Teil 1


Rosa Luxemburg


Teil 3


II

"Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecken feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel... Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen... Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite."

Mit dieser Erklärung gab die Reichstagsfraktion am 4. August die Parole, welche die Haltung der deutschen Arbeiterschaft im Kriege bestimmen und beherrschen sollte. Vaterland in Gefahr, nationale Verteidigung, Volkskrieg um Existenz, Kultur und Freiheit - das war das Stichwort, das von der parlamentarischen Vertretung der

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Sozialdemokratie gegeben wurde. Alles andere ergab sich daraus als einfache Folge: die Haltung der Parteipresse und der Gewerkschaftspresse, der patriotische Taumel der Massen, der Burgfrieden, die plötzliche Auflösung der Internationale - alles war nur unvermeidliche Konsequenz der ersten Orientierung, die im Reichstag getroffen wurde.

Wenn es sich wirklich um die Existenz der Nation, um die Freiheit handelt, wenn diese nur mit dem Mordeisen verteidigt werden kann, wenn der Krieg eine heilige Volkssache ist - dann wird alles selbstverständlich und klar, dann muß alles in Kauf genommen werden. Wer den Zweck will, muß die Mittel wollen. Der Krieg ist ein methodisches, organisiertes, riesenhaftes Morden. Zum systematischen Morden muß aber bei normal veranlagten Menschen erst der entsprechende Rausch erzeugt werden. Dies ist seit jeher die wohlbegründete Methode der Kriegführenden. Der Bestialität der Praxis muß die Bestialität der Gedanken und der Gesinnung entsprechen, diese muß jene vorbereiten und begleiten. Alsdann sind der "Wahre Jacob" vom 28. August mit dem Bild des deutschen "Dreschers", die Parteiblätter in Chemnitz, Hamburg, Kiel, Frankfurt, Koburg und andere mit ihrer patriotischen Hetze in Poesie und Prosa das entsprechende und notwendige geistige Narkotikum für ein Proletariat, das nur noch seine Existenz und Freiheit retten kann, indem es das tödliche Eisen in die Brust russischer, französischer und englischer Brüder stößt. Jene Hetzblätter sind dann konsequenter als diejenigen, die Berg und Tal zusammenbringen, Krieg mit "Humanität", Morden mit Bruderliebe, Bewilligung von Mitteln zum Kriege mit sozialistischer Völkerverbrüderung vermählen wollen.

War aber die von der deutschen Reichstagsfraktion am 4. August ausgegebene Parole richtig, dann wäre damit über die Arbeiterinternationale das Urteil nicht nur für diesen Krieg, sondern überhaupt gesprochen. Zum ersten Male, seit die moderne Arbeiterbewegung besteht, gähnt hier ein Abgrund zwischen den Geboten der internationalen Solidarität der Proletarier und den Interessen der Freiheit und nationalen Existenz der Völker, zum ersten Male stehen wir vor der Entscheidung, daß Unabhängigkeit und Freiheit der Nationen gebieterisch erfordern, daß die Proletarier verschiedener Zungen einander niedermachen und ausrotten. Bisher lebten wir in der Überzeugung, daß Interessen der Nationen und Klasseninteressen der Proletarier sich harmonisch vereinigen, daß sie identisch sind, daß sie unmöglich in Gegensatz zueinander geraten können. Das war die Basis unserer Theorie und Praxis, die Seele unserer Agitation in den Volksmassen. Waren wir in diesem Kardinalpunkt unserer Weltanschauung in einem ungeheuren Irrtum befangen? Wir stehen vor der Lebensfrage des internationalen Sozialismus.

Der Weltkrieg ist nicht die erste Probe aufs Exempel unserer internationalen Grundsätze. Die erste Probe hat unsere Partei vor 45 Jahren bestanden. Damals am 21. Juli 1870 gaben Wilhelm Liebknecht und August Bebel die folgende historische Erklärung im Norddeutschen Reichstag ab:

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"Der gegenwärtige Krieg ist ein dynastischer Krieg, unternommen im Interesse der Dynastie Bonaparte, wie der Krieg von 1866 im Interesse der Dynastie Hohenzollern.

