Solidarität zu beeinträchtigen, die Koalition der Arbeiter zu verhindern und die Anwendung der Arbeiterschutzgesetze unmöglich zu machen,
erklärt der Kongreß:
-daß dieses verabscheuungswürdige System der Überarbeit ein notwendiges Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaft ist und mit ihr zusammen verschwinden wird,
-daß es nichts desto weniger Pficht der Arbeiterorganisationen aller Länder ist, sich mit allen Mitteln der Entwicklung dieses Systems zu widersetzen. 1
1 Wir geben hier eine Übersetzung des französischen Originals der Resolution wieder, da uns momentan der vom Kongreß akzeptierte deutsche Text fehlt.
Man muß entweder die obige Resolution nie gekannt oder, was ebenso beschämend, sie vollständig vergessen haben, um die hartnäckige freiwillige Unterstützung der Akkordarbeit mit sozialistischer Überzeugung für vereinbar zu halten. Es ist die zweite Aufgabe des kommenden Parteitages, den Beschluß des Brüsseler Kongresses zu sanktionieren und der gesamten Arbeiterschaft zur Befolgung einzuschärfen.
Aber der Lübecker Parteitag hat noch weiteres zu tun. Es wird nämlich seine Aufgabe sein, außer der Erledigung des vorliegenden einzelnen Streitfalls auch eine allgemeine Regel in bezug auf die gegenseitigen Kompetenzsphären der Partei und der Gewerkschafien aufzustellen. Der Hamburger Streit und die Stellungnahme der Partei dazu ist als Präzedenzfall für unsere Beziehungen zu der gewerkschaftlichen Organisation von größter Tragweite. Bei seiner Entscheidung muß der Parteitag deshalb von den Besonderheiten gerade dieses einzelnen Falles sich nicht beherrschen und bestimmen lassen, sondern vielmehr von ihnen ganz abstrahieren. Denn eine noch viel wichtigere Frage als die: was soll mit den Hamburger Akkordmaurern geschehen? ist die andere von ihr unzertrennliche: wie stellen wir uns als Partei zu den gewerkschaftlichen Vergehen unserer Mitglieder?
I.
Es sind nur zwei Standpunkte möglich, von denen aus die Partei einen an sie herantretenden gewerkschaftlichen Fall aburteilen kann. Entweder der formalistische Standpunkt der Disziplinwidrigkeit, bei dem wir uns als Partei jeder Prüfung der sachlichen Berechtigung oder Nichtberechtigung der einschlägigen Ansichten auf beiden Seiten enthalten und nur die Weigerung, den Satzungen der Mehrheit zu folgen, zum Gegenstand der Rechtsprechung machen. Oder der Standpunkt der sachlichen Prüfung jedes einzelnen Falles in seinen konkreten Zusammenhängen und das Aburteilen aus diesen Zusammenhängen und aus der jedesmaligen eigenen Ansicht der Partei heraus.
Den ersten, formalistischen Standpunkt vertritt die Generalkommission der Gewerkschaften und eine Reihe Gewerkschaftsblätter, für die sich der Ausschluß der Hamburger Akkordmaurer aus den bloßen äußeren Kennzeichen des Streikbruchs ohne weiteres ergibt. Ihre Opposition richtet sich viel weniger gegen das Urteil selbst des Hamburger Schiedsgerichts, als gegendessen »seltsame Begründung«, gegen »das Bestreben, dem Streikbruch das Brandmal der Ehrlosigkeit auszulöschen, ihn als Notwehr zu entschuldigen, und dadurch gewissermaßen dort zu sanktionieren, wo neben Arbeitsdifferenzen noch organisatorische Streitigkeiten in Frage kommen« (»Korrespondenzblatt der Gewerkschaften«, Nr.33, S.518). Nach diesem Standpunkt scheiden die Meinungsdifferenzen, die dem klagbaren Streitfall vorausgehen, vollkommen aus und bleiben bei der Beurteilung des Falles außer Betracht. Es läßt sich nicht bestreiten, daß sich diese Auffassung durch große Einfachheit namentlich in bezug auf die Aufgaben der sozialdemokratischen Rechtsprechung auszeichnet. Aber die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen sind viel weniger einfach.
