Inhalt


Kapitel 1


Hintergrund und Anmerkungen zu
Rosa Luxemburgs Broschüre "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften"

Die opportunistischen Führer der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands standen dem großen historischen Ereignis der ersten russischen Revolution verständnislos und mit innerer Ablehnung gegenüber. Die großen Massenstreiks der russischen Arbeiterklasse, die in den Dezemberaufstand 1905 mündeten, waren für sie schon damals "rein russische Erscheinungen", aus denen die deutschen Arbeiter nach der Auffassung dieser sonderbaren Führer nichts zu lernen hätten. Namentlich für die Gewerkschaftsführer, die auf dem Kölner Gewerkschaftskongreß 1905 den Massenstreik abgelehnt hatten, war der Generalstreik - Generalunsinn. Die Partei hatte zwar auf ihrem Parteitag in Jena im gleichen Jahre dem Massenstreik als Kampfmittel zugestimmt, aber auch nur als Defensivmittel, "namentlich im Falle eines Anschlages auf das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht oder das Koalitionsrecht", und hatte den Ausdruck "Massenstreik" schamhaft durch "Massenarbeitseinstellung" ersetzt. (1) Rosa Luxemburg nahm auf Grund der Erfahrungen der ersten russischen Revolution die Debatte wieder auf und schrieb ihre Broschüre "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften".


1 "Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Jena vom 17. bis 23. September 1905", S. 143.

In dieser Broschüre geht Rosa Luxemburg von der Feststellung aus, daß die russische Revolution die Frage des Massenstreiks auf neue Art gestellt hat. Die russische Revolution, schrieb Rosa Luxemburg, "hat zum ersten Male in der Geschichte der Klassenkämpfe eine grandiose Verwirklichung der Idee des Massenstreiks und ... selbst des Generalstreiks gezeitigt und damit eine neue Epoche in der Entwicklung der Arbeiterbewegung eröffnet".

Da auch die sozialdemokratische und besonders die Gewerkschaftspresse in Deutschland den Verlauf der revolutionären Massenkämpfe in Rußland weitgehend totgeschwiegen hatte, gab Rosa Luxemburg eine ausführliche Schilderung der Massenstreikbewegung in Rußland, in der man den Hauch der Revolution zu spüren vermag, den sie in Warschau eingeatmet hatte. Sie weist an Hand der Entwicklung nach, daß die Durchführung großer Massenstreikbewegungen keineswegs mächtige Gewerkschaftsorganisationen und gefüllte Gewerkschaftskassen zur Voraussetzung hat, wie sich das die engstirnigen deutschen Gewerkschaftsbeamten vorstellten. Es ist auch nicht so, daß der Massenstreik die Gewerkschaften in ihrer Existenz bedroht, wie die um ihre Posten bangenden gleichen Beamten fürchteten, sondern gerade aus der Massenstreikbewegung entstehen starke und einflußreiche Gewerkschaften. "Die festen Organisationen", die als unbedingte Voraussetzung für einen eventuellen Versuch zu einem eventuellen deutschen Massenstreik im voraus wie eine uneinnehmbare Festung umschanzt werden sollen, diese Organisationen werden in Rußland gerade umgekehrt aus dem Massenstreik geboren! Und während die Hüter der deutschen Gewerkschaften am meisten befürchten, daß die Organisationen in einem revolutionären Wirbel wie kostbares Porzellan krachend in Stücke gehen, zeigt uns die russische Revolution das direkt umgekehrte Bild: aus dem Wirbel und Sturm, aus Feuer und Glut der Massenstreiks, der Straßenkämpfe steigen empor wie die Venus aus dem Meerschaum: frische, junge, kräftige und lebensfrohe ... Gewerkschaften."

Polizeifoto von Rosa Luxemburg, Warschau 1906
Polizeifoto von Rosa Luxemburg, Warschau 1906

Rosa Luxemburg weist auf Grund zahlreicher konkreter Tatsachen nach, daß gerade die Massenstreikbewegung den Erfolg der Arbeiterklasse sichert. "Im eigentlichen Rußland wurde der Achtstundentag erobert." Zahlreiche andere wirtschaftliche Forderungen der Arbeiter wurden verwirklicht.