Die zur Führung des Krieges dem Reichstag abverlangten Geldmittel können wir nicht bewilligen, weil dies ein Vertrauensvotum für die preußische Regierung wäre, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet hat.

Ebensowenig können wir die geforderten Geldmittel verweigern, denn es könnte dies als Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes aufgefaßt werden.

Als prinzipielle Gegner jedes dynastischen Krieges, als Sozial-Republikaner und Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpft, alle Unterdrückten zu einem großen Bruderbunde zu vereinigen sucht, können wir uns weder direkt noch indirekt für den gegenwärtigen Krieg erklären und enthalten uns daher der Abstimmung, indem wir die zuversichtliche Hoffnung aussprechen, daß die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten werden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft als Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel zu beseitigen."

Mit dieser Erklärung stellten die Vertreter des deutschen Proletariats dessen Sache klar und unzweideutig unter das Zeichen der Internationale und sprachen dem Kriege gegen Frankreich den Charakter eines nationalen, freiheitlichen Krieges rundweg ab. Es ist bekannt, daß Bebel in seinen Lebenserinnerungen sagt, daß er gegen die Bewilligung der Anleihe gestimmt haben würde, wenn er bei der Abstimmung schon alles gewußt hätte, was erst in den nächsten Jahren bekanntgeworden ist.

In jenem Kriege also, den die gesamte bürgerliche Öffentlichkeit und die ungeheure Mehrheit des Volkes, damals, unter dem Einfluß der Bismarckschen Mache für ein nationales Lebensinteresse Deutschlands hielt, vertraten die Führer der Sozialdemokratie den Standpunkt: die Lebensinteressen der Nation und die Klasseninteressen des internationalen Proletariats sind eins, beide sind gegen den Krieg. Erst der heutige Weltkrieg, erst die Erklärung der sozialdemokratischen Fraktion vom 4. August 1914 deckten zum erstenmal das furchtbare Dilemma auf: hie nationale Freiheit - hie der internationale Sozialismus!

Nun, die fundamentale Tatsache in der Erklärung unserer Reichstagsfraktion, die grundsätzliche Neuorientierung der proletarischen Politik war jedenfalls eine ganz plötzliche Erleuchtung. Sie war einfaches Echo der Version der Thronrede und der Kanzlerrede am 4. August. "Uns treibt nicht Eroberungslust" - hieß es in der Thronrede -, "uns beseelt der unbeugsame Wille, den Platz zu bewahren, auf den Gott uns gestellt hat, für uns und alle kommenden Geschlechter. Aus den Schriftstücken, die Ihnen zugegangen sind, werden Sie ersehen, wie Meine

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Regierung und vor allem Mein Kanzler bis zum letzten Augenblick bemüht waren, das Äußerste abzuwenden. In aufgedrungener Notwehr, mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert." Und Bethmann Hollweg erklärte: "Meine Herren, wir sind jetzt in der Notwehr, und Not kennt kein Gebot... Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut... Wir kämpfen um die Früchte unserer friedlichen Arbeit, um das Erbe einer großen Vergangenheit und um unsere Zukunft." Das ist genau der Inhder sozialdemokratischen Erklärung: 1. wir haben alles getan, um den Frieden zu erhalten, der Krieg ist uns aufgezwungen worden von anderen, 2. nun der Krieg da ist, müssen wir uns verteidigen, 3. in diesem Kriege steht für das deutsche Volk alles auf dem Spiele. Die Erklärung unserer Reichstagsfraktion ist nur eine etwas andere Stilisierung der Regierungserklärungen. Wie diese auf die diplomatischen Friedensbemühungen Bethmann Hollwegs und auf kaiserliche Telegramme, beruft sich die Fraktion auf Friedensdemonstrationen der Sozialdemokraten vor dem Ausbruch des Krieges. Wie die Thronrede jede Eroberungslust weit von sich weist, so lehnt die Fraktion den Eroberungskrieg unter Hinweis auf den Sozialismus ab. Und wenn Kaiser und Kanzler rufen: Wir kämpfen um unser Höchstes! Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur noch Deutsche, so antwortet das Echo in der sozialdemokratischen Erklärung: Für unser Volk steht alles auf dem Spiele, wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Nur in einem Punkt weicht die sozialdemokratische Erklärung vom Regierungsschema ab: sie stellt in den Vordergrund der Orientierung den russischen Despotismus als die Gefahr für Deutschlands Freiheit. In der Thronrede hieß es in bezug auf Rußland bedauernd: "Mit schwerem Herzen habe ich meine Armee gegen einen Nachbar mobilisieren müssen, mit dem sie auf so vielen Schlachtfeldern gemeinsam gefochten hat. Mit aufrichtigem Leid sah ich eine von Deutschland treu bewahrte Freundschaft zerbrechen." Die sozialdemokratische Fraktion hat den schmerzlichen Bruch einer treu bewahrten Freundschaft mit dem russischen Zarismus in eine Fanfare der Freiheit gegen die Despotie umstilisiert, und so in dem einzigen Punkt, wo sie Selbständigkeit gegenüber der Regierungserklärung zeigt, revolutionäre Überlieferungen des Sozialismus gebraucht, um den Krieg demokratisch zu adeln, ihm eine volkstümliche Glorie zu schaffen.