Der Streikbruch ist offenbar nicht die einzige Form der Disziplinlosigkeit, deren sich Gewerkschaftsmitglieder schuldig machen können. Eine andere wichtige Erscheinung dieser Art ist die Sonderorganisation. Wird der Streikbruch als solcher ohne jede Rücksicht auf Nebenumstände mit Ausstoßung aus der Partei bestraft, so muß konsequenterweise schon jeder Versuch einer Organisationsspaltung als ehrlos mit Parteiausschluß bestraft werden. Und richtig erklärt bereits das »Korrespondenzblatt der Gewerkschaften« in seiner neuesten Nummer vom 2. September, daß die Hamburger Akkordmaurer sich eigentlich nicht erst durch den Streikbruch, sondern bereits durch ihre Sonderorganisation gegen Parteiprinzipien vergangen hatten, welche einen »einheitlichen« Klassenkampf gebieten. Nach dem Muster dieser post festum revidierten und erweiterten Anklage müßten alle lokalorganisierten, alle sonderorganisierten Genossen aus der Partei ausgestoßen werden. Ein weiteres Glied in der Kette dieser logischen Schlußfolgerungen ist die Ahndung bereits der Opposition und der Quertreibereien im Schoße einer Gewerkschaft, die regelmäßig der Sonderbündelei vorausgehen und zu ihr ebenso logisch führen, wie die Sonderbündelei zum Streikbruch. Vom formalistischen standpunkt der Disziplinlosigkeit ist eine systematiste Opposition innerhalb der Gewerkschaft ebenso verwerflichtet wie die Sonderbündelei. Im letzten Ergebnis des von der Gewerkschaftskommission vertretenen Standpunktes erhielten wir also die folgende allgemeine Regel: Wer sich des Ungehorsams gegenüber der Mehrheit seines gewerkschaftlichen Zentralverbandes schuldig macht, wird aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen.
Damit erscheint vor uns die Auffassung derjenigen, die eine Beurteilung des Hamburger Streitfalles ohne jede Rücksicht auf die ihn begleitenden Meinungsdifferenzen fordern, in ihrer ganzen Tragweite. Uns auf diesen Standpunkt stellen, hieße, bei seiner Verallgemeinerung zur Regel, die Sozialdemokratie einfach zum Büttel machen, der blindlings die Urteile der Gewerkschaften ausführt.
Die Rolle, die hier der Partei zugemutet wird, widerspricht aber nicht nur den Regeln, welche die Sozialdemokratie ihren Mitgliedern gegenüber in politischer Hinsicht beobachtet, sondern auch denjenigen, die von den Gewerkschaften selbst angewandt werden. So wenig die Partei irgend jemand wegen bloßen Ungehorsams ohne weiteres als ehrlos ausstößt, ebensowenig halten notgedrungen die Gewerkschaften selbst den formalistischen, rigorosen Standpunkt ein, den man heute von der Sozialdemokratie fordert. Es genügt hierzu, sich ein wenig der Geschichte der Gewerkschaften zu erinnern.
Diese zeigt uns nämlich vor allem, daß bei weitgehenden Meinungsdifferenzen die ärgsten Disziplinlosigkeiten und namentlich auch der Streikbruch leider gar nicht zu den Seltenheiten gehören, und sodann, daß dementsprechend sogar der Streikbruch in den Kreisen der Gewerkschaften selbst je nach den begleitenden Umständen stets eine verschiedene Beurteilung gefunden hat und findet.
Erwähnen wir zur Illustration nur einen Fall, der sich unter ziemlich analogen Umständen wie der neuliche, und zwar gleichfalls in Hamburg vor etwa zehn Jahren abgespielt hat.
Es handelt sich um die Kämpfe der beiden Richtungen im Schoße der Hamburger Schiffszimmererorganisation: derjenigen von Grosz, das heißt der zentralen, welche von Anfang an die Vereinigung aller bei dem Schiffsbau tätigen Berufe anstrebte, und der lokalen Richtung der Holzschiffszimmerer, die sich im Jahre 1880 abgesondert hatten, um vor allem die Interessen ihrer Spezialbranche wahrzunehmen. Hier bildete der Streikbruch ein systematisch vom Zentralverband der Werftarbeiter angewandtes Mittel, um die Lokalorganisation zu brechen. So zum Beispiel bei dem Streik im Mai 1888, wo es sich um nichts anderes als um eine Lohnaufbesserung handelte. Kaum war der Streik von einer großen Anzahl lokalorganisierter Schiffszimmerer (über 800 Mann) proklamiert, als der Vorstand des Zentralverbandes eine Versammlung zusammenberief, um die anwesenden Schiffszimmerer zurn Streikbruch zu bewegen, mit der Begründung, daß eine Lohnaufbesserung zuerst für die Werftarbeiter am Ostseestrande stattfinden müsse. Der Streik brach denn auch tatsächlich in kurzer Frist zusammen. - Dasselbe Schauspiel wiederholte sich im November 1889. Jetzt handelte es sich um die Einführung des Stundenlohnes an Stelle des Tagelohnes, was für die Schiffbauer einen bedeutenden Ausfall im Lohne für die Wintermonate bedeutete. Die Lokalorganisierten widersetzten sich der Neuerung und traten sämtlich (etwa 1000 Mann) in den Streik, der außerordentlich günstige Aussichten hatte. Allein im Dezember gelang es dem Zentralverband wieder, durch eine Reihe von Versammlungen viele Schiffszimmerer zum Streikbruch und so zur Lahmlegung des ganzen Kampfes zu bewegen, diesmal mit der Begründung, daß die Bestrebungen der Streikenden »zünftlerisch« seien. Ja, es wurde vom Vorstand des Zentralverbandes allen Werftarbeitern ein förmlicher Freibrief zur Verrichtung der Schiffszimmerarbeit gegeben, - ein Umstand, der die Analogie mit dem gegenwärtigen Falle bis zum Detail vollendet.