Das Entscheidende aber, so betont Rosa Luxemburg, ist die Entwicklung des Klassenbewußtseins der Proletarier durch diese Kämpfe. "Das Kostbarste, weil bleibende, bei diesem scharfen revolutionären Auf und Ab der Welle ist ihr geistiger Niederschlag: das sprungweise intellektuelle, kulturelle Wachstum des Proletariats, das eine unverbrüchliche Gewähr für sein weiteres unaufhaltsames Fortschreiten im wirtschaftlichen wie im politischen Kampfe bietet."

Der Kern der Ausführungen Rosa Luxemburgs besteht in der Auswertung der Erfahrungen der ersten russischen Revolution für die deutsche Arbeiterbewegung. Sie räumt gründlich mit der Ansicht auf, die russischen Erfahrungen hätten den deutschen Arbeitern nichts zu sagen, weil in Rußland ganz andere Verhältnisse bestanden hätten als in Deutschland. Es liegt viel Übertreibung in der Vorstellung, schreibt Rosa Luxemburg, "als habe der Proletarier im Zarenreich vor der Revolution durchweg auf dem Lebensniveau eines Paupers gestanden. Gerade die jetzt im ökonomischen wie im politischen Kampfe tätigste und eifrigste Schicht der großindustriellen großstädtischen Arbeiter stand in bezug auf ihr materielles Lebensniveau kaum viel tiefer als die entsprechende Schicht des deutschen Proletariats, und in manchen Berufen kann man in Rußland gleiche, ja hier und da selbst höhere Löhne finden als in Deutschland. Auch in bezug auf die Arbeitszeit wird der Unterschied zwischen den großindustriellen Betrieben hier und dort kaum ein bedeutender sein. Somit sind die Vorstellungen, die mit einem vermeintlichen materiellen und kulturellen Helotentum der russischen Arbeiterschaft rechnen, ziemlich aus der Luft gegriffen."

Der Kontrast zwischen dem russischen und dem deutschen Arbeiter wird noch geringer, sagt Rosa Luxemburg, wenn man das tatsächliche Lebensniveau der untersten Schichten der deutschen Arbeiter betrachtet, das Bergarbeiterelend, das Textilarbeiterelend, das Heimarbeiterelend, das Konfektionsarbeiterelend, das glänzende Elend der Eisenbahn- und Postangestellten usw., ganz zu schweigen vom Landarbeiterelend - alles Schichten, deren Lebenshaltung im kaiserlichen Deutschland zum Teil unter dem Niveau ihrer Leidensgenossen im zaristischen Rußland lag. "Bereits in dem großen Oktoberstreik 1905 stand der russische Eisenbahner in dem noch formell absolutistischen Rußland in bezug auf seine wirtschaftliche und soziale Bewegungsfreiheit turmhoch über dem deutschen." Und Rosa Luxemburg kommt zu dem Schluß: "Bei näherem Zusehen sind sämtliche ökonomischen Kampfobjekte des russischen Proletariats in der jetzigen Revolution auch für das deutsche Proletariat höchst aktuell und berühren lauter wunde Stellen des Arbeiterdaseins.

Daraus ergibt sich vor allem, daß der reine politische Massenstreik, mit dem man vorzugsweise operiert, auch für Deutschland ein bloßes lebloses theoretisches Schema ist. Werden die Massenstreiks aus einer starken revolutionären Gärung sich auf natürlichem Wege als ein entschlossener politischer Kampf der städtischen Arbeiterschaft ergeben, so werden sie ebenso natürlich, genau wie in Rußland, in eine ganze Periode elementarer ökonomischer Kämpfe umschlagen. Die Befürchtungen also der Gewerkschaftsführer, als könnte der Kampf um die ökonomischen Interessen in einer Periode stürmischer politischer Kämpfe, in einer Periode der Massenstreiks, einfach auf die Seite geschoben und erdrückt werden, beruhen auf einer ganz in der Luft schwebenden schulmäßigen Vorstellung von dem Gang der Dinge. Eine revolutionäre Periode würde vielmehr auch in Deutschland den Charakter des gewerkschaftlichen Kampfes ändern und ihn dermaßen potenzieren, daß der heutige Guerillakrieg der Gewerkschaften dagegen ein Kinderspiel sein wird. Und andrerseits würde aus diesem elementaren ökonomischen Massenstreikgewitter auch der politische Kampf immer wieder neue Anstöße und frische Kräfte schöpfen. Die Wechselwirkung zwischen ökonomischem und politischem Kampf, die die innere Triebfeder der heutigen Massenstreiks in Rußland und zugleich sozusagen den regulierenden Mechanismus der revolutionären Aktion des Proletariats bildet, würde sich ebenso naturgemäß auch in Deutschland aus den Verhältnissen selbst ergeben."