Dies alles leuchtete der Sozialdemokratie, wie gesagt, ganz plötzlich am 4. August ein. Alles, was sie bis zu jenem Tage, was sie am Vorabend des Ausbruchs des Krieges sagte, war das gerade Gegenteil der Fraktionserklärung. So schrieb der "Vorwärts" am 25. Juli, als das österreichische Ultimatum an Serbien, an dem sich der Krieg entzündete, veröffentlicht wurde:

"Sie wollen den Krieg, die gewissenlosen Elemente, die in der Wiener Hofburg Einfluß haben und Ausschlag geben. Sie wollen den Krieg - aus dem wilden Geschrei der schwarzgelben Hetzpresse klang es seit Wochen heraus. Sie wollen den Krieg - das österreichische Ultimatum an Serbien macht es deutlich und aller Welt offenbar...

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Weil das Blut Franz Ferdinands und seiner Gattin unter den Schüssen eines irren Fanatikers geflossen ist, soll das Blut Tausender von Arbeitern und Bauern fließen, ein wahnwitziges Verbrechen soll von einem weit wahnwitzigeren Verbrechen übergipfelt werden!... Das österreichische Ultimatum Serbien kann der Fidibus sein, mit dem Europa an allen vier Ecken in Brand gesteckt wird!

Denn dieses Ultimatum ist in seiner Fassung wie in seinen Forderungen derart unverschämt, daß eine serbische Regierung, die demütig vor dieser Note zurückwiche, mit der Möglichkeit rechnen muß, von den Volksmassen zwischen Diner und Dessert davongejagt zu werden...

Ein Frevel der chauvinistischen Presse Deutschlands war es, den teuren Bundesgenossen in seinen Kriegsgelüsten auf das äußerste anzustacheln, und sonder Zweifel hat auch Herr v. Bethmann Hollweg Herrn Berchtold seine Rückendeckung zugesagt. Aber in Berlin spielt man dabei ein genau so gefährliches Spiel wie in Wien..."

Die "Leipziger Volkszeitung" schrieb am 24. Juli:

"Die österreichische Militärpartei ... setzt alles auf eine Karte, weil der nationale und militaristische Chauvinismus in keinem Lande der Welt etwas zu verlieren hat... In Österreich sind die chauvinistischen Kreise ganz besonders bankrott, ihr nationales Geheul soll ihren wirtschaftlichen Ruin verdecken und der Raub und Mord des Krieges ihre Kassen füllen..."

Die "Dresdner Volkszeitung" äußerte sich am gleichen Tage:

"... Vorläufig sind die Kriegstreiber am Wiener Ballplatz noch immer jene schlüssigen Beweise schuldig, die Österreich berechtigen würden, Forderungen an Serbien zu stellen.

Solange die österreichische Regierung dazu nicht in der Lage ist, setzt sie sich mit ihrer provokatorischen, beleidigenden Anrempelung Serbiens vor ganz Europa ins Unrecht, und selbst wenn die serbische Schuld erwiesen würde, wenn unter den Augen der serbischen Regierung das Attentat von Sarajewo vorbereitet worden wäre, gingen die in der Note gestellten Forderungen weit über alle normalen Grenzen hinaus. Nur die frivolsten Kriegsabsichten einer Regierung können ein solches Ansinnen an einen anderen Staat erklärlich machen ..."

