Rosa Luxemburg


Massenstreik, Partei und Gewerkschaften


Rosa Luxemburg

Sozialreform oder Revolution?

Inhalt:

Vorwort

Erster Teil

1. Die opportunistische Methode
2. Anpassung des Kapitalismus
3. Einführung des Sozialismus durch soziale Reformen
4. Zollpolitik und Militarismus
5. Praktische Konsequenzen und allgemeiner Charakter des Revisionismus

Zweiter Teil

1. Die ökonomische Entwicklung und der Sozialismus
2. Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Demokratie
3. Die Eroberung der politischen Macht
4. Der Zusammenbruch
5. Der Opportunismus in Theorie und Praxis


Zweiter Teil
1. Die ökonomische Entwicklung und der Sozialismus

Die größte Errungenschaft des proletarischen Klassenkampfes in seiner Entwicklung war die Entdeckung der Ansatzpunkte für die Verwirklichung des Sozialismus in den ökonomischen Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft. Dadurch ist der Sozialismus aus einem »Ideal«, das jahrtausendelang der Menschheit vorschwebte, zur geschichtlichen Notwendigkeit geworden.

Bernstein bestreitet die Existenz dieser ökonomischen Voraussetzungen des Sozialismus in der gegenwärtigen Gesellschaft. Dabei macht er selbst in seiner Beweisführung eine interessante Entwicklung durch. Anfangs, in der »Neuen Zeit«, bestritt er bloß die Raschheit der Konzentration in der Industrie und stützte dies auf einen Vergleich der Ergebnisse der Gewerbestatistik in Deutschland von 1895 und 1882. Dabei mußte er, um diese Ergebnisse für seine Zwecke zu benutzen, zu ganz summarischem und mechanischem Verfahren seine Zuflucht nehmen. Aber auch im günstigsten Falle konnte Bernstein mit seinem Hinweise auf die Zähigkeit der Mittelbetriebe die Marxsche Analyse nicht im mindesten treffen. Denn diese setzt weder ein bestimmtes Tempo der Konzentration der Industrie, das heißt eine bestimmte Frist für die Verwirklichung des sozialistischen Endzieles, noch auch, wie wir gezeigt haben, ein absolutes Verschwinden der Kleinkapitale, bzw. das Verschwinden des Kleinbürgertums als Bedingung der Realisierbarkeit des Sozialismus voraus.

In weiterer Entwicklung seiner Ansichten gibt nun Bernstein in seinem Buche neues Beweismaterial, und zwar: die Statistik der Aktiengesellscbaflen, die dartun soll, daß die Zahl der Aktionäre sich stets vergrößert, die Kapitalistenklasse also nicht zusammenschmilzt, sondern im Gegenteil immer größer wird. Es ist erstaunlich, wie wenig Bernstein das vorhandene Material kennt und wie wenig er es zu seinen Gunsten zu gebrauchen weiß!

Wollte er durch Aktiengesellschaften etwas gegen das Marxsche Gesetz der industriellen Entwicklung beweisen, dann hätte er ganz andere Zahlen bringen sollen. Nämlich jedermann, der die Geschichte der Aktiengründung in Deutschland kennt, weiß, das ihr durchschnittliches, auf eine Unternehmung fallendes Gründungskapital in fast regelmäßiger Abnahme begriffen ist. So betrug dieses Kapital vor 1871 etwa 10,8 Millionen Mark, 1871 nur noch 4,01 Millionen Mark, 1873: 3,8 Millionen Mark, 1883 bis 1887 weniger als 1 Millionen Mark, 1891 nur 0,56 Millionen Mark, 1892: 0,62 Millionen Mark. Seitdem schwanken die Beträge um 1 Million Mark, und zwar sind sie wieder von I,78 Millionen Mark im Jahre 1895 auf 1,19 Millionen Mark im 1. Semester 1897 gefallen.10

Erstaunliche Zahlen! Bernstein würde wahrscheinlich damit gar eine ganze contra-Marxsche Tendenz des Überganges von Großbetrieben zurück auf Kleinbetriebe konstruieren. Allein in diesem Falle könnte ihm jedermann erwidern: Wenn Sie mit dieser Statistik etwas nachweisen wollen, dann müssen Sie vor allem beweisen, daß sie sich auf dieselben Industriezweige bezieht, daß die kleineren Betriebe nun an Stelle der alten großen und nicht dort auftreten, wo bis jetzt das Einzelkapital oder gar Handwerk oder Zwergbetrieb war. Diesen Beweis gelingt es Ihnen aber nicht zu erbringen, denn der Übergang von riesigen Aktiengründungen zu mittleren und kleinen ist gerade nur dadurch erklärlich, daß das Aktienwesen in stets neue Zweige eindringt, und wenn es anfangs nur für wenige Riesenunternehmungen taugte, es sich jetzt immer mehr dem Mittelbetriebe, hie und da sogar dem Kleinbetriebe angepaßt hat. (Selbst Aktiengründungen bis 1.000 Mark Kapital herunter kommen vor!)

Was bedeutet aber volkswirtschaftlich die immer größere Verbreitung des Aktienwesens? Sie bedeutet die fortschreitende Vergesellschaftung der Produktion in kapitalistischer Form, die Vergesellschaftung nicht nur der Riesen-, sondern auch der Mittel- und sogar der Kleinproduktion, also etwas, was der Marxschen Theorie nicht widerspricht, sondern sie in denkbar glänzendster Weise bestätigt.

In der Tat! Worin besteht das ökonomische Phänomen der Aktiengründung? Einerseits in der Vereinigung vieler kleiner Geldvermögen zu Einem Produktionskapital, andererseits in der Trennung der Produktion vom Kapitaleigentum, also in einer zweifachen Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise - immer auf kapitalistischer Basis. Was bedeutet angesichts dessen die von Bemstein angeführte Statistik der großen Zahl der an einer Unternehmung beteiligten Aktionäre? Eben nichts anderes, als daß jetzt Eine kapitalistische Unternehmung nicht Einem Kapitaleigentümer wie ehedem, sondern einer ganzen Anzahl, einer immer mehr anwachsenden Zahl von Kapitaleigentümern entspricht, daß somit der wirtschaftliche Begriff »Kapitalist« sich nicht mehr mit dem Einzelindividuum deckt, daß der heutige industrielle Kapitalist eine Sammelperson ist, die aus Hunderten, ja aus Tausenden von Personen besteht, daß die Kategorie »Kapitalist« selbst im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft zur gesellschaftlichen, daß sie vergesellsschaftet wurde.

Wie erklärt es sich aber angesichts dessen, daß Bernstein das Phänomen der Aktiengesellschaften gerade umgekehrt als eine Zersplitterung und nicht als eine Zusammenfassung des Kapitals auffaßt, daß er dort Verbreitung des Kapitaleigentums, wo Marx »Aufhebung des Kapitaleigentums« sieht? Durch einen sehr einfachen vulgärökonomischen Schnitzer: weil Bernstein unter Kapitalist nicht eine Kategorie der Produktion, sondern des Eigentumsrechts, nicht eine wirtschaftliche, sondern eine steuerpolitische Einheit, unter Kapital nicht ein Produktionsganzes, sondern schlechthin Geldvermögen versteht. Deshalb sieht er in seinem englischen Nähgarntrust nicht die Zusammenschweißung von 12.300 Personen zu Einem, sondern ganze 12.300 Kapitalisten, deshalb ist ihm auch sein Ingenieur Schulze, der als Mitgift für seine Frau vom Rentier Müller »eine größere Anzahl Aktien« bekommen hat (S.54), auch ein Kapitalist, deshalb wimmelt ihm die ganze Welt von »Kapitalisten«.