Urteilt man nach der Methode der heutigen Gegner des Hamburger Schiedsspruchs, so haben wir es mit wiederholtem Streikbruch in aller Form zu tun. Hier ist es aber nicht eine undisziplinierte Minderheit, die ihn verübt, sondern - die offizielle Vertretung der gewerkschaftlichen Organisation, und zwar derselben Richtung, die heute den Streikbruch als ein absolutes, jeden mildernden Umstand ausschliebendes Verbrechen darstellt - der Vorstand eines Zentralverbandes. Und wenn der Vorstand des Werftarbeiterverbandes auch wegen seiner den Schiffszimmerern gegenüber angewandten Taktik seinerzeit von verschiedenen Seiten scharfen Tadel hören mußte, so wurde er doch nicht als »ehrlos« aus der Gewerkstaftswelt ausgestoßen.
Das angeführte geschichtliche Fragment soll selbstverständlich nicht dazu dienen, den Streikbruch an sich irgendwie zu legitimieren. Wenn aber die Wiederholung einer Handlungsweise noch gar nichts zu ihrer Entschuldigung sagt, so soll sie doch in diesem Falle dartun, daß wir es in dem Verhalten der Hamburger Akkordmaurer nicht etwa mit einem beispiellosen Verstoß gegen alle Sitten und Gebräuche der Gewerkschaftswelt zu tun haben, »wie es wohl noch nie in der Gewerkschaftsbewegung vorgekommen ist«, wie die »Buchbinderzeitung« sagt, sondern vielmehr mit einer höchst bedauerlichen aber doch nicht wegzuleugnenden Begleiterscheinung aller heftigeren Entwicklungskrisen im Schoße der Gewerkschaften.
Andererseits genügt eine kurze Besinnung, um einzusehen, daß die Fälle von Streikbruch und sonstigen Disziplinlosigkeiten, welche vor das Forum der Partei treten können, in der Regel gerade solche sind, die mit inneren Differenzen und Kämpfen der Gewerkschaften zusammenhängen. Wenn schon für einen nur gewerkschaftlich organisierten Arbeiter der gewöhnliche Streikbruch ohne jedes andere Motiv als niedrige materielle Selbstsucht zu den seltensten gehören dürfte, so ist er um so weniger von klassenbewußten Sozialdemokraten zu erwarten. Wo es sich also um Streikbruch oder sonst grobe Vergehen gegen Gewerkschaftssatzungen seitens sowohl wirtschaftlich wie politisch organisierter Arbeiter handelt, da werden wir es in überwiegender Zahl von Fällen mit inneren Streitigkeiten unter den Gewerkschaften zu tun haben.
Die Meinungsdifferenzen und Organisationsstreitigkeiten, die man ganz unberücksichtigt wissen will, erweisen sich somit gerade als das bestimmende, grundlegende Moment. Und der einzige Standpunkt, auf den sich die Partei eventuell stellen kann, ist folgerichtig nicht der formalistische der Gewerkschaftskommission, sondern der von dem Schiedsgericht tatsächlich eingenommene Standpunkt der sachlichen Prüfung des zu beurteilenden Streitfalles.
Sehen wir nun zu, welche Konsequenzen sich aus diesem Standpunkt ergeben.