Diese Ausführungen Rosa Luxemburgs lassen ihre utopische Theorie der Revolution erkennen, denn die Geschichte hat bewiesen, daß der reine politische Massenstreik keineswegs "ein bloßes lebloses theoretisches Schema" ist, sondern ein wichtiges Kampfmittel des Proletariats auf einer bestimmten Entwicklungsstufe. Dies bewiesen zum Beispiel der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920 und der Streik gegen die Cuno-Regierung 1923. Die Unterschätzung des politischen Massenstreiks hat Rosa Luxemburg auch 1918 zu schwerwiegenden Fehlern verleitet, von denen später die Rede sein wird.

Gleichzeitig zeigen die Ausführungen Rosa Luxemburgs aber auch, wie sie sich bemühte, die stickige Atmosphäre zu reinigen, die damals bereits in der deutschen Arbeiterbewegung herrschte. Mit allem Nachdruck wandte sie sich gegen die Gewerkschaftsbürokratie, die auf dem Standpunkt stand, daß der Massenstreik die restlose Organisierung des Proletariats voraussetze, daß er aber, wenn diese erreicht ist, nicht mehr nötig sei. "Die Verhältnisse, die Bedingungen der kapitalistischen Entwicklung und des bürgerlichen Staates bringen es aber mit sich, daß bei dem ,normalen' Verlauf der Dinge, ohne stürmische Klassenkämpfe, bestimmte Schichten und zwar gerade das Gros die wichtigsten, die tiefststehenden, die vom Kapital und vom Staate am meisten gedrückten Schichten des Proletariats - eben gar nicht organisiert werden können." Daher sei die Gewinnung der unorganisierten Massen für den Kampf eine entscheidende Aufgabe. "Der Plan, Massenstreiks als ernste politische Klassenaktion bloß mit Organisierten zu unternehmen, ist überhaupt ein gänzlich hoffnungsloser. Soll der Massenstreik, oder vielmehr sollen die Massenstreiks, soll der Massenkampf einen Erfolg haben, so muß er zu einer wirklichen Volksbewegung werden, d.h. die breitesten Schichten des Proletariats mit in den Kampf ziehen."

Rosa Luxemburg unterzieht die russischen Erfahrungen auch vom Standpunkt der Leitung des Massenstreiks einer Analyse und kommt dabei dicht an das Verständnis der führenden Rolle der Partei heran, wenn sie schreibt: "Die Sozialdemokratie ist die aufgeklärteste, klassenbewußteste Vorhut des Proletariats. Sie kann und darf nicht mit verschränkten Armen fatalistisch auf den Eintritt der ,revolutionären Situation' warten, darauf warten, daß jene spontane Volksbewegung vom Himmel fällt. Im Gegenteil, sie muß, wie immer, der Entwicklung der Dinge vorauseilen, sie zu beschleunigen suchen." Leider blieb auch hier Rosa Luxemburg auf halbem Wege stehen, um sogleich wieder auf den Pfad ihrer Spontaneitätstheorie umzuschwenken.

Rosa Luxemburg verstand sehr gut, daß der Massenstreik ein wichtiges Kampfmittel der Arbeiterklasse um ihre politische Herrschaft darstellt. Sie weist deshalb in ihrer Schrift auch auf die große historische Aufgabe hin, auf die sich vorzubereiten die oberste Pflicht des Proletariats ist. "Gerade weil die bürgerliche Rechtsordnung in Deutschland längst besteht, weil sie also Zeit hatte, sich gänzlich zu erschöpfen und auf die Neige zu gehen, weil die bürgerliche Demokratie und der Liberalismus Zeit hatten, auszusterben, kann von einer bürgerlichen Revolution in Deutschland nicht mehr die Rede sein. Und deshalb kann es sich bei einer Periode offener politischer Volkskämpfe in Deutschland als letztes geschichtlich notwendiges Ziel nur noch um die Diktatur des Proletariats handeln."