Die "Münchener Post" meinte am 25. Juli:

"Diese österreichische Note ist ein Aktenstück, das in der Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte nicht seinesgleichen hat. Es stellt auf Grund von Untersuchungsakten, deren Inhder europäischen Öffentlichkeit bis jetzt vorenthalten wird, und ohne durch eine öffentliche Gerichtsverhandlung gegen die Mörder des Thronfolgerpaares gedeckt zu sein, Forderungen an Serbien, deren Annahme dem Selbstmord dieses Staates gleichkommt..."

Die "Schleswig-Holsteinsche Volkszeitung" erklärte am 24. Juli:

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"Österreich provoziert Serbien, Österreich-Ungarn will den Krieg, begeht ein Verbrechen, das ganz Europa in Blut ersäufen kann...

Österreich spielt va banque. Es wagt eine Provokation des serbischen Staates, die sich dieser, wenn er nicht ganz wehrlos sein sollte, sicher nicht gefallen läßt ...

Jeder Kulturmensch hat auf das entschiedenste gegen dieses verbrecherische Benehmen der österreichischen Machtbaber zu protestieren. Sache der Arbeiter vor allem und aller anderen Menschen, die für Frieden und Kultur auch nur das geringste übrig haben, muß es sein, das Äußerste zu versuchen, um die Folgen des in Wien ausgebrochenen Blutwahnsinns zu verhindern."

Die "Magdeburger Volksstimme" vom 25. Juli sagte:

"Eine jede serbische Regierung, die auch nur entfernt Miene machte, ernsthaft an eine dieser Forderungen heranzutreten, würde in derselben Stunde vom Parlament wie vom Volke hinweggefegt werden.

Das Vorgehen Österreichs ist um so verwerflicher, als die Berchtold mit leeren Behauptungen vor die serbische Regierung und damit vor Europa treten ..."

So kann man heute nicht mehr einen Krieg, der ein Weltkrieg würde, anzetteln. So kann man nicht vorgehen, wenn man nicht die Ruhe eines ganzen Weltteils stören will. So kann man keine moralischen Eroberungen machen oder die Unbeteiligten von dem eigenen Recht überzeugen. Es ist deshalb anzunehmen, daß die Presse Europas und danach die Regierungen die eitlen und übergeschnappten Wiener Staatsmänner energisch und unzweideutig zur Ordnung rufen werden."

Die "Frankfurter Volksstimme" schrieb am 24. Juli:

"Gestützt auf die Treibereien der ultramontanen Presse, die in Franz Ferdinand ihren besten Freund betrauerte und seinen Tod an dem Serbenvolke rächen wollte; gestützt auch auf einen Teil der reichsdeutschen Kriegshetzer, deren Sprache von Tag zu Tag drohender und gemeiner wurde, hat sich die österreichische Regierung dazu verleiten lassen, an das Serbenreich ein Ultimatum zu richten, das nicht nur in einer an Anmaßung nichts zu wünschen übriglassenden Sprache abgefaßt ist, sondern auch einige Forderungen enthält, deren Erfüllung der serbischen Regierung schlechterdings unmöglich ist."

Die "Elberfelder Freie Presse" schrieb am gleichen Tage:

"Ein Telegramm des offiziösen Wolffschen Büros gibt die österreichischen Forderungen an Serbien wieder. Daraus ist ersichtlich, daß die Machtbaber in Wien mit aller Gewalt zum Kriege drängen, denn was in der gestern abend in Belgrad überreichten Note verlangt wird, ist schon eine Art von Protektorat Österreichs über Serbien. Es wäre dringend vonnöten, daß die Berliner Diplomatie den Wiener Hetzern zu verstehen gäbe, daß Deutschland für die Unterstützung derartiger anmaßender Forderungen keinen Finger rühren kann und daß daher ein Zurückstecken der österreichischen Ansprüche geboten sei."

