Wir scheinen mitten in der Ära opportunistischer Niederlagen zu stehen. Auf den kläglichen Verfall des ministerialistischen Frankreichs war das eklatante Fiasko der Wahlrechtskampagne in Belgien erfolgt, und kaum hat sich die Erregung des internationalen Proletariats über dieses Fiasko etwas gelegt, als schon die Kunde von einer neuen Niederlage des »staatsmännischen Geistes« in der Arbeiterbewegung aus Bayern kommt. Was in allen drei Fällen das spezifische Charakteristikum der sozialistischen Taktik ausmacht, ist die Hoffnung, durch ein entgegenkommendes parlamentarisches Zusammenarbeiten mit den bürgerlichen Parteien praktische Erfolge zu erzielen, und die Furcht, durch den unmittelbaren Druck der Massen zu wirken. Was in allen drei Fällen das Resultat dieser Taktik bildet, ist eine Reihe praktischer Niederlagen und eine politische Demoralisation der Arbeitermassen obendrein.
Der bayerische Fall ist von diesem Standpunkt ein klassisches Beispiel. Als es sich um die Frage der Budgetabstimmung handelte, da beruhte das Hauptargument der bayerischen und badischen Anhänger der Etatbewilligung darauf, daß die prinzipielle Ablehnung des Budgets durch die Sozialdemokratie bloß eine »Zeremonie«, ein konventioneller Akt ohne jede praktische Bedeutung, ein Ritus sei. Vom Standpunkte des Opportunismus war dieser Einwand wenigstens konsequent. Für »praktische Politiker« der Sozialdemokratie ist alles, was nur moralischen, agitatorischen, aufklärenden Wert besitzt und nicht unmittelbar auf die klingende Münze eines handgreiflichen Erfolges hinaus läuft, ebenso wertlos und unsinnig, wie für jeden burgerlichen Politiker, wie für den Zentrumsmann, den Freisinnigen, den Nationalliberalen. In dem Falle der Budgetabstimmung ges also noch, die agitatorischen Gesichtspunkte der sozialistischen Politik den bürgerlichen Gesichtspunkten des Opportunismus entgegenzuhalten.
In der bayerischen Wahlrechtsfrage liegen die Dinge bereits viel einfacher. Hier kommt nicht mehr eine »Zeremonie«, ein »Ritus", eine Handlung von vorwiegend moralischem Wert in Frage. Nein, hier handelt es sich lediglich um so handgreifliche, faustdicke, praktische Dinge, wie die Wahlrechtsberechtigung großer Massen, wie der Zensus, die Altersgrenze, die Einteilung der Wahlkreise. Ja, noch mehr! Der Gegenstand, der im gegebenen Fall auf dem Spiele steht, bildet geradezu das Palladium des Opportunismus, der »praktischen Politik«. Es handelt sich ja um dieselben parlamentarischen Rechte, um dieselbe Demokratie, die nach dem revidierten sozialistischen Evangelium den Hebel des Archimedes bilden, womit die kapitalistische Welt aus den Angeln gehoben und in den Abgrund geschleudert werden soll! Und was sehen wir da? Die »praktischen Politiker« verirren sich auf dem Glatteis ihrer »Praxis« so weit, daß sie schließlich die parlamentarischen Rechte, die Demokratie selbst preisgeben und einem Zensuswahlrecht, einer Hinaufschiebung der Altersgrenze der Wahlberechtigung, mit einem Worte einer Wahlrechtsverschlechterung zustimmen! Wie über die badische Budgetpolitik, so ist der bayerische Fall auf diese Weise auch über das belgische Experiment ein weiterer Schritt hinaus: in Belgien haben wir dank dem parlamentarischen Paktieren mit der Bourgeoisie das Wahlrecht beibehalten, in Bayern sollen wir auf demselben Wege gar dazu gelangen, das Wahlrecht selbst zu schaffen.
Mit frappanter Übereinstimmung denken die sozialistischen Staatsmänner aller Länder, daß ihre Niederlagen erst in dem Augenblick Tatsache werden, wo man über sie zu reden anfängt. Das oberste Prinzip der »praktischen Politik« ist deshalb unter allen Längen- und Breitengraden: sich wütend gegen jede öffentliche Diskussion zu wehren. Jaurès in der »Petite Republique«, Vandervelde in der »Neuen Zeit«, die bayerische Fraktion in der »Münchener Post« entrüsten sich gleichermaßen über das freche Ansinnen, ihre »praktischen Erfolge« ans Tageslicht zu bringen. Sachlich stehen die Einwände, die sie zu ihrer Rechtfertigung vorzubringen wissen, in allen diesen Fällen auf gleicher Höhe.
Parvus, dem das Verdienst gebührt, zuerst in die Machenschaften der bayerischen Fraktion in sachlichster Weise hineingeleuchtet zu haben, wird von der »Münchener Post« mit dem außerordentlich bissigen Titel eines »russischen Sozialrevolutionärs« und mit Redensarten von seinen »tollen Einfällen« und »Schmähungen« abgefertigt. Und Bebel, der in der »Neuen Zeit« mit der bayerischen Taktik streng ins Gericht gezogen ist, wird kurz damit vernichtet, daß ihm ungenaue Kenntnis der bayerischen Verhältnisse und sein leidenschaftliches Temperament vorgeworfen wird.