Aber hier wie sonst ist der vulgärökonomische Schnitzer bei Bernstein bloß der theoretische Boden für eine Vulgarisierung des Sozialismus. Indem Bernstein den Begriff Kapitalist aus den Produktionsverhältnissen in die Eigentumsverhältnisse überträgt und, »statt von Unternehmern von Menschen spricht« (S.53), überträgt er auch die Frage des Sozialismus aus dem Gebiete der Produktion auf das Gebiet der Vermögensverhältnisse, aus dem Verhältnis von Kapital und Arbeit in das Verhältnis von reich und arm.

Damit sind wir von Marx und Engels glücklich auf den Verfasser des »Evangeliums des armen Sünders« zurückgebracht, nur mit dem Unterschiede, daß Weitling mit richtigem proletarischem Instinkt eben in diesem Gegensatz von arm und reich in primitiver Form die Klassengegensätze erkannte, und zum Hebel der sozialistischen Bewegung machen wollte, während Bernstein umgekehrt, in der Verwandlung der Armen in Reiche, d.h. in der Verwischung des Klassengegensatzes, also im kleinbürgerlichen Verfahren die Aussichten des Sozialismus sieht.

Freilich beschränkt sich Bernstein nicht auf die Einkommensstatistik. Er gibt uns auch Betriebsstatistik, und zwar aus mehreren Ländern: aus Deutschland und aus Frankreich, aus England und aus der Schweiz, aus Österreich und aus den Vereinigten Staaten. Aber was für eine Statistik ist das? Es sind dies nicht etwa vergleichende Daten aus verschiedenen Zeitpunkten in je einem Lande, sondern aus je einem Zeitpunkt in verschiedenen Ländern. Er vergleicht also - ausgenommen Deutschland, wo er seine alte Gegenüberstellung von 1895 und 1882 wiederholt - nicht den Stand der Betriebsgliederung eines Landes in verschiedenen Momenten, sondern nur die absoluten Zahlen für verschiedene Länder (für England vom Jahre 1891, Frankreich 1894, Vereinigte Staaten 1890 usw.). Der Schluß, zu dem er gelangt, ist der, »daß, wenn der Großbetrieb in der Industrie heute tatsächlich schon das Übergewicht hat, er doch, die von ihm abhängigen Betriebe eingerechnet, selbst in einem so vorgeschrittenen Lande wie Preußen höchstens die Hälfte der in der Produktion tätigen Bevölkerung vertritt«, und ähnlich in ganz Deutschland, England, Belgien usw. (S. 84).

Was er auf diese Weise nachweist, ist offenbar nicht diese oder jene Tendenz der ökonomischen Entwicklung, sondern bloß das absolute Stärkeverhältnis der verschiedenen Betriebsformen bzw. verschiedenen Berufsklassen. Soll damit die Aussichtslosigkeit des Sozialismus bewiesen werden, so liegt dieser Beweisführung eine Theorie zugrunde, wonach über den Ausgang sozialer Bestrebungen das zahlenmäßige, physische Stärkeverhältnis der Kämpfenden, also das bloße Moment der Gewentscheidet. Hier fällt der überall den Blanquismus witternde Bernstein zur Abwechslung selbst in das gröbste blanquistische Mißverständnis zurück. Allerdings wieder mit dem Unterschied, daß die Blanquisten als eine sozialistische und revolutionäre Richtung die ökonomische Durchführbarkeit des Sozialismus als selbstverständlich voraussetzten, und auf sie die Aussichten der gewaltsamen Revolution sogar einer kleinen Minderheit gründeten, während Bernstein umgekehrt aus der zahlenmäßigen Unzulänglichkeit der Volksmehrheit die ökonomische Aussichtslosigkeit des Sozialismus folgert. Die Sozialdemokratie leitet ihr Endziel ebensowenig von der siegreichen Gewder Minderheit, wie von dem zahlenmäßigen Übergewicht der Mehrheit, sondern von der ökonomischen Notwendigkeit - und der Einsicht in diese Notwendigkeit - ab, die zur Aufhebung des Kapitalismus durch die Volksmasse führt, und die sich vor allem in der kapitalistischen Anarchie äußert.

Was diese letzte entscheidende Frage der Anarchie in der kapitalistischen Wirtschaft anbetrifft, so leugnet Bernstein selbst bloß die großen und die allgemeinen Krisen, nicht aber partielle und nationale Krisen. Er stellt somit bloß sehr viel Anarchie in Abrede und gibt gleichzeitig die Existenz von ein wenig Anarchie zu. Der kapitalistischen Wirtschaft geht es bei Bernstein wie - um einmal auch mit Marx zu reden - jener törichten Jungfer mit dem Kinde, das »nur ganz klein« war. Das Fatale bei der Sache ist nun, daß in solchen Dingen wie die Anarchie, wenig und viel gleich schlimm ist. Gibt Bernstein ein wenig Anarchie zu, so sorgt der Mechanismus der Warenwirtschaft von selbst für die Steigerung dieser Anarchie ins Ungeheure - bis zum Zusammenbruch. Hofft Bernstein aber - unter gleichzeitiger Beibehaltung der Warenproduktion - auch das bißchen Anarchie allmählich in Ordnung und Harmonie aufzulösen, so verfällt er wiederum in einen der fundamentalsten Fehler der bürgerlichen Vulgärökonomie, indem er die Austauschweise von der Produktionsweise als unabhängig betrachtet.

Es ist hier nicht die entscheidende Gelegenheit, die überraschende Verwirrung in bezug auf die elementarsten Grundsätze der politischen Ökonomie, die Bernstein in seinem Buche an den Tag gelegt hat, in ihrem Ganzen zu zeigen. Aber ein Punkt, auf den uns die Grundfrage der kapitalistischen Anarchie führt, soll kurz beleuchtet werden.

Bernstein erklärt, das Marxsche Arbeitswertgesetz sei eine bloße Abstraktion, was nach ihm in der politischen Ökonomie offenbar ein Schimpfwort ist. Ist aber der Arbeitswert bloß eine Abstraktion, »ein Gedankenbild« (S.44), dann hat jeder rechtschaffene Bürger, der beim Militär gedient und seine Steuern entrichtet hat, das gleiche Recht wie Karl Marx, sich beliebigen Unsinn zu einem solchen »Gedankenbild«, d.h. zum Wertgesetz, zurecht zu machen. »Von Hause aus ist es Marx ebenso erlaubt, von den Eigenschaften der Waren soweit abzusehen, daß sie schließlich nur noch Verkörperungen von Mengen einfacher menschlicher Arbeit bleiben, wie es der Böhm-Jevonsschen Schule freisteht, von alle Eigenschaften der Waren außer ihrer Nützlichkeit zu abstrahieren«.