Und die "Bergische Arbeiterstimme" in Solingen:

"Österreich will den Konflikt mit Serbien und benutzt das Attentat von Sarajewo nur als Vorwand, um Serbien moralisch ins Unrecht zu setzen. Aber die Sache ist doch zu plump angefangen worden, als daß die Täuschung der öffentlichen Meinung Europas gelingen könnte...

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Wenn aber die Kriegshetzer des Wiener Ballplatzes etwa glauben, daß ihnen bei einem Konflikt, in den auch Rußland hineingezogen würde, die Dreibundsgenossen Italien und Deutschland zu Hilfe kommen müßten, so geben sie sich leeren Illusionen hin. Italien wäre eine Schwächung Österreich-Ungarns, des Konkurrenten in der Adria und auf dem Balkan, sehr gelegen, und es wird sich deshalb nicht die Finger verbrennen, Österreich zu unterstützen. In Deutschland aber dürfen es die Machtbaber - selbst wenn sie so töricht wären, es zu wollen - nicht wagen, das Leben eines einzigen Soldaten für die verbrecherische Machtpolitik der Habsburger aufs Spiel zu setzen, ohne den Volkszorn gegen sich heraufzubeschwören."

So beurteilte unsere gesamte Parteipresse ohne Ausnahme den Krieg noch eine Woche vor seinem Ausbruch. Danach handelte es sich nicht um die Existenz und um die Freiheit Deutschlands, sondern um ein frevelhaftes Abenteuer der österreichischen Kriegspartei, nicht um Notwehr, nationale Verteidigung und aufgedrungenen heiligen Krieg im Namen der eigenen Freiheit, sondern um frivole Provokation, um unverschämte Bedrohung fremder, serbischer Selbständigkeit und Freiheit.

Was geschah am 4. August, um diese so scharf ausgeprägte, so allgemein verbreitete Auffassung der Sozialdemokratie plötzlich auf den Kopf zu stellen? Nur eine neue Tatsache trat hinzu: das am gleichen Tage von der deutschen Regierung dem Reichstag vorgelegte Weißbuch. Und dieses enthielt auf S. 4:

"Unter diesen Umständen mußte Österreich sich sagen, daß es weder mit der Würde noch mit der Selbsterhaltung der Monarchie vereinbar wäre, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen. Die K. u. K. Regierung benachrichtigte uns von dieser Auffassung und erbat unsere Ansicht. Aus vollem Herzen konnten wir unserem Bundesgenossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben und ihm versichern, daß eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu machen, unsere Billigung finden würde. Wir waren uns hierbei wohl bewußt, daß ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien Rußland auf den Plan bringen und uns hiermit unserer Bundespflicht entsprechend in einen Krieg verwickeln könnte. Wir konnten aber in der Erkenntnis der vitalen Interessen Österreich-Ungarns, die auf dem Spiele standen, unserem Bundesgenossen weder zu einer mit seiner Würde nicht zu vereinbarenden Nachgiebigkeit raten, noch auch ihm unseren Beistand in diesem schweren Moment versagen. Wir konnten dies um so weniger, als auch unsere Interessen durch die andauernde serbische Wühlarbeit auf das empfindlichste bedroht waren. Wenn es den Serben mit Rußlands und Frankreichs Hilfe noch länger gestattet geblieben wäre, den Bestand der Nachbarmonarchie zu gefährden, so würde dies den allmählichen Zusammenbruch Österreichs und eine Unterwerfung des gesamten Slawentums unter russisches Zepter zur Folge haben, wodurch die Stellung der germanischen Rasse in Mitteleuropa unhaltbar würde. Ein moralisch geschwächtes, durch das Vordringen des russischen Panslawismus

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zusammenbrechendes Österreich wäre für uns kein Bundesgenosse mehr, mit dem wir rechnen könnten und auf den wir uns verlassen könnten, wie wir es angesichts der immer drohender werdenden Haltung unserer östlichen und westlichen Nachbarn müssen. Wir ließen daher Österreich völlig freie Hand in seiner Aktion gegen Serbien. Wir haben an den Vorbereitungen dazu nicht teilgenommen."