Da der Meinungskampf in der Regel die Voraussetzung eines gewerkschaftlichen Vergehens sozialdemokratischer Arbeiter ist, so ist die Entscheidung über dieses Vergehen jedesmal mit der Stellungnahme der Partei zur strittigen Gewerkschaftsfrage selbst verbunden. Es hieße aber gegen die elementarsten Begriffe des Rechts und der Gerechtigkeit sündigen, wollte die Partei ihre Mitglieder als solche für eine verkehrte Stellungnahme in Gewerkschaftsfragen bestrafen, während sie die richtige, die maßgebende Regel des Verhaltens erst im Moment selbst der Rechtsprechung feststellt. Um es an einem konkreten Beispiel zu erläutern: bevor nicht ein bindender Beschluß der Partei in bezug auf die Akkordarbeit in aller Form vorliegt, kann kein Parteimitglied als solches wegen seinem Verhalten zur genannten Frage, sosehr sie uns klar und einleuchtend erscheint, bestraft werden. Die Ansicht, die vom Schiedsgericht in bezug auf die Akkordarbeit niedergeschrieben worden ist, ist zunächst formell der Ausdruck lediglich der Privatmeinung der neun Genossen, die es bildeten; sie kann aber schon deshalb bei der Beurteilung des Streitfalles nicht als Grundlage dienen, weil sie post festum formuliert worden ist.
Sollte die Partei in bezug auf gewerkschaftliche Fragen über ihre Mitglieder zu Gericht sitzen, so würde ihr daraus die unabweisbare Pflicht erwachsen, im voraus zu jeder inneren Frage des Gewerkschaftslebens Stellung zu nehmen, und zwar in Form von bindenden Beschlüssen. Übernimmt also die Partei richterliche Pflichten in Gewerkschaftssachen, so ergeben sich für sie daraus auch gesetzgebende Pflichten. Sobald in gewerkschaftlichen Kreisen irgendeine Frage der Organisation, des Kampfes, eine Frage des Tarifs, der Lohnform usw. auftaucht, jedesmal müßte die Partei auch ihrerseits die Frage diskutieren und ihre Mitglieder im voraus auf eine bestimmte Regel verpflichten.
Es heißt nun, sich die Konsequenzen, die sich aus der Sachlage ergeben, in ihrer konkreten Wirkung zu vergegenwärtigen. Es gibt nur zwei Situationen, die dabei entstehen können.
Entweder wird das regelnde und richtende Eingreifen der Sozialdemokratie in die gewerkschaftliche Tätigkeit ihrer Mitglieder von den Gewerkschaften mit gleichem, das heißt mit regelnder und richtender Einmischung der Gewerkschaften in die politische Tätigkeit ihrer Mitglieder vergolten. Es geht offenbar nicht an, daß die Sozialdemokratie ihre Mitglieder wegen gewerkschaftlicher Mißgriffe ausstößt, während in gewerkschaftlichen Versammlungen zum Beispiel ruhig beschlossen werden darf, den 1. Mai nicht zu feiern, um damit der Sozialdemokratie keinen Gefallen zu erweisen. Einer Verpflichtung der Parteigenossen, sich gewerkschaftlich, und zwar nur in Zentralverbänden zu organisieren, würde logischerweise der Verpflichtung aller Gewerkschafter entsprechen, bei den Wahlen nur sozialdemokratisch zu stimmen. Mit einem Wort, eine Konsequenz der Kontrolle der Sozialdemokratie über den wirtschaftlichen Kampf ihrer Mitglieder ist - das offene Bekenntnis der Gewerkschaften zur Sozialdemokratie.
Dieses auf völliger Gegenseitigkeit der beiden proletarischen Kampfesorganisationen beruhende Verhältnis entspricht theoretisch vollkommen ihrer inneren Einheit und ihrem sozialen Zusammenhang. In der Praxis würde es aber in letzter Linie zu einer Verschmelzung der politischen und wirtstaftlichen Organisation der Arbeiterklasse führen, bei welchem Durcheinander beide Kampfformen verlören und ihre geschichtlich entstandene unbedingte äußere Trennung und Arbeitsteilung rückgängig gemacht würde.