Also die Marxsche gesellschaftliche Arbeit und die Mengersche abstrakte Nützlichkeit, das ist ihm gehüpft wie gesprungen: alles bloß Abstraktion. Bernstein hat somit ganz vergessen, daß die Marxsche Abstraktion nicht eine Erfindung, sondern eine Entdeckung ist, daß sie nicht in Marxens Kopfe, sondern in der Warenwirtschaft existiert, nicht ein eingebildetes, sondern ein reales gesellschaftliches Dasein führt, ein so reales Dasein, daß sie geschnitten und gehämmert, gewogen und geprägt wird. Die von Marx entdeckte abstrakt-menschliche Arbeit ist nämlich in ihrer entfalteten Form nichts anderes als - das Geld. Und dies ist gerade eine der genialsten ökonomischen Entdeckungen von Marx, während für die ganze bürgerliche Ökonomie, vom ersten Merkantilisten bis auf den letzten Klassiker, das mystische Wesen des Geldes ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist.

Hingegen ist die Böhm-Jevonssche abstrakte Nützlichkeit tatsächlich bloß ein Gedankenbild oder vielmehr ein Bild der Gedankenlosigkeit, ein Privatblödsinn, für den weder die kapitalistische, noch eine andere menschliche Gesellschaft, sondern einzig und allein die bürgerliche Vulgärökonomie verantwortlich gemacht werden kann. Mit diesem »Gedankenbild« im Kopfe können Bernstein und Böhm und Jevons mit der ganzen subjektiven Gemeinde vor dem Mysterium des Geldes noch zwanzig Jahre stehen, ohne daß sie zu einer anderen Lösung kommen, als was jeder Schuster ohne sie schon wußte: daß das Geld auch eine »nützliche« Sache ist.

Bernstein hat somit für das Marxsche Wertgesetz das Verständnis gänzlich verloren. Für denjenigen aber, der mit dem Marxschen ökonomischen System einigermaßen vertraut ist, wird ohne weiteres klar sein, daß ohne das Wertgesetz das ganze System völlig unverständlich bleibt, oder, um konkreter zu sprechen, ohne Verständnis des Wesens der Ware und ihres Austausches die ganze kapitalistische Wirtschaft mit ihren Zusammenhängen ein Geheimnis bleiben muß.

Was ist aber der Marxsche Zauberschlüssel, der ihm gerade die innersten Geheimnisse aller kapitalistischen Erscheinungen geöffnet hat, der ihn mit spielender Leichtigkeit Probleme lösen ließ, von denen die größten Geister der bürgerlichen klassischen Ökonomie, wie Smith und Ricardo, nicht einmal die Existenz ahnten? Nichts anderes als die Auffassung von der ganzen kapitalistischen Wirtschaft, als von einer historischen Erscheinung, und zwar nicht nur nach hinten, wie es im besten Falle die klassische Ökonomie verstand, sondern auch nach vorne, nicht nur im Hinblick auf die feudalwirtschaftliche Vergangenheit, sondern namentlich auch im Hinblick auf die sozialistische Zukunft. Das Geheimnis der Marxschen Wertlehre, seiner Geldanalyse, seiner Kapitaltheorie, seiner Lehre von der Profitrate, und somit des ganzen ökonomischen Systems ist - die Vergänglichkeit der kapitalistischen Wirtschaft, ihr Zusammenbruch, also - dies nur die andere Seite - das sozialistische Endziel. Gerade und nur weil Marx von vornherein als Sozialist, d.h. unter dem geschichtlichen Gesichtspunkte die kapitalistische Wirtschaft ins Auge faßte, konnte er ihre Hieroglyphe entziffern, und weil er den sozialistischen Standpunkt zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse der bürgerlichen Gesellschaft machte, konnte er umgekehrt den Sozialismus wissenschaftlich begründen.

Daran sind die Bemerkungen Bernsteins am Schlusse seines Buches zu messen, wo er über den »Dualismus« (Zwiespalt) klagt, »der durch das ganze monumentale Marxsche Werk geht«, »einen Dualismus, der darin besteht, daß das Werk wissenschaftliche Untersuchung sein und doch eine, lange vor seiner Konzipierung (Abfassung) fertige These beweisen will, daß ihm ein Schema zugrunde liegt, in dem das Resultat, zu dem hin die Entwicklung führen sollte, schon von vornherein feststand. Das Zurückkommen auf das kommunistische Manifest (d.h. auf das sozialistische Endziel! D.V.) weist hier auf einen tatsächlichen Rest von Utopismus im Marxschen System hin.«

Der Marxsche »Dualismus« ist aber nichts anderes als der Dualismus der sozialistischen Zukunft und der kapitalistischen Gegenwart, des Kapitals und der Arbeit, der Bourgeoisie und des Proletariats, er ist die monumentale wissenschaftliche Abspiegelung des in der bürgerlichen Gesellschaft existierenden Dualismus, der bürgerlichen Klassengegensätze.

Und wenn Bernstein in diesem theoretischen Dualismus bei Marx »einen Überrest des Utopismus« sieht, so ist das nur ein naives Bekenntnis, daß er den geschichtlichen Dualismus in der bürgerlichen Gesellschaft, die kapitalistischen Klassengegensätze leugnet, daß für ihn der Sozialismus selbst zu einem »Überrest des Utopismus« geworden ist. Der »Monismus«, d.h. die Einheitlichkeit Bernsteins ist die Einheitlichkeit der verewigten kapitalistischen Ordnung, die Einheitlichkeit des Sozialisten, der sein Endziel fallen gelassen hat, um dafür in der einen und unwandelbaren bürgerlichen Gesellschaft das Ende der menschlichen Entwicklung zu sehen.

Sieht aber Bemstein in der ökonomischen Struktur des Kapitalismus selbst den Zwiespalt, die Entwicklung zum Sozialismus nicht, so muß er, um das sozialistische Programm wenigstens in der Form zu retten, zu einer außerhalb der ökonomischen Entwicklung liegenden, zu einer idealistischen Konstruktion Zuflucht nehmen und den Sozialismus selbst aus einer bestimmten geschichtlichen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung in ein abstraktes »Prinzip« verwandeln.

Das Bernsteinsche »Prinzip der Genossenschaftlichkeit«, mit dem die kapitalistische Wirtschaft ausgeschmückt werden soll, dieser dünnste »Abkläricht« des sozialistischen Endzieles, erscheint angesichts dessen nicht als ein Zugeständnis seiner bürgerlichen Theorie an die sozialistische Zukunft der Gesellschaft, sondern an die sozialistische Vergangenheit - Bernsteins.

2. Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Demokratie

Wir haben gesehen, der Bernsteinsche Sozialismus läuft auf den Plan hinaus, die Arbeiter an dem gesellschaftlichen Reichtum teilnehmen zu lassen, die Armen in Reiche zu verwandeln. Wie soll das bewerkstelligt werden? In seinen Aufsätzen »Probleme des Sozialismus« in der »Neuen Zeit« ließ Bernstein nur kaum verständliche Fingerzeige durchblicken, in seinem Buche gibt er über diese Frage vollen Aufschluß: sein Sozialismus soll auf zwei Wegen, durch Gewerkschaften oder, wie Bernstein es nennt, wirtschaftliche Demokratie, und durch Genossenschaften verwirklicht werden. Durch die ersteren will er dem industriellen, durch die letzteren dem kaufmännischen Profit an den Kragen.