Diese Worte lagen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 4. August vor, Worte, die die einzig wichtige ausschlaggebende Stelle des ganzen Weißbuchs ausmachen, bündige Erklärungen der deutschen Regierung, neben denen alle übrigen Gelb-, Grau-, Blau- und Orangebücher für die Aufklärung der diplomatischen Vorgeschichte des Krieges und ihrer nächsten treibenden Kräfte völlig belanglos und gleichgültig sind. Hier hatte die Reichstagsfraktion den Schlüssel zur Beurteilung der Situation in der Hand. Die gesamte sozialdemokratische Presse schrie eine Woche vorher, daß das österreichische Ultimatum eine verbrecherische Provokation des Weltkrieges wäre, und hoffte auf die hemmende, mäßigende Einwirkung der deutschen Regierung auf die Wiener Kriegshetzer. Die gesamte Sozialdemokratie und die gesamte deutsche Öffentlichkeit war überzeugt, daß die deutsche Regierung seit dem österreichischen Ultimatum im Schweiße ihres Angesichts für die Erhaltung des europäischen Friedens arbeitete. Die gesamte sozialdemokratische Presse nahm an, daß dieses Ultimatum für die deutsche Regierung genau so ein Blitz aus heiterem Himmel war, wie für die deutsche Öffentlichkeit. Das Weißbuch erklärte nun klipp und klar: 1. daß die österreichische Regierung vor ihrem Schritt gegen Serbien Deutschlands Einwilligung eingeholt hatte; 2. daß die deutsche Regierung sich vollkommen bewußt war, daß das Vorgehen Österreichs zum Kriege mit Serbien und im weiteren Verfolg zum europäischen Kriege führen würde; 3. daß die deutsche Regierung Österreich nicht zur Nachgiebigkeit riet, sondern umgekehrt erklärte, daß ein nachgiebiges, geschwächtes Österreich kein würdiger Bundesgenosse mehr für Deutschland sein könnte; 4. daß die deutsche Regierung Österreich vor dessen Vorgehen gegen Serbien auf alle Fälle den Beistand im Kriege fest zugesichert hatte, und endlich 5. daß die deutsche Regierung sich bei alledem die Kontrolle über das entscheidende Ultimatum Österreichs an Serbien, an dem der Weltkrieg hing, nicht vorbehalten, sondern Österreich "völlig freie Hand gelassen hatte".

Dies alles erfuhr unsere Reichstagsfraktion am 4. August. Und noch eine neue Tatsache erfuhr sie aus dem Munde der Regierung am gleichen Tage: daß die deutschen Heere bereits in Belgien einmarschiert waren. Aus alledem schloß die sozialdemokratische Fraktion, daß es sich um einen Verteidigungskrieg Deutschlands gegen eine fremde Invasion, um die Existenz des Vaterlandes, um Kultur und einen Freiheitskrieg gegen den russischen Despotismus handle.

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Ebert und Scheidemann im deutschen Hauptquartier
Ebert und Scheidemann im deutschen Hauptquartier

Konnte der deutsche Hintergrund des Krieges und die ihn notdürftig verdeckende Kulisse, konnte das ganze diplomatische Spiel, das den Kriegsausbruch umrankte, das Geschrei von der Welt von Feinden, die alle Deutschland nach dem Leben trachten, es schwächen, erniedrigen, unterjochen wollen, konnte das alles für die deutsche Sozialdemokratie eine Überraschung sein, an ihr Urteilsvermögen, an ihren kritischen Scharfsinn zu hohe Anforderungen stellen? Gerade für unsere Partei am allerwenigsten! Zwei große deutsche Kriege hatte sie bereits erlebt und aus beiden denkwürdige Lehren schöpfen können.

Jeder Abc-Schütze der Geschichte weiß heute, daß der erste Krieg von 1866 gegen Österreich von Bismarck planmäßig von langer Hand vorbereitet war, daß seine Politik von der ersten Stunde an zum Bruch, zum Krieg mit Österreich führte. Der Kronprinz und nachmalige Kaiser Friedrich selbst hat in seinem Tagebuch unter dem 14. November jenes Jahres diese Absicht des Kanzlers niedergeschrieben:
"Er (Bismarck) habe bei Übernahme seines Amtes den festen Vorsatz gehabt, Preußen zum Krieg mit Österreich zu bringen, aber sich wohl gehütet, damals oder überhaupt zu früh mit Seiner Majestät davon zu sprechen, bis er den Zeitpunkt für geeignet angesehen."