Es war nicht richtig, wie es Rosa Luxemburg in diesen Zeilen tat, die Notwendigkeit der bürgerlichen Revolution in Deutschland zu verneinen, denn ihre Aufgaben waren damals noch nicht gelöst. Die Aufgabe der Arbeiterklasse bestand darin, die 1848 begonnene demokratische Erneuerung Deutschlands, das heißt die bürgerliche Revolution zu Ende zu führen und sie in die sozialistische Revolution hinüberzuleiten. Weil Rosa Luxemburg die Taktik der Bolschewiki 1905 nicht verstanden hatte, vermochte sie auch die Aufgabe der deutschen Revolution nicht klar zu erkennen. Da die deutsche Arbeiterklasse auch später, 1918, kein klares Programm der Revolution hatte und keine Partei besaß, blieb die Novemberrevolution eine bürgerliche Revolution.

Wie hoch Rosa Luxemburg trotz dieses Irrtums mit ihrer Auffassung über dem damaligen politischen Niveau der deutschen Sozialdemokratie stand, zeigt sie selbst auf, indem sie eine Resolution anführt, die am 10. September 1906 in einer Parteiversammlung in Mainz auf Antrag des Opportunisten Dr. David angenommen wurde. In dieser Resolution hieß es:

"In der Erwägung, daß die Sozialdemokratische Partei den Begriff ,Revolution' nicht im Sinne des gewaltsamen Umsturzes, sondern im friedlichen Sinne der Entwicklung, d. h. der allmählichen Durchsetzung eines neuen Wirtschaftsprinzips auffaßt, lehnt die Mainzer öffentliche Parteiversammlung jede ,Revolutionsromantik' ab.

Die Versammlung sieht in der Eroberung der politischen Macht nichts anderes als die Eroberung der Mehrheit des Volkes für die Ideen und Forderungen der Sozialdemokratie; eine Eroberung, die nicht geschehen kann mit gewaltsamen Mitteln, sondern nur durch die Revolutionierung der Köpfe auf dem Wege der geistigen Propaganda und der praktischen Reformarbeit auf allen Gebieten des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens."

Diese Resolution zeigt gleichsam im Scheinwerferlicht, wie sehr damals die deutsche Sozialdemokratie bereits im opportunistischen Sumpfe versunken und nach dem Rezept Bernsteins eine bürgerliche Reformpartei geworden war.

Es ist bereits aufgezeigt worden, daß im Jahre 1905 der Kölner Gewerkschaftskongreß den Massenstreik abgelehnt, der Jenaer Parteitag ihn aber (wenn auch sehr bedingt) angenommen hatte. Die Frage des Massenstreiks war damit also zugleich die Frage des Verhältnisses zwischen Partei und Gewerkschaften. Die Opportunisten verfochten die Theorie der Neutralität der Gewerkschaften gegenüber der Partei, das "Nur-Gewerkschaftlertum". Rosa Luxemburg wandte sich mit aller Schärfe gegen diese Auffassung. Sie wies darauf hin, daß die deutschen Gewerkschaften ihre Stärke gerade der engen Verbindung mit der Sozialdemokratie verdanken, daß in den Augen der breiten Massen die Sozialdemokratie und die freien Gewerkschaften eins sind. "So wirkt alles dahin, dem klassenbewußten Durchschnittsarbeiter das Gefühl zu geben, daß er, indem er sich gewerkschaftlich organisiert, dadurch auch seiner Arbeiterpartei angehört, sozialdemokratisch organisiert ist. Und darin liegt eben die eigentliche Werbekraft der deutschen Gewerkschaften. Nicht dank dem Schein der Neutralität, sondern dank der sozialdemokratischen Wirklichkeit ihres Wesens, haben es die Zentralverbände vermocht, ihre heutige Stärke zu erreichen." Rosa weist am Beispiel der Gewerkschaften Englands nach, wohin eine Entfremdung zwischen Partei und Gewerkschaften führen muß, und kommt in bezug auf Deutschland zu dem Ergebnis: "Der wichtigste Schluß aus den angeführten Tatsachen ist der, daß die für die kommenden Massenkämpfe in Deutschland unbedingt notwendige völlige Einheit der gewerkschaftlichen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung tatsächlich vorhanden ist, und zwar ist sie verkörpert in der breiten Masse, die gleichzeitig die Basis der Sozialdemokratie wie der Gewerkschaften bildet und in deren Bewußtsein beide Seiten der Bewegung zu einer geistigen Einheit verschmolzen sind. Der angebliche Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften schrumpft bei dieser Sachlage zu einem Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie und einem gewissen Teil der Gewerkschaftsbeamten zusammen, der aber zugleich ein Gegensatz innerhalb der Gewerkschaften zwischen diesem Teil der Gewerkschaftsführer und der gewerkschaftlich organisierten proletarischen Masse ist."