Was die Genossenschaften, und zwar vor allem die Produktivgenossenschaften betrifft, so stellen sie ihrem inneren Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwitterding dar: eine im kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche. In der kapitalischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht, angesichts der Konkurrenz, rücksichtslose Ausbeutung, d.h. völlige Beherrschung des Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der Unternehmung. Praktisch äußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst intensiv zu machen, sie zu verkürzen oder zu verlängern, je nach der Marktlage, die Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie abzustoßen und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zu praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen. In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst. Das sind die Tatsachen, die Bernstein selbst konstatiert, aber mißversteht, indem er nach Frau Potter-Webb die Ursache des Unterganges der Produktivgenossenschaften in England in der mangelnden »Disziplin« sieht. Was hier oberflächlich und seicht als Disziplin bezeichnet wird, ist nichts anderes als das natürliche absolute Regime des Kapitals, das die Arbeiter allerdings sich selbst gegenüber unmöglich ausüben können.

Daraus folgt, daß die Produktivgenossenschaft sich ihre Existenz inmitten der kapitalistischen Wirtschaft nur dann sichern kann, wenn sie auf einem Umwege den in ihr verborgenen Widerspruch zwischen Produktionsweise und Austauschweise aufhebt, indem sie sich künstlich den Gesetzen der freien Konkurrenz entzieht. Dies kann sie nur, wenn sie sich von vornherein einen Absatzmarkt, einen festen Kreis von Konsumenten sichert. Als solches Hilfsmittel dient ihr eben der Konsumverein. Darin wiederum, und nicht in der Unterscheidung in Kauf- und Verkaufsgenossenschaften, oder wie der Oppenheimersche Einfall sonst lautet, liegt das von Bernstein behandelte Geheimnis, warum selbständige Produktivgenossenschaften zugrunde gehen, und erst der Konsumverein ihnen eine Existenz zu sichern vermag.

Sind aber somit die Existenzbedingungen der Produktivgenossenschaften in der heutigen Gesellschaft an die Existenzbedingungen der Konsumvereine gebunden, so folgt daraus in weiterer Konsequenz, daß die Produktivgenossenschaften im günstigsten Falle auf kleinen lokalen Absatz und auf wenige Produkte des unmittelbaren Bedarfs, vorzugsweise auf Lebensmittel angewiesen sind. Alle wichtigsten Zweige der kapitalistischen Produktion: die Textil-, Kohlen-, Metall-, Petroleumindustrie, sowie der Maschinen-, Lokomotiven- und Schiffsbau sind vom Konsumverein, also auch von der Produktivgenossenschaft von vornherein ausgeschlossen. Abgesehen also von ihrem Zwittercharakter können die Produktivgenossenschaften als allgemeine soziale Reform schon aus dem Grunde nicht erscheinen, weil ihre allgemeine Durchführung vor allem die Abschaffung des Weltmarktes und Auflösung der bestehenden Weltwirtschaft in kleine lokale Produktions- und Austauschgruppen, also dem Wesen nach einen Rückgang von großkapitalistischer auf mittelalterliche Warenwirtschaft voraussetzt.

Aber auch in den Grenzen ihrer möglichen Verwirklichung, auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaft reduzieren sich die Produktivgenossenschaften notwendigerweise in bloße Anhängsel der Konsumvereine, die somit als die Hauptträger der beabsichtigten sozialistischen Reform in den Vordergrund treten. Die ganze sozialistische Reform durch die Genossenschaften reduziert sich aber dadurch aus einem Kampf gegen das Produktivkapital, d.h. gegen den Hauptstamm der kapitalistischen Wirtschaft, in einen Kampf gegen das Handelskapital, und zwar gegen das Kleinhandels-, das Zwischenhandelskapital, d.h. bloß gegen kleine Abzweigungen des kapitalistischen Stammes.

Was die Gewerkschaften betrifft, die nach Bernstein ihrerseits ein Mittel gegen die Ausbreitung des Produktivkapitals darstellen sollen, so haben wir bereits gezeigt, daß die Gewerkschaften nicht imstande sind, den Arbeitern einen Einfluß auf den Produktionsprozeß, weder in bezug auf den Produktionsumfang, noch in bezug auf das technische Verfahren, zu sichern.

Was aber die rein ökonomische Seite, »den Kampf der Lohnrate mit der Profitrate« betrifft, wie Bernstein es nennt, so wird dieser Kampf, wie gleichfalls bereits gezeigt, nicht in dem freien blauen Luftraum, sondern in den bestimmten Schranken des Lohngesetzes ausgefochten, das er nicht zu durchbrechen, sondern bloß zu verwirklichen vermag. Dies wird auch klar, wenn man die Sache von einer anderen Seite faßt und sich die Frage nach den eigentlichen Funktionen der Gewerkschaften stellt.

Die Gewerkschaften, denen Bernstein die Rolle zuweist, in dem Emanzipationskampfe der Arbeiterklasse den eigentlichen Angriff gegen die industrielle Profitrate zu führen und sie stufenweise in die Lohnrate aufzulösen, sind nämlich gar nicht imstande, eine ökonomische Angriffspolitik gegen den Profit zu führen, weil sie nichts sind als die organisierte Defensive der Arbeitskraft gegen die Angriffe des Profits, als die Abwehr der Arbeiterklasse gegen die herabdrückende Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft. Dies aus zwei Gründen.

Erstens haben die Gewerkschaften zur Aufgabe, die Marktlage der Ware Arbeitskraft durch ihre Organisation zu beeinflussen, die Organisation wird aber durch den Prozeß der Proletarisierung der Mittelschichten, der dem Arbeitsmarkt stets neue Ware zuführt, beständig durchbrochen. Zweitens bezwecken die Gewerkschaften die Hebung der Lebenshaltung, die Vergrößerung des Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen Reichtum, dieser Anteil wird aber durch das Wachstum der Produktivität der Arbeit mit der Fatalität eines Naturprozesses beständig herabgedrückt. Um letzteres einzusehen, braucht man durchaus nicht ein Marxist zu sein, sondern bloß: »Zur Beleuchtung der sozialen Frage«, von Rodbertus, einmal in der Hand gehabt zu haben.

In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich also der gewerkschaftliche Kampf kraft objektiver Vorgänge in der kapitalistischen Gesellschaft in eine Art Sisyphusarbeit. Diese Sisyphusarbeit ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiter überhaupt zu der ihm nach der jeweiligen Marktlage zufallenden Lohnrate kommen, soll das kapitalistische Lohngesetz verwirklicht und die herabdrückende Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Wirkung paralysiert, oder genauer, abgeschwächt werden. Gedenkt man aber, die Gewerkschaften in ein Mittel zur stufenweisen Verkürzung des Profits zugunsten des Arbeitslohnes zu verwandeln, so setzt dies vor allem als soziale Bedingung erstens einen Stillstand in der Proletarisierung der Mittelschichten und dem Wachstum der Arbeiterklasse, zweitens einen Stillstand in dem Wachstum der Produktivität der Arbeit, also in beiden Fällen, ganz wie die Verwirklichung der konsumgenossenschaftlichen Wirtschaft, einen Rückgang auf vorgroßkapitalistische Zustände voraus.

Die beiden Bernsteinschen Mittel der sozialistischen Reform: die Genossenschaften und die Gewerkschaften erweisen sich somit als gänzlich unfähig, die kapitalistische Produktionsweise umzugestalten. Bernstein ist sich dessen im Grunde genommen auch selbst dunkel bewußt und faßt sie bloß als Mittel auf, den kapitalistischen Profit abzuzwacken, und die Arbeiter auf diese Weise zu bereichern. Damit verzichtet er aber selbst auf den Kampf mit der kapitalistischen Produktionsweise und richtet die sozialdemokratische Bewegung auf den Kampf gegen die kapitalistische Verteilung. Bernstein formuliert auch wiederholt seinen Sozialismus als das Bestreben nach einer »gerechten«, »gerechteren« (S. 51 seines Buches), ja einer »noch gerechteren« (»Vorwärts« vom 26. März 1899) Verteilung.