"Mit dem Bekenntnis" - sagt Auer in seiner Broschüre "Die Sedanfeier und die Sozialdemokratie" - "vergleiche man nun den Wortlaut des Aufrufs, den König Wilhelm, an sein Volk' richtete:

Das Vaterland ist in Gefahr!
Österreich und ein großer Teil Deutschlands steht gegen dasselbe in Waffen!
Nur wenige Jahre sind es her, seit ich aus freiem Entschlusse und ohne früherer Unbill zu gedenken, dem Kaiser von Österreich die Bundeshand reichte, als es galt, ein deutsches Land von fremder Herrschaft zu befreien. - - Aber Meine Hoffnung ist getäuscht worden. Österreich will nicht vergessen, daß seine Fürsten einst Deutschland beherrschten: in dem jüngeren, aber kräftig sich entwickelnden Preußen will es keinen natürlichen Bundesgenossen, sondern nur einen feindlichen Nebenbuhler erkennen. Preußen - so meint es - muß in allen seinen Bestrebungen bekämpft werden, weil, was Preußen frommt, Österreich schade. Die alte unselige Eifersucht ist in hellen Flammen wieder aufgelodert: Preußen soll geschwächt, vernichtet, entehrt werden. Ihm gegenüber gelten keine Verträge mehr, gegen Preußen werden deutsche Bundesfürsten nicht bloß aufgerufen, sondern zum Bundesbruch verleitet. Wohin wir in Deutschland schauen, sind wir von Feinden umgeben, deren Kampfgeschrei ist: Erniedrigung Preußens.

Um für diesen gerechten Krieg den Segen des Himmels zu erflehen, erließ König Wilhelm für den 18. Juni die Anordnung eines allgemeinen Landes-Bet- und Bußtages, worin er sagte: ,Es hat Gott nicht gefallen, Meine Bemühungen, die Segnungen des Friedens Meinem Volke zu erhalten, mit Erfolg zu krönen.'"

Mußte unserer Fraktion, wenn sie ihre eigene Parteigeschichte nicht gänzlich vergessen hatte, die offizielle Begleitmusik des Kriegsausbruchs am 4. August nicht wie eine lebhafte Erinnerung an längst bekannte Melodien und Worte vorkommen?

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Aber nicht genug. Im Jahre 1870 folgte der Krieg mit Frankreich, und mit dessen Ausbruch ist in der Geschichte ein Dokument unauflöslich verknüpft: die Emser Depesche, ein Dokument, das für alle bürgerliche Staatskunst im Kriegmachen ein klassisches Erkennungswort geworden ist und das auch eine denkwürdige Episode in der Geschichte unserer Partei bezeichnet. Es war ja der alte Liebknecht, es war die deutsche Sozialdemokratie, die damals für ihre Aufgabe und ihre Pflicht hielt, aufzudecken und den Volksmassen zu zeigen: "Wie Kriege gemacht werden."

Das "Kriegmachen" einzig und allein zur Verteidigung des bedrohten Vaterlandes war übrigens nicht Bismarcks Erfindung. Er befolgte nur mit der ihm eigenen Skrupellosigkeit ein altes, allgemeines, wahrhaft internationales Rezept der bürgerlichen Staatskunst. Wann und wo hat es denn einen Krieg gegeben, seit die sogenannte öffentliche Meinung bei den Rechnungen der Regierungen eine Rolle spielt, in dem nicht jede kriegführende Partei einzig und allein zur Verteidigung des Vaterlandes und der eigenen gerechten Sache vor dem schnöden Überfall des Gegners schweren Herzens das Schwert aus der Scheide zog? Die Legende gehört so gut zum Kriegführen wie Pulver und Blei. Das Spiel ist alt. Neu ist nur, daß eine sozialdemokratische Partei an diesem Spiel teilgenommen hat.

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Letzte Änderung: 03. Apr. 2001, Adresse: /deutsch/rlj2d.html