Wir können nur lebhaft bedauern, daß Genosse Bebel es für ratsamer erachtet hat, auf diese kindischen Ausflüchte erst nach dem bayerischen Parteitag in Ludwigshafen zu antworten, während es viel wirksamer und nützlicher wäre, gerade vor den Verhandlungen der bayerischen Genossen die Taktik ihrer Parlamentarier möglichst erschöpfend zu beleuchten. Aber freilich sind die spärlichen Argumente, die von der bayerischen Fraktion vorgebracht worden sind, an sich vollkommen ausreichend, um den letzten Zweifel an ihrer rettungslosen politischen Zerfahrenheit in der Wahlrechtsfrage zu beseitigen.
Es wäre lächerlich, im Ernst auf den alten bayerischen Ladenhüter: die »Unkenntnis der besonderen bayerischen Verhältnisse«, näher einzugehen. Man hat sich bereits seit einem Jahrzehnt in der Partei daran gewöhnt, sobald irgendein neues Meisterstück der Staatsmannskunst in München vor die Öffentlichkeit gezogen wird, Wunderdinge von Bayern zu hören, als ob es nicht in zehn Stunden von Berlin aus zu erreichen, sondern eine Art Hottentottenland wäre, in das erst wissenschaftliche Expeditionen zur näheren Erforschung des Landes, der Sitten und Gebräuche abgesandt werden müßten. Tatsächlich besteht die ganze Besonderheit Bayerns lediglich darin, daß, was sonst in der ganzen Welt als elementarste sozialdemokratische Forderungen gilt, wie zum Beispiel das allgemeine Wahlrecht ohne Zensus und im 21 .Lebensjahre, von bayerischen Sozialdemokraten als »tolle Einfälle« und »Schmähungen« aufgefaßt wird.
Einer speziellen Hervorhebung ist aber das einzige sachliche Argument wert, das die »Münchener Post« in Beantwortung der Bebelschen Kritik versucht hat. Es ist dies der Hinweis darauf, daß, entgegen der Bebelschen Annahme, im bayerischen Landtag die zur Wahlrechtsreform erforderliche Zweidrittelmehrheit ohne die elf Sozialdemokraten nicht zustande kommen könne, weil die Liberalen wahrscheinlich in letzter Linie gegen den Reformentwurf stimmen werden. Dieses brillante Argument erinnert lebhaft an den Hinweis Vanderveldes in der "Neuen Zeit", daß alle Behauptungen von einer Allianz der belgischen Sozialdemokratie mit den Liberalen haltlos seien, weil ja die belgischen Liberalen im Grunde genommen Gegner der Wahlrechtsbewegung seien. In beiden Fällen muß man erstaunt ausrufen: Ja, wozu und wieso war dann der Kompromiß der Sozialdemokratie möglich?! Wenn sogar die bayerischen Liberalen gegen den Wahlreformentwurf auftreten, wenn es also auf diese Weise noch deutlicher wird, daß er nur zur Verewigung der Zentrumsherrschaft dienen soll, wie Bebel in der »Neuen Zeit« schrieb, dann ist die Zustimmung der Sozialdemokratie zu diesem Entwurf ein politisches Rätsel, das außerhalb der bayerischen Grenzpfähle kein Mensch entziffern wird.
Nicht genug. Gerade das Argument der »Münchener Post« ist der denkbar stärkste Schlag für die Taktik der bayerischen Fraktion. Liegen die Dinge so, daß ohne die Sozialdemokraten die Wahlreform nicht durchgeht, daß sie das Zünglein an der Waage sind, dann haben sie die volle Möglichkeit, die Wahlrechtsverschlechterung zu verhindern, eine wirkliche Wahlrechtsreform im Interesse des Proletariats zu erzwingen. Dann erscheinen sie nicht als die schuldlosen Opfer einer volksfeindlichen Majorität, sondern als die eigentlichen verantwortlichen Schöpfer der reaktionären Wahlreform.
So führt die Logik der Tatsachen unter allen Zonen zu gleichen Ergebnissen und der Abrutsch vom prinzipiellen sozialistischen Boden überall zu demselben politischen Verfall. Jaurès, der im ministerialistischen Eifer die Regierungspolitik gegen bürgerliche Radikale, wie Clemenccau, Pelletan, Lacroix, verteidigt, und die bayerischen Parlamentarier, die in ihren Wahlrechtskonzessionen weiter gehen als die bayerischen Liberalen - das sind Früchte von demselben Baume der opportunistischen Erkenntnis.
Nun gehört in der bayerischen Angelegenheit das Wort dem Parteitag in Ludwigshafen. Die Kommissionsabstimmung der Fraktion ist bereits Niederlage und Lehre genug für die Partei. Hoffentlich verhütet der Parteitag noch den letzten Schritt, wodurch der Kompromiß perfekt und zu einem Denkmal des politischen Verfalls der Sozialdemokratie wird.
"Leipziger Volkszeitung",
13. Juli 1902.
Letzte Änderung: 03. Jun. 2001, Adresse: /deutsch/rl/rlii151d.html