Der nächste Anstoß zur sozialdemokratischen Bewegung wenigstens bei den Volksmassen ist freilich auch die »ungerechte« Verteilung der kapitalistischen Ordnung. Und indem sie für die Vergesellschaftung der gesamten Wirtschaft kämpft, strebt die Sozialdemokratie dadurch selbstverständlich auch eine »gerechte« Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums an. Nur richtet sie ihren Kampf, dank der von Marx gewonnenen Einsicht, daß die jeweilige Verteilung bloß eine naturgesetzliche Folge der jeweiligen Produktionsweise ist, nicht auf die Verteilung im Rahmen der kapitalistischen Produktion, sondern auf die Aufhebung der Warenproduktion selbst. Mit einem Wort, die Sozialdemokratie will die sozialistische Verteilung durch die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise herbeiführen, während das Bernsteinsche Verfahren ein direkt umgekehrtes ist; er will die kapitalistische Verteilung bekämpfen und hofft auf diesem Wege allmählich die sozialistische Produktionsweise herbeizuführen.

Wie kann aber in diesem Falle die Bernsteinsche sozialistische Reform begründet werden? Durch bestimmte Tendenzen der kapitalistischen Produktion? Keineswegs, denn erstens leugnet er ja diese Tendenzen, und zweitens ist bei ihm nach dem vorher Gesagten die erwünschte Gestaltung der Produktion Ergebnis und nicht Ursache der Verteilung. Die Begründung seines Sozialismus kann also keine ökonomische sein. Nachdem er Zweck und Mittel des Sozialismus und damit die ökonomischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt hat, kann er keine materialistische Begründung für sein Programm geben, ist er gezwungen, zu einer idealistischen zu greifen.

»Wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange?« hören wir ihn dann sagen. »Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewußtseins, des Willens der Menschen?« (»Vorwärts« vom 26. März 1899). Die Bemsteinsche gerechtere Verteilung soll also kraft des freien, nicht im Dienste der wirtschaftlichen Notwendigkeit wirkenden Willens der Menschen, oder genauer, da der Wille selbst bloß ein Instrument ist, kraft der Einsicht in die Gerechtigkeit, kurz, kraft der Gerechtigkeitsidee verwirklicht werden.

Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten, seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher Beförderungsmittel gerittenen Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts andres heimzubringen als ein blaues Auge.

Das Verhältnis von arm und reich als gesellschaftliche Grundlage des Sozialismus, das »Prinzip« der Genossenschaftlichkeit als sein Inhalt, die »gerechtere Verteilung« als sein Zweck und die Idee der Gerechtigkeit als seine einzige geschichtliche Legitimation - mit wieviel mehr Kraft, mit wieviel mehr Geist, mit wieviel mehr Glanz vertrat doch Weitling vor mehr als 50 Jahren diese Sorte von Sozialismus! Allerdings kannte der geniale Schneider den wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht. Und wenn heute, nach einem halben Jahrhundert, seine von Marx und Engels in kleine Fetzen zerzauste Auffassung glücklich wieder zusammengeflickt und dem deutschen Proletariat als letztes Wort der Wissenschaft angeboten wird, so gehört dazu allenfalls auch ein Schneider ... aber kein genialer.

Wie die Gewerkschaften und Genossenschaften ökonomische Stützpunkte, so ist die wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie eine stets fortschreitende Entwicklung der Demokratie. Die heutigen Reaktionsausbrüche sind dem Revisionismus nur »Zuckungen«, die er für zufällig und vorübergehend hält, und mit denen bei der Aufstellung der allgemeinen Richtschnur für den Arbeiterkampf nicht zu rechnen sei.

(Es kommt aber nicht darauf an, was Bernstein auf Grund von mündlichen und schriftlichen Versicherungen seiner Freunde über die Dauerhaftigkeit der Reaktion denkt, sondern welcher innere, objektive Zusammenhang zwischen der Demokratie und der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung besteht.)L

Nach Bernstein z.B. erscheint die Demokratie als eine unvermeidliche Stufe in der Entwicklung der modernen Gesellschaft, ja, die Demokratie ist ihm, ganz wie dem bürgerlichen Theoretiker der Liberalismus, das große Grundgesetz der geschichtlichen Entwicklung überhaupt, dessen Verwirklichung alle wirkenden Mächte des politischen Lebens dienen müssen. Das ist aber in dieser absoluten Form grundfalsch und nichts als eine kleinbürgerliche, und zwar oberflächliche Schablonisierung der Ergebnisse eines kleinen Zipfelchens der bürgerlichen Entwicklung, etwa der letzten 25 bis 30 Jahre. Sieht man sich die Entwicklung der Demokratie in der Geschichte und zugleich die politische Geschichte des Kapitalismus näher an, so kommt ein wesentlich anderes Resultat heraus.

Was das erstere betrifft, so finden wir die Demokratie in den verschiedensten Gesellschaftsformationen: in den ursprünglichen kommunistischen Gesellschaften, in den antiken Sklavenstaaten, in den mittelalterlichen städtischen Kommunen. Desgleichen begegnen wir dem Absolutismus und der konstitutionellen Monarchie in den verschiedensten wirtschaftlichen Zusammenhängen. Andererseits ruft der Kapitalismus in seinen Anfängen - als Warenproduktion - eine demokratische Verfassung in den städtischen Kommunen ins Leben; später, in seiner entwickelteren Form, als Manufaktur, findet er in der absoluten Monarchie seine entsprechende politische Form. Endlich als entfaltete industrielle Wirtschaft erzeugt er in Frankreich abwechselnd die demokratische Republik (1793), die absolute Monarchie Napoleons I., die Adelsmonarchie der Restaurationszeit (1815 bis 1830), die bürgerliche konstitutionelle Monarchie des Louis Philippe, wieder die demokratische Republik, wieder die Monarchie Napoleons III., endlich zum drittenmal die Republik. In Deutschland ist die einzige wirkliche demokratische Einrichtung, das allgemeine Wahlrecht, nicht eine Errungenschaft des bürgerlichen Liberalismus, sondern ein Werkzeug der politischen Zusammenschweißung der Kleinstaaterei und hat bloß insofern eine Bedeutung in der Entwicklung der deutschen Bourgeoisie, die sich sonst mit einer halbfeudalen konstitutionellen Monarchie zufrieden gibt. In Rußland gedieh der Kapitalismus lange unter dem orientalischen Selbstherrschertum, ohne daß die Bourgeoisie Miene machte, sich nach der Demokratie zu sehnen. In Österreich ist das allgemeine Wahlrecht zum großen Teil als ein Rettungsgürtel für die auseinanderfallende Monarchie erschienen, (und wie wenig es mit der eigentlichen Demokratie verbunden ist, beweist die Herrschaft des § 14).M In Belgien endlich steht die demokratische Errungenschaft der Arbeiterbewegung - das allgemeine Wahlrecht - in unzweifelhaftem Zusammenhang mit der Schwäche des Militarismus, also mit der besonderen geographisch-politischen Lage Belgiens, und vor allem ist sie eben ein nicht durch die Bourgeoisie, sondern gegen die Bourgeoisie erkämpftes »Stück Demokratie«.