Oder aber die Einmischung der Sozialdemokratie in den wirtschaftlichen Kampf ihrer Mitglieder wird nach der Bernsteinschen Theorie (siehe »Vorwärts« Nummer 196) ein einseitiges Verhältnis bleiben, das angeblich der überlegenen Stellung der politischen Partei entspricht. Dann haben wir tatsächlich eine Situation geschaffen, bei der die politische Organisation vor den Wagen der gewerkschafislichen gespannt ist, bei der die Partei außer ihren politischen Aufgaben noch die hat, als Exekutive für die Gewerksiaften zu dienen, wo nicht die Gewerkschaften als Vorschule für die Sozialdemokratie, sondern die Sozialdemokratie als Prügelkammer für die Gewerkschaften funktioniert. Mit einem Wort, eine Situation, wo das natürliche Verhältnis zwischhen der politischen und wirtschaftlichen Organisation des Proletariats als zwei selbständig nebeneinander bestehenden und einander ergänzenden Teilen der proletarischen Kampfarmee in ein widernatürliches Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnis verkehrt ist.
1 Die Resolution Bernsteins, wie er sie im Hauptinhalt veröffentlicht, zeichnet sich schon, abgesehen von der Unrichtigkeit des Hauptstandpunktes, durch eine bedenklirhe Verschwommenheit aus. "Wer der gewerkschaftlichen Organisation seines Berufs in ihren auf Regelung der Arbeitsbedingungen gerichteten Kämpfen schädigend in den Weg tritt oder sich eines ähnlichen, die Organisation in ihrer Leistungsfähigkeit ernstlich schädigenden Verstoßes gegen die Disziplin schuldig macht, handelt damit auch gegen die Grundsätze der Partei und kann so lange nicht ihr Mitglied sein, als er in diesem ungehörigen Verhältnis gegen seine Berufsorganisation verharrt."
Aber, um im Geiste Bernsteins zu fragen, was heißt "schädigend in den Weg treten«? Was heißt »die Leistungsfähigkeit der Organisation ernst schädigen«? Und wenn ein Gewerkschafter gerade mitten im Kampfe von ärgsten Zweifeln über die sämtlichen Grundsätze der Gewerkschaften befallen wird und eine gründliche Revision des ganzen Organisationsgebäudes von der Dachrinne bis zur Kellerstiege vornehmen muß, und seine zum Kampfe ausgerüsteten Genossen immer wieder und wieder aufhält, um sie über die ihn plagenden Zweifel zu unterhalten - ist das ein "schädigendes In-den-Weg-treten"? Ist das Schädigung der "Leistungsfähigkeit der Organisation"? Wir fürchten, daß Bernstein als Mann der unerschrockenen Konsequenz auf Grund seines Antrages noch einmal in die Lage kommt, seinen eigenen wenigstens zeitweiligen Ausschluß aus der Partei zu fordern.
Es genügt, die erwähnte Alternative bloß zu formulieren, um das Verhängnisvolle, ja Utopische dieser Auffassung einzusehen.
Es heißt innere Entzweiung und unaufhörliche Reibereien und Konflikte zwischen der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften herbeiführen, wenn man der Einmistung der Partei in gewerkschaftlichen Streitigkeiten das Wort redet. Wer aber nicht der famosen Neutralitätsidee huldigt, sondern gerade den inneren engsten Zusammenhang der beiden Arbeiterorganisationen für unerläßlich hält, muß mit aller Entschiedenheit die äußere Verwirklichung ihrer Kompetenzsphären ablehnen, die jenen Zusammenhang fatalerweise untergraben würde. Da das bis jetzt bestehende Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft nach beiden Richtungen hin, sowohl was ihre äußere Selbständigkeit und Arbeitsteilung, als was ihre Nebeneinanderstellung und Gleichberechtigung betrifft, unbedingt im Interesse des Klassenkampfes im ganzen aufrechterhalten werden muß, so ergeben sich daraus nunmehr in umgekehrter Ordnung die Schlüsse, daß die Partei über gewerkschaftliche Fragen weder beschließen, noch folgerichtig Recht sprechen kann.
III.
Um seinen Pflichten nach allen Seiten hin gerecht zu werden, müßte also der Lübecker Parteitag unseres Erachtens in bezug auf den Hamburger Streitfall den Akkordmaurern eine scharfe Rüge erteilen und sie zum Aufgeben ihres unhaltbaren Standpunktes auffordern, zugleich aber im allgemeinen erklären, daß es außerhalb seiner Kompetenz liegt, die Zwangsgewalt der Partei bei Differenzen anzuwenden, die aus Meinungsverschiedenheiten und Organisationsstreitigkeiten innerhalb der Gewerkschaften entstehen, da der Partei als solcher in internen Angelegenheiten der Gewerkschaften keine Exekutivgewalt zusteht.
"Die Neue Zeit", 1900/1901,
2. Bd., Nr. 49.
Letzte Änderung: 03. Jun. 2001, Adresse: /deutsch/rl/rlii138d.html