Rosa Luxemburg hat dabei freilich verkannt, daß der gleiche Gegensatz innerhalb der Sozialdemokratischen Partei selbst bestand. Der opportunistische Standpunkt der "Neutralität" der Gewerkschaften, das heißt des Nur-Gewerkschaftlertums, wurde auch von namhaften Führern der Partei eingenommen, unter denen sich auch Bebel befand. Die Anbetung der Spontaneität, das Unverständnis für die führende Rolle der Partei hinderten Rosa Luxemburg daran, die volle Größe der Gefahr zu erkennen, die in der opportunistischen Versumpfung der Führung bestand, der die Massen ausgeliefert waren. Weil die linken Sozialdemokraten eine Spaltung fürchteten und Angst hatten, die revolutionären Losungen bis zu Ende auszusprechen (Lenin), darum blieben die revolutionären Massen führerlos, darum nützte die angeblich vorhandene "völlige Einheit der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Arbeiterbewegung" unten gar nichts, sie vermochte nicht, die deutsche sozialistische Bewegung vor der Katastrophe zu bewahren.

Die Anbetung der spontanen Bewegung und die Verneinung der führenden Rolle der Partei hat in Rosa Luxemburgs Broschüre "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" breiten Ausdruck gefunden. In der ganzen imposanten Schilderung der russischen Massenstreikbewegung 1905 spielt die Partei fast gar keine Rolle. Rosa Luxemburg vermerkt mit geradezu peinlicher Genauigkeit den spontanen Charakter der einzeln Streiks und gibt nur in seltenen Fällen zu, daß sozialdemokratische Parteiorganisationen die Streiks leiteten. Sie ist dabei die Gefangene ihrer falschen Organisationstheorie, nach der sich die Arbeiterbewegung spontan zu entwickeln hat. "In den Massenstreiks in Rußland spielte das Element des Spontanen eine so vorherrschende Rolle" - schreibt sie "nicht weil das russische Proletariat ,ungeschult' ist, sondern weil sich Revolutionen nicht schulmeistern lassen." Wir wissen daß das Element des Spontanen in der ersten russischen Revolution keineswegs eine so vorherrschende Rolle spielte. Von Anfang an, bereits in den Vorbereitung des 9. Januar, waren die Bolschewiki aktiv an den Beratungen der Petition an den Zaren beteiligt und gaben der Bewegung dadurch konkrete Ziele. Die Petition wurde in Arbeiterversammlungen erörtert, es wurden Verbesserungen und Abänderungen an ihr vorgenommen. In diesen Versammlungen traten auch Bolschewiki auf, ohne sich offen als Bolschewiki zu bezeichnen. Unter ihrem Einfluß wurden in die Petition Forderungen aufgenommen, wie Presse- und Redefreiheit, Freiheit der Arbeiterverbände, Einberufung einer Konstituierenden Versammlung zur Abänderung der Staatsordnung Rußlands, Gleichheit aller vor dem Gesetz, Trennung der Kirche vom Staat, Beendigung des Krieges, Einführung des achtstündigen Arbeitstages, Übergabe des Bodens an die Bauern. Und im ganzen weiteren Verlauf der Revolution spielten die Parteikomitees der Bolschewiki eine hervorragende, führende Rolle. Sie organisierten und führten die Massenstreiks und die bewaffneten Kämpfe. Rosa Luxemburg stellte ja selbst ("Was weiter") im Feuer der Revolution die Aufgabe "der möglichst guten Bewaffnung der fortgeschrittensten Kämpfer, der Ausarbeitung der Pläne und der Bedingungen für den Straßenkampf ..." Nachdem sie Polen verlassen hatte, fiel Rosa leider in ihren alten Fehler zurück und versperrte sich damit das volle Verständnis für die Lehren der russischen Revolution. Sie wollte nun der Partei lediglich die politische, nicht aber die organisatorische Führung der Massenkämpfe zubilligen. Leugnete Rosa Luxemburg damit tatsächlich die führende Rolle der Partei in der Revolution, so verneinte sie sie erst recht für die Zeit der "friedlichen" Entwicklung. In der zweiten Auflage ihrer Broschüre schrieb sie über die Aufgabe der angestellten Parteisekretäre der SPD: "Diese Schattenseiten des Beamtentums bergen sicherlich auch für die Partei bedeutende Gefahren in sich, die sich aus der jüngsten Neuerung, aus der Anstellung der lokalen Parteisekretäre, sehr leicht ergeben können, wenn die sozialdemokratische Masse nicht darauf bedacht sein wird, daß die genannten Sekretäre reine Vollziehungsorgane bleiben und nicht etwa als die berufenen Träger der Initiative und der Leitung des lokalen Parteilebens betrachtet werden." Rosa Luxemburg ist gar nicht auf die Idee gekommen, die Forderung auf Entlassung der verbürokratisierten, reformistischen Beamten und auf Wahl revolutionärer Arbeiter zu Parteisekretären zu stellen. Dies zeigt, wie die falsche Auffassung über die Parteiorganisation Rosa Luxemburg hinderte, das Verhältnis der Führer zur Masse richtig zu verstehen.

Ihre Fehler hinderten Rosa Luxemburg daran, das Wesen der ersten russischen Revolution und der Taktik der Bolschewiki richtig zu verstehen. Für sie war der Massenstreik ein Glied in dem sich selbständig vollziehenden Prozeß der Revolution, selbständig schlägt er vom ökonomischen zum politischen Streik um und umgekehrt, er bricht von selbst aus, wenn die Situation reif ist, und hört von selbst auf, wenn sie sich ändert hat. Rosa Luxemburg stellt nirgends die Frage der organisatorischen Vorbereitung und Durchführung des Massenstreiks als eines der wichtigsten Kampfmittel des Proletariats.

Rosa Luxemburg konnte auch nicht verstehen, daß ebenso wie 35 Jahre vorher die Pariser Kommune auch die russische Revolution eine neue Etappe in der Entwicklung der Theorie der sozialistischen Revolution einleitete und darum für die Arbeiter aller Länder von großer prinzipieller Bedeutung war. Lenin entwickelte bekanntlich bereits in der ersten russischen Revolution eine neue Theorie der sozialistischen Revolution, die die landläufige Theorie der westeuropäischen Sozialdemokraten über den Haufen warf. Rosa Luxemburg vermochte sich nicht zu dieser Höhe der marxistischen Erkenntnis durchzuringen, sie verharrte in ihrem utopischen Schema.

Trotz dieser Fehler stand Rosa Luxemburg turmhoch über den anderen Führern der deutschen Sozialdemokratie, besonders über Kautsky, dem anerkannten Theoretiker der II. Internationale. Ihre Schrift wirkte auf alle Opportunisten wie ein Peitschenhieb. Besonders die Gewerkschaftsführer fühlten sich von der Kritik getroffen und erhoben lautes Geschrei gegen Rosa. Sie übten einen solchen Druck auf den Parteivorstand der SPD aus, daß dieser die Einstampfung der ersten Auflage der Broschüre und eine Abschwächung vieler Stellen durchsetzte. Dennoch war die Broschüre die revolutionärste Schrift, die damals in Deutschland erschienen ist. Die HTML-Fassung beruht auf der 1. Auflage.

Die Arbeit Rosa Luxemburgs über den Massenstreik lag dem Mannheimer Parteitag der SPD 1906 vor, der über die gegensätzliche Auffassung der Gewerkschaften und der Partei über den Massenstreik zu entscheiden hatte. Rosa Luxemburg hob in ihrer Rede auf diesem Parteitag mit allem Nachdruck hervor, daß die Aufgabe darin bestehe, die Erfahrungen der russischen Revolution anzuwenden. Auf eine Rede des opportunistischen Gewerkschaftsführers Legien erwiderte sie: "Wenn man heute angesichts der großartigen russischen Revolution, die auf Jahrzehnte hinaus die Lehrmeisterin der revolutionären Bewegungen des Proletariats sein wird, das Problem des Massenstreiks hauptsächlich an der Hand der Vorgänge in Italien und Frankreich studiert, so beweist man damit, was eben Legien mit seinem Appell an die Tradition bewiesen hat, daß man nichts zu lernen und nichts zu vergessen versteht." (1) Auf den ausdrücklichen Vorwurf an Legien: "Jawohl, Sie verstehen nichts zu lernen aus der russischen Revolution", antwortete dieser mit dem zynischen Zwischenruf: "Sehr richtig." (2) Auf diesem Parteitag machte sich bereits der Abfall August Bebels von den Linken bemerkbar. In seinem Referat über den politischen Massenstreik befaßte er sich auch mit der Frage, ob der Massenstreik im Falle eines Kriegsausbruchs als Kampfwaffe angewendet werden könne. Darüber führte Bebel aus: "Würde eine Parteileitung so kopflos sein, an einem solchen Tage einen Massenstreik zu inszenieren, so würde sofort mit der Mobilmachung der Kriegszustand über ganz Deutschland verhängt werden, und dann haben nicht mehr die Zivilgerichte, sondern die Militärgerichte zu entscheiden. Ich habe schon läuten hören, und das halte ich für wahrscheinlich, weil man in den entscheidenden Kreisen glaubt, die Sozialdemokratie könnte so töricht sein und einen solchen Beschluß fassen, daß man sich an maßgebender Stelle schon lange mit dem Gedanken trägt, allen Führern der Sozialdemokratie dasselbe Schicksal zu bereiten, wie 1870 den Mitgliedern unseres Parteiausschusses. Wenn Sie glauben, daß in einem solchen Falle die Gegner irgendwelche Nachsicht üben würden, so irren Sie sich; ich halte auch für unbegreiflich, daß man das in einem solchen Falle erwartet. Es ist eben bei uns anders als in anderen Ländern. Deutschland ist ein Staatswesen, wie es zum zweiten Male nicht existiert. Man mag das oben als Kompliment ansehen, es ist aber Wahrheit, und diese Wahrheit müssen wir uns vor Augen halten und danach unser Handeln einrichten." (3) Rosa Luxemburg trat in ihrer Rede gegen dieses hilflose Gestammel Bebels auf und erinnerte an das Beispiel der französischen Genossen, die erklärt hatten: "Lieber einen Volksaufstand als den Krieg!" (4)

Der Mannheimer Parteitag 1906 entschied die Frage des Massenstreiks, indem er unter aktiver Mitwirkung Bebels vor der Gewerkschaftsbürokratie kapitulierte! Der Mannheimer Parteitag nahm eine Resolution an, in der erstens der Gegensatz einfach als nicht bestehend abgetan und zweitens die Gewerkschaften als gleichberechtigte Macht neben der Partei anerkannt wurden. In der Resolution des Mannheimer Parteitages hieß es: "Der Parteitag bestätigt den Jenaer Parteitagsbeschluß zum politischen Massenstreik und hält nach der Feststellung, daß der Beschluß des Kölner Gewerkschaftskongresses nicht im Widerspruch steht mit dem Jenaer Beschluß, allen Streit über den Sinn des Kölner Beschlusses für erledigt.

Der Parteitag empfiehlt nochmals besonders nachdrücklich die Beschlüsse zur Nachachtung, die die Stärkung und Ausbreitung der Parteiorganisation, die Verbreitung der Parteipresse und den Beitritt der Parteigenossen zu den Gewerkschaften und der Gewerkschaftsmitglieder zur Parteiorganisation fordern.

Sobald der Parteivorstand die Notwendigkeit eines politischen Massenstreiks für gegeben erachtet, hat derselbe sich mit der Generalkommission der Gewerkschaften in Verbindung zu setzen und alle Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um die Aktion erfolgreich durchzuführen." (5)

Indem der Mannheimer Parteitag gleichzeitig die Klausel beschloß, "Um bei Aktionen, die die Interessen der Gewerkschaften und der Partei gleichmäßig berühren, ein einheitliches Vorgehen herbeizuführen, sollen die Zentralleitungen der beiden Organisationen sich zu verständigen suchen" (6), verbaute er praktisch jeden Weg zu einem Massenstreik, denn von den opportunistischen Führern der zentralen Gewerkszhaftsleitung war eine Zustimmung niemals zu erwarten.

Diese Resolution war der volle Sieg der Gewerkschaftsbürokratie über die Partei und der Opportunisten in der Partei.

Es bleibt das unvergängliche Verdienst Rosa Luxemburgs, daß sie wie kein anderer Führer der deutschen Sozialdemokratie bemüht war, den deutschen Arbeitern die Lehren der russischen Revolution zu vermitteln.


1 "Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906", S. 261.

2 Ebenda.

3 Ebenda, S. 241.

4 Ebenda, S. 262.

5 Ebenda, S. 305.

6 Ebenda.



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Kapitel 1


Letzte Änderung: 21. May. 2001, Adresse: /deutsch/rlmpgd/rlmpg0d.html