Der ununterbrochene Aufstieg der Demokratie, der unserem Revisionismus wie dem bürgerlichen Freisinn als das große Grundgesetz der menschlichen und zum mindesten der modernen Geschichte erscheint, ist somit nach näherer Betrachtung ein Luftgebilde. Zwischen der kapitalistischen Entwicklung und der Demokratie läßt sich kein allgemeiner absoluter Zusammenhang konstruieren. Die politische Form ist jedesmal das Ergebnis der ganzen Summe politischer, innerer und äußerer, Faktoren und läßt in ihren Grenzen die ganze Stufenleiter von der absoluten Monarchie bis zur demokratischen Republik zu.

Wenn wir somit von einem allgemeinen geschichtlichen Gesetz der Entwicklung der Demokratie auch im Rahmen der modernen Gesellschaft absehen müssen und uns bloß an die gegenwärtige Phase der bürgerlichen Geschichte wenden, so sehen wir auch hier in der politischen Lage Faktoren, die nicht zur Verwirklichung des Bernsteinschen Schemas, sondern vielmehr gerade umgekehrt, zur Preisgabe der bisherigen Errungenschaften seitens der bürgerlichen Gesellschaft führen.

Einerseits haben die demokratischen Einrichtungen, was höchst wichtig ist, für die bürgerliche Entwicklung in hohem Maße ihre Rolle ausgespielt. Insofern sie zur Zusammenschweißung der Kleinstaaten und zur Herstellung moderner Großstaaten notwendig waren (Deutschland, Italien), sind sie entbehrlich geworden; die wirtschaftliche Entwicklung hat inzwischen eine innere organische Verwachsung herbeigeführt, (und der Verband der politischen Demokratie kann insofern ohne Gefahr für den Organismus der bürgerlichen Gesellschaften abgenommen werden.)

Dasselbe gilt in bezug auf die Umgestaltung der ganzen politisch-administrativen Staatsmaschine aus einem halb- oder ganzfeudalen in einen kapitalistischen Mechanismus. Diese Umgestaltung, die geschichtlich von der Demokratie unzertrenntlich war, ist heute gleichfalls in so hohem Maße erreicht, daß die rein demokratischen Ingredienzien (Zutaten) des Staatswesens, das allgemeine Wahlrecht, die republikanische Staatsform, an sich ausscheiden könnten, ohne daß die Administration, das Finanzwesen, das Wehrwesen usw. in die vormärzlichen Formen zurückzufallen brauchten.

Ist auf diese Weise der Liberalismus für die bürgerliche Gesellschaft als solche wesentlich überflüssig, so andererseits in wichtigen Beziehungen direkt ein Hindernis geworden. Hier kommen zwei Faktoren in Betracht, die das gesamte politische Leben der heutigen Staaten geradezu beherrschen: die Weltpolitik und die Arbeiterbewegung - beides nur zwei verschiedene Seiten der gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Entwicklung.

Die Ausbildung der Weltwirtschaft und die Verschärfung und Verallgemeinerung des Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte haben den Militarismus und Marinismus als Werkzeuge der Weltpolitik zum tonangebenden Moment ebenso des äußeren wie des inneren Lebens der Großstaaten gemacht. Ist aber die Weltpolitik und der Militarismus eine aufsteigende Tendenz der heutigen Phase, so muß sich folgerichtig die bürgerliche Demokratie auf absteigender Linie bewegen. (Schlagendstes Beispiel: die nordamerikanische Union seit dem spanischen Kriege. In Frankreich verdankt die Republik ihre Existenz hauptsächlich der internationalen politischen Lage, die einen Krieg vorläufig unmöglich macht. Käme es zu einem solchen und würde sich Frankreich, wie allem Anschein nach anzunehmen ist, als für die Weltpolitik nicht gerüstet erweisen, dann wäre die Antwort auf die erste Niederlage Frankreichs auf dem Kriegsschauplatz - die Proklamierung der Monarchie in Paris. In Deutschland wurden die neue Aera der großen Rüstungen (1893) und die mit Kiautschou inaugurierte Weltpolitik sofort mit zwei Opfern von der bürgerlichen Demokratie: dem Zerfall des Freisinns und dem Umfall des Zentrums bezahlt.)O

Treibt somit die auswärtige Politik die Bourgeoisie in die Arme der Reaktion, so nicht minder die innere Politik - die aufstrebende Arbeiterklasse. Bernstein gibt dies selbst zu, indem er die sozialdemokratische »Freßlegende«13, d.h. die sozialistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse für die Fahnenflucht der liberalen Bourgeoisie verantwortlich macht. Er rät dem Proletariat im Anschluß daran, um den zu Tode erschrockenen Liberalismus wieder aus dem Mauseloch der Reaktion hervorzulocken, sein sozialistisches Endziel fallen zu lassen. Damit beweist er aber selbst am schlagendsten, indem er den Wegfall der sozialistischen Arbeiterbewegung zur Lebensbedingung und zur sozialen Voraussetzung der bürgerlichen Demokratie heute macht, daß diese Demokratie in gleichem Maße der inneren Entwicklungstendenz der heutigen Gesellschaft widerspricht, wie die sozialistische Arbeiterbewegung ein direktes Produkt dieser Tendenz ist.

Aber er beweist damit noch ein weiteres. Indem er den Verzicht auf das sozialistische Endziel seitens der Arbeiterklasse zur Voraussetzung und Bedingungen des Wiederauflebens der bürgerlichen Demokratie macht, zeigt er selbst, wie wenig, umgekehrt die bürgerliche Demokratie eine notwendige Voraussetzung und Bedingung der sozialistischen Bewegung und des sozialistischen Sieges sein kann. Hier schließt sich das Bernsteinsche Räsonnement zu einem fehlerhaften Kreis, wobei die letzte Schlußfolgerung seine erste Voraussetzung »frißt«.

Der Ausweg aus diesem Kreise ist ein sehr einfacher: aus der Tatsache, daß der bürgerliche Liberalismus vor Schreck vor der aufstrebenden Arbeiterbewegung und ihren Endzielen seine Seele ausgehaucht hat, folgt nur, daß die sozialistische Arbeiterbewegung eben heute die einzige Stütze der Demokratie ist und sein kann, und daß nicht die Schicksale der sozialistischen Bewegung an die bürgerliche Demokratie, sondern umgekehrt die Schicksale der demokratischen Entwicklung an die sozialistische Bewegung gebunden sind. Daß die Demokratie nicht in dem Maße lebensfähig wird, als die Arbeiterklasse ihren Emanzipationskampf aufgibt, sondern umgekehrt, in dem Maße, als die sozialistische Bewegung stark genug wird, gegen die reaktionären Folgen der Weltpolitik und der bürgerlichen Fahnenflucht anzukämpfen. Daß, wer die Stärkung der Demokratie wünscht, auch Stärkung und nicht Schwächung der sozialistischen Bewegung wünschen muß, und daß mit dem Aufgeben der sozialistischen Bestrebungen ebenso die Arbeiterbewegung wie die Demokratie aufgegeben wird.

(Bemstein erklärt am Schluß seiner »Antwort« an Kautsky im »Vorwärts« vom 26. März 1899, er sei mit dem praktischen Teil des Programms der Sozialdemokratie im ganzen durchaus einverstanden, er hätte bloß gegen dessen theoretischen Teil etwas einzuwenden. Dessen ungeachtet glaubt er offenbar noch mit Fug und Recht in Reih und Glied der Partei marschieren zu können, denn welches »Gewicht« ist darauf zu legen, »Ob im theoretischen Teil ein Satz steht, der mit seiner Auffassung vom Gang der Entwicklung nicht mehr stimmt«? Diese Erklärung zeigt im besten Falle, wie vollständig Bernstein den Sinn für den Zusammenhang der praktischen Tätigkeit der Sozialdemokratie mit ihren allgemeinen Grundsätzen verloren hat, wie sehr dieselben Worte aufgehört haben, für die Partei und für Bernstein dasselbe auszudrücken. Tatsächlich führen die eigenen Theorien Bernsteins, wie wir gesehen, zu der elementarsten sozialdemokratischen Erkenntnis, daß ohne die grundsätzliche Basis auch der praktische Kampf wertlos und zwecklos wird, daß mit dem Aufgeben des Endziels auch die Bewegung selbst zugrunde gehen muß.)

3. Die Eroberung der politischen Macht

Die Schicksale der Demokratie sind, wie wir gesehen, an die Schicksale der Arbeiterbewegung gebunden. Aber macht denn die Entwicklung der Demokratie auch im besten Falle eine proletarische Revolution im Sinne der Ergreifung der Staatsgewalt, der Eroberung der politischen Macht überflüssig oder unmöglich?

Bernstein entscheidet diese Frage auf dem Wege einer gründlichen Abwägung der guten und schlechten Seiten der gesetzlichen Reform und der Revolution, und zwar mit einer Behaglichkeit, die an das Abwägen von Zimt und Pfeffer in einem Konsumverein erinnert. In dem gesetzlichen Gang der Entwicklung sieht er die Wirkung des Intellekts, in dem revolutionären die des Gefühls, in der Reformarbeit eine langsame, in der Revolution eine rasche Methode des geschichtlichen Fortschritts, in der Gesetzgebung eine planmäßige, in dem Umsturz eine elementarische Gewalt.

Es ist nun eine alte Geschichte, daß der kleinbürgerliche Reformer in allen Dingen der Welt eine »gute« und eine »schlechte« Seite sieht und daß er von allen Blumenbeeten nascht. Eine ebenso alte Geschichte ist es aber, daß der wirkliche Gang der Dinge sich um kleinbürgerliche Kombinationen sehr wenig kümmert und das sorgfältigst zusammengeschleppte Häuflein »guter Seiten« von allen möglichen Dingen der Welt mit einem Nasenstüber in die Luft sprengt. Tatsächlich sehen wir in der Geschichte die gesetzliche Reform und die Revolution nach tieferen Gründen als die Vorzüge oder Nachteile dieses oder jenes Verfahrens funktionieren.

In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft diente die gesetzliche Reform zur allmählichen Erstarkung der aufstrebenden Klasse, bis sie sich reif genug fühlte, die politische Macht zu erobern und das ganze bestehende Rechtsystem umzuwerfen, um ein neues aufzubauen. Bernstein, der gegen die Eroberung der politischen Macht als eine blanquistische Gewalttheorie wettert, passiert das Malheur, daß er das, was seit Jahrhunderten der Angelpunkt und die Triebkraft der menschlichen Geschichte ist, für einen blanquistischen Rechenfehler hält. Seit die Klassengesellschaften existieren und der Klassenkampf den wesentlichen Inhihrer Geschichte bildet, war nämlich die Eroberung der politischen Macht stets ebenso das Ziel aIler aufstrebenden Klassen, wie der Ausgangs- und der Endpunkt jeder geschichtlichen Periode. Dies sehen wir in den langen Kämpfen des Bauerntums mit den Geldkapitalisten und dem Adel im alten Rom, in den Kämpfen des Patriziertums mit den Bischöfen und des Handwerkertums mit den Patriziern mit den mittelalterlichen Städten, in den Kämpfen der Bourgeoisie mit dem Feudalismus in der Neuzeit.

Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbüfett nach Belieben wie heiße Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich aber ausschließen, wie z.B. Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.

Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution. Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der Kernpunkt der Frage.

Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die zusammengedrängte Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in dem Umschlage der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret gesprochen in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine andere.

Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten. So gelangt man von den politischen Ansichten des Revisionismus zu demselben Schluß, wie von seinen ökonomischen Theorien: daß sie im Grunde genommen nicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern bloß auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems, sondern auf das Mehr oder Weniger der Ausbeutung, mit einem Worte auf die Beseitigung der kapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbst abzielen.

Vielleicht behalten aber die obigen Sätze über die Funktion der gesetzlichen Reform und der Revolution ihre Richtigkeit bloß in bezug auf die bisherigen Klassenkämpfe? Vielleicht ist von nun an, dank der Ausbildung des bürgerlichen Rechtssystems, der gesetzlichen Reform auch die Überführung der Gesellschaft aus einer geschichtlichen Phase in eine andere zugewiesen und die Ergreifung der Staatsgewdurch das Proletariat »zur inhaltlosen Phrase geworden«, wie Bernstein auf Seite 183 seiner Schrift sagt?

Das gerade und direkte Gegenteil ist der Fall. Was zeichnet die bürgerliche Gesellschaft von den früheren Klassengesellschaften - der antiken und der mittelalterlichen - aus? Eben der Umstand, daß die Klassenherrschaft jetzt nicht auf »wohl erworbenen Rechten«, sondern auf tatsächlichen wirtschafllichen Verhältnissen beruht, daß das Lohnsystem nicht ein Rechtsverhältnis, sondern ein rein ökonomisches ist. Man wird in unserem ganzen Rechtssystem keine gesetzliche Formel der gegenwärtigen Klassenherrschaft finden. Gibt es Spuren von einer solchen, dann sind es eben, wie die Gesindeordnung, Überbleibsel der feudalen Verhältnisse.

Wie also die Lohnsklaverei »auf gesetzlichem Wege« stufenweise aufheben, wenn sie in den Gesetzen gar nicht ausgedrückt ist? Bernstein, der sich an die gesetzliche Reformarbeit machen will, um dem Kapitalismus auf diesem Wege ein Ende zu bereiten, gerät in die Lage jenes russischen Schutzmannes, der bei Uspienski sein Abenteuer erzählt:... »Schnell packte ich den Kerl am Kragen und was stellte sich heraus? Daß der verdammte Kerl keinen Kragen hatte!«...Da liegt eben der Hase im Pfeffer.

»Alle bisherige Gesellschaft beruhte auf dem Gegensatz unterdrückter und unterdrückender Klassen« (Das Kommunistische Manifest S.17). Aber in den vorhergehenden Phasen der modernen Gesellschaft war dieser Gegensatz in bestimmten rechtlichen Vehältnissen ausgedrückt und konnte eben deshalb bis zu einem gewissen Grad den aufkommenden neuen Verhältnissen noch im Rahmen der alten Raum gewähren. »Der Leibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der Leibeigenschaft herausgearbeitet« (Kommunistisches Manifest S.17). Wieso? Durch stufenweise Aufhebung im Weichbilde der Stadt aller jener Splitterrechte: der Fronden, Kurmeden, des Gewandrechts, Besthaupts, Kopfzinses, Heiratszwanges, Erbteilungsrechts usw. usw., deren Gesamtheit die Leibeigenschaft ausmachte.

Desgleichen arbeitete sich »der Kleinbürger zum Bourgeois unter dem Joch des feudalistischen Absolutismus« empor (a.a.0.S.17). Auf welchem Wege? Durch teilweise formelle Aufhebung oder tatsächliche Lockerung der Zunftfesseln, durch allmähliche Umbildung der Verwaltung, des Finanz- und Wehrwesens in dem allernotwendigsten Umfange.

Will man also abstrakt, anstatt geschichtlich, die Frage behandeln, so läßt sich bei den früheren Klassenverhältnissen ein rein gesetzlich-reformlerischer Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft wenigstens denken. Was sehen wir aber in der Tat? Daß auch dort die gesetzlichen Reformen nicht dazu dienten, die Ergreifung der politischen Macht durch das Bürgertum überflüssig zu machen, sondern umgekehrt, sie vorzubereiten und herbeizuführen. Eine förmliche politisch-soziale Umwälzung war unentbehrlich, ebenso zur Aufhebung der Leibeigenschaft, wie zur Abschaffung des Feudalismus.

Ganz anders noch liegen aber die Dinge jetzt. Der Proletarier wird durch kein Gesetz gezwungen, sich in das Joch des Kapitals zu spannen, sondern durch die Not, durch den Mangel an Produktionsmitteln. Kein Gesetz in der Welt kann ihm aber im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft diese Mittel zu dekretieren, weil er ihrer nicht durch Gesetz, sondern durch ökonomische Entwicklung beraubt wurde.

Ferner beruht die Ausbeutung innerhalb des Lohnverhältnisses gleichfalls nicht auf Gesetzen, denn in Höhe der Löhne wird nicht auf gesetzlichem Wege, sondern durch ökonomische Faktoren bestimmt. Und die Tatsache selbst der Ausbeutung beruht nicht auf einer gesetzlichen Bestimmung, sondern auf der rein wirtschaftlichen Tatsache, daß die Arbeitskraft als Ware auftritt, die unter anderem die angenehme Eigenschaft besitzt, Wert, und zwar mehr Wert zu produzieren, als sie selbst in den Lebensmitteln des Arbeiters vertilgt. Mit einem Worte, alle Grundverhältnisse der kapitalistischen Klassenherrschaft lassen sich durch gesetzliche Reformen auf bürgerlicher Basis deshalb nicht umgestalten, weil sie weder durch bürgerliche Gesetze herbeigeführt, noch die Gestvon solchen Gesetzen erhalten haben. Bernstein weiß das nicht, wenn er eine sozialistische »Reform« plant, aber was er nicht weiß, das sagt er, indem er auf S. 10 seines Buches schreibt, daß »das ökonomische Motiv heute frei auftritt, wo es früher durch Herrschaftsverhältnisse und Ideologien aller Art verkleidet war«.

Aber es kommt noch ein zweites hinzu. Es ist die andere Besonderheit der kapitalistischen Ordnung, daß in ihr alle Elemente der künftigen Gesellschaft in ihrer Entwicklung vorerst eine Form annehmen, in der sie sich dem Sozialismus nicht nähern, sondern von ihm entfernen. In der Produktion wird immer mehr der gesellschaftliche Charakter zum Ausdruck gebracht. Aber in welcher Form? Von Großbetrieb, Aktiengesellschaft, Kartell, wo die kapitalistischen Gegensätze, die Ausbeutung, die Unterjochung der Arbeitskraft aufs höchste gesteigert werden.

Im Wehrwesen führt die Entwicklung die Verbreitung der allgemeinen Wehrpflicht, die Verkürzung der Dienstzeit, also materiell die Annäherung an das Volksheer herbei. Aber dies in der Form von modernem Militarismus, wo die Beherrschung des Volkes durch den Militärstaat, der Klassencharakter des Staates zum grellsten Ausdruck kommt.

In den politischen Verhältnissen führt die Entwicklung der Demokratie, insofern sie günstigen Boden hat, zur Beteiligung aller Volksschichten am politischen Leben, also gewissermaßen zum »Volksstaat«. Aber dies in der Form des bürgerlichen Parlamentarismus, wo die Klassengegensätze, die Klassenherrschaft nicht aufgehoben sind, sondern vielmehr entfaltet und bloßgelegt werden. Weil sich die ganze kapitalistische Entwicklung somit in Widersprüchen bewegt, so muß, um den Kern der sozialistischen Gesellschaft aus der ihm widersprechenden kapitalistischen Hülle herauszuschälen, auch aus diesem Grunde zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und zur gänzlichen Aufhebung des kapitalistischen Systems gegriffen werden.

Bernstein zieht freilich andere Schlüsse daraus: führte die Entwicklung der Demokratie zur Verschärfung und nicht zur Abschwächung der kapitalistischen Widersprüche, dann »müßte die Sozialdemokratie«, antwortet er uns, »wenn sie sich nicht selbst die Arbeit erschweren will, Sozialreformen und die Erweiterung der demokratischen Einrichtungen nach Möglichkeit zu vereiteln streben« (S.71). Dies allerdings, wenn die Sozialdemokratie nach kleinbürgerlicher Art an dem müßigen Geschäft des Auswählens aller guten Seiten und des Wegwerfens schlechter Seiten der Geschichte Geschmack fände. Nur müßte sie dann folgerichtig auch den ganzen Kapitalismus überhaupt »zu vereiteln streben«, denn er ist doch unbestreitbar der Hauptbösewicht, der ihr alle Hindernisse auf dem Wege zum Sozialismus stellt. Tatsächlich gibt der Kapitalismus neben und zugleich mit Hindernissen auch die einzigen Möglichkeiten, das sozialistische Programm zu verwirklichen. Dasselbe gilt aber vollkommen auch in bezug auf die Demokratie.

Ist die Demokratie für die Bourgeoisie teils überflüssig, teils hinderlich geworden, so ist sie für die Arbeiterklasse dafür notwendig und unentbehrlich. Sie ist erstens notwendig, weil sie politische Formen (Selbstverwaltung, Wahlrecht u.dergl.) schafft, die als Ansätze und Stützpunkte für das Proletariat bei seiner Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft dienen werden. Sie ist aber zweitens unentbehrlich, weil nur in ihr, in dem Kampfe um die Demokratie, in der Ausübung ihrer Rechte das Proletariat zum Bewußtsein seiner Klasseninteressen und seiner geschichtlichen Aufgaben kommen kann.

Mit einem Worte, die Demokratie ist unentbehrlich, nicht weil sie die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat überflüssig, sondern umgekehrt, weil sie diese Machtergreifung ebenso notwendig, wie auch einzig möglich macht. Wenn Engels die Taktik der heutigen Arbeiterbewegung in seinem Vorwort zu den »Klassenkämpfen in Frankreich« revidierte und den Barrikaden den gesetzlichen Kampf entgegenstellte, so behandelte er - was aus jeder Zeile des Vorwortes klar ist - nicht die Frage der endgültigen Eroberung der politischen Macht, sondern die des heutigen alltäglichen Kampfes, nicht das Verhalten des Proletariats gegenüber dem kapitalistischen Staate im Moment der Ergreifung der Staatsgewalt, sondern sein Verhalten im Rahmen des kapitalistischen Staates. Mit einem Wort, Engels gab die Richtschnur dem beherrschten Proletariat und nicht dem siegreichen.

Umgekehrt bezieht sich der bekannte Ausspruch von Marx über die Bodenfrage in England, auf den sich Bernstein gleichