Im Fernen Osten fließt Blut. Die verbrecherische Politik der Zarenregierung hat den Krieg zwischen Rußland und Japan hervorgerufen, und das arbeitende Volk beider Länder muß sich gegenseitig für das Wohl des Zaren und des japanischen Kapitalismus hinmorden. Die ganze proletarische und bürgerliche Welt verfolgt mit Unruhe den Verlauf des Krieges. Denn nicht nur um Rußland und Japan handelt es sich hier, sondern um das Los des Weltkapitalismus, um das Los des zaristischen Absolutismus.
In der gegenwärtigen Lage der Weltpolitik droht jeder Krieg zweier Mächte in einen bewaffneten Zusammenstoß der widerspruchsvollen Interessen aller Mächte umzuschlagen, droht zu einem allgemeinen Blutbad zu werden. Dem Kapitalismus wird es in Europa und Amerika zu eng; alle kapitalistischen Mächte haben begonnen, Asien und Afrika in den Wirbel der kapitalistischen Entwicklung hineinzuziehen, daher die ständige Gefahr von Weltkonflikten in diesen beiden Weltteilen. Dieses ist nun in den letzten Jahrzehnten der sechste Krieg, der den Weltfrieden gefährdet. Im Jahre 1894/1895 der Krieg zwischen Japan und China, nachher Griechenland und Türkei, Vereinigte Staaten und Spanien, England und die Buren und der Krieg der ganzen kapitalistischen Welt mit den chinesischen Boxern. Besonders ist es Asien, mit seinen ungeheuren natürlichen Reichtümern und seiner halben Milliarde Bevölkerung, und in Asien ganz besonders China, die eine außerordentliche Anziehungskraft auf das kapitalistische Gelüste ausüben. Dort winkt ein riesenhafter Absatzmarkt für Waren, die das Kapital mit Hilfe der Arbeiterhände in immer größerer Menge herstellt, ohne zu wissen, wie man sie absetzt. Dort kann das angesammelte, aus den Arbeitern herausgepreßte Kapital rentabel angelegt werden; dort ist billige Arbeitskraft, mit deren Hilfe man Eisenbahnen bauen, Bergwerke anlegen und Fabriken errichten kann. Dort können die Kapitalisten ihre Reichtümer, mit denen sie nichts anzufangen wissen, anlegen und neue Reichtümer hinzugewinnen. Daher sind auch die Lebensinteressen der kapitalistischen Mächte heute in Asien konzentriert. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, England, Frankreich und Deutschland sind am stärksten in Asien engagiert. Früher war der Brennpunkt internationaler politischer Krisen die Türkei, der Bosporus. Gegenwärtig hat sich dieser Brennpunkt, aus dem die Flamme des Weltkrieges emporlodern kann, vom Bosporus nach Asien, nach China verlegt. Die Zarenregierung kämpft jetzt mit Japan um die chinesische Haut, um dieselbe Haut, nach der es allen anderen Mächten gelüstet. Daher die Gefahr, dieser Krieg könnte früher oder später die ganze kapitalistische Welt in seinen Wirbel hineinziehen. Daher die Gefahr dieses Krieges für das gesamte internationale Proletariat, dessen Lebensinteressen gegen den Krieg und für die internationale Arbeitersolidarität gerichtet sind.
Aber welche Folgen dieser Krieg auch für das Los des Weltkapitals und für die Armee des Weltproletariats haben wird-, eins steht fest: dieser Krieg muß zum Grabe des Zarismus und zur Wiege der politischen Freiheit in Rußland werden. Der Zarismus fühlt dies und daher sein Schreck beim Ausbruch des Krieges. Daher war er auch bis zum letzten Augenblick so unentschlossen. Denn der ganze bisherige Verlauf der Ereignisse spricht dafür, daß die Zarenregierung mit einem Kriege nicht rechnete und unvorbereitet war.
Wenn die Zarenregierung bemüht ist, jetzt die ganze Schuld auf Japan abzuwälzen, so ist das eine in die Augen stechende Lüge. Abgesehen schon von solch augenscheinlichen Tatsachen wie der Besetzung der Mandschurei, dem Hinschleppen der Verhandlungen und der Konzentrierung von Panzerschiffen, Militär und Vorräten im Fernen Osten, drängte die Zarenregierung schon seit langem, von dem Augenblick an, als sie die sibirische Bahn zu bauen begann, zu diesem Kriege. War denn selbst der Plan dieser Bahn etwas anderes, als ein Vordringen Rußlands gegen China und Japan, als eine Vorbereitung zur Eroberung Asiens? Und obwohl der Zar den Krieg fürchtete, obwohl die zaristische Diplomatie darauf rechnete, daß Japan nicht den Mut zum Kriege haben werde, drängte doch die ganze Vergangenheit zu diesem Kriege, bis die Zarenregierung die Herrschaft über die von ihr geschaffene Situation verlor, bis der Krieg gegen ihren Willen unvermeidlich wurde. Infolge aller ihrer politischen Verbrechen war die Zarenregierung blind, wie jede Regierung im Zeitpunkt ihres endgültigen Niederganges. Sie hatte sich verrechnet, wie das der Anfang des Krieges zeigte, der Rußland unvorbereitet, unfähig zur Tat, infolge des Absolutismus, der Diebstähle, der Demoralisierung des Administrations- und Regierungsapparates innerlich fand, bankrott.
Seit langem schon hält sich der zaristische Absolutismus in Rußland selbst nur noch mit Hilfe wilder Gewalttätigkeit. Aber die inneren Gegensätze, welche die Regierung mit Hilfe von Knute und Kugel vor ihren Untertanen verheimlichen wollte, offenbaren sich mit der zunehmenden Schwächung des Staates immer deutlicher, wenn die Regierung gezwungen ist, einen Krieg nach außen zu führen. Dies zeigte sich schon im Jahre 1812, während des napoleonischen Krieges. Damals siegte Rußland nicht durch seine staatliche Macht, sondern durch sein Elend, durch das Fehlen der Verkehrswege, durch seine Fröste (1). Aber für die denkenden Russen wurde es schon damals klar, daß der Krieg den vollen Bankrott des zaristischen Systems aufgedeckt hatte. Dies führte zu dem im Blute der edelsten und tüchtigsten Russen ertränkten Dekabristenaufstande. Dafür rächte sich an der Zarenregierung der Krimkrieg 1854/1855. Dieser Krieg zerbrach die militärische Macht des Zarismus und überzeugte den Zaren von der Notwendigkeit innerer Reformen. Die Folge des Krimkrieges war die Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern und die sogenannte Ära der "liberalen" Reformen der sechziger Jahre. Der "siegreiche" Krieg gegen die Türkei 1877/1878 deckte aber wieder den Niedergang der Staatsmacht auf. Die russische Armee hatte damals keine moderne reguläre Armee gegen sich, sondern nur wilde asiatische Horden. Trotzdem war die militärische Macht des Zarismus so erschöpft, daß die Zarenregierung gezwungen war, sich den Beschlüssen des Berliner Kongresses unterzuordnen. Die Schwäche der Zarenregierung nach dem türkischen Kriege war so groß, daß die Handvoll Helden der "Narodnaja Wolja" es wagen konnten, den Kampf gegen den Absolutismus aufzunehmen, ihn bis in die Grundfesten zu erschüttern und fast zu stürzen.
1 Dieser Behauptung Rosa Luxemburgs stehen folgende Tatsachen
gegenüber: a) die Erhebung des russischen Volkes zum allgemeinen
Volkskampf;
b) die vernichtende Niederlage Napoleons bei Borodino und Malojarowslwez durch
die von Kutusow geführte Armee.
Dadurch und nicht durch das "Elend, durch das Fehlen der Verkehrswege, durch
seine Fröste" die eine nichtentscheidende Rolle spielten, siegte das
damalige Rußland.
Jetzt aber stehen der Zarenregierung ungleich ernstere Kämpfe - nach innen und außen - bevor. Nach außen mit Japan, das mit seinem 45-Millionen-Volke eine ganz andere Macht darstellt als die morsche Türkei mit ihrer schwachen Bevölkerung. Japan ist ein Land voller Macht und Lebensenergie, das viel gelernt hat, das eine moderne, gut bewaffnete Armee hat und das in den ersten Ereignissen dieses Krieges zeigte, daß es sie auch zu gebrauchen versteht. Und nach innen hin hat die Zarenregierung die breite Opposition der russischen Gesellschaft, sogar der Gutsbesitzer, die widerspenstige Bauernschaft, das Kleinbürgertum und die revolutionäre Sozialdemokratie gegen sich. Die russische Sozialdemokratie besitzt heute schon einen bedeutenden Einfluß auf die Arbeitermassen und auf die revolutionäre Intelligenz, und ihre unlängst auf dem II. Kongreß verwirklichte Vereinigung wird ihr die Möglichkeit geben, sich an die Spitze der revolutionären Bewegung gegen den Absolutismus zu stellen, mit Hilfe ihrer Kritik die revolutionäre Bourgeoisie vorwärtszudrängen, während sie selbst gleichzeitig den energischsten Schlag gegen die Zarenregierung führen wird. Der Absolutismus, gehaßt in Rußland und in der ganzen zivilisierten Welt, materiell ruiniert, durch die Bande der "Staatsdiebe" demoralisiert, von unfähigen Beamten, die ihn selbst in den Abgrund treiben, umgeben, muß in diesem Kriege ohne Rücksicht darauf, ob Japan gewinnt oder unterliegt, zugrunde gehen.
Aber deshalb muß auch die polnische proletarische Sozialdemokratie ihre Revolutionsenergie verdoppeln und verdreifachen. Nicht nur die Klasseninteressen der Arbeiter - die Ehre des polnischen Namens selbst liegt jetzt ausschließlich in den Händen der polnischen Arbeiter. Die polnische Gesellschaft ist heute der reaktionärste Teil Rußlands, die fast einzige moralische Stütze der zaristischen Alleinherrschaft. Während die russische bürgerliche Intelligenz offen gegen die Zarenregierung auftritt, wie dies die letzten Kongresse der russischen Ärzte und Techniker beweisen, steht die polnische bürgerliche Intelligenz, demoralisiert durch die "nationale" Prahlerei der Opportunisten, der Nationaldemokraten und der Sozialpatrioten abseits vom Kampfe gegen den Absolutismus. Während sogar das russische Bürgertum gegen die Regierung auftritt, küßt das polnische Bürgertum und der polnische Adel dem Zaren die Füße. Wie freute sich doch unsere "nationale" Presse, als die Mandschurei durch die Zarenregierung besetzt wurde und chinesische Kaufleute aus der Mandschurei in Warschau und in Lodz erschienen! Und während seit zehn Jahren die "PPS" und die Nationaldemokratie das ganze Volk belügen, das polnische Volk sei schon zum "Aufstande" bereit, es warte nur auf die Parole, während des Krieges werde die "PPS" Polen wiederaufbauen - gibt das polnische Volk immer noch kein revolutionäres Lebenszeichen von sich. Während schon in Rußland Volksdemonstrationen gegen die Regierung und gegen den Krieg stattfinden, ist es bei uns immer noch ruhig, und man hört nur die Sozialpatrioten auf dem Papier von dem revolutionären polnischen Volke schwätzen, das sich zum Kampfe "drängt". Jetzt, wo der Krieg den Bankrott nicht nur des Absolutismus sondern auch den Bankrott und die prahlerische Marktschreierei der PPS enthüllt, jetzt müssen die polnischen Arbeiter der Wahrheit in die Augen blicken, um zu erkennen, daß die sozialpatriotische Bewegung eine systematische Belügung aller war. Jetzt mehr als je ist den polnischen Arbeitern klare, nackte Wahrheit vonnöten, damit sie sich um so energischer dem allgemeinen Sturm auf die Zarenregierung anschließen.
"Czerwone Sztandar" (Die Rote Fahne),
Warschau, Februar 1904.
Aus dem Polnischen.
Letzte Änderung: 03. Jun. 2001, Adresse: /deutsch/rl/rlii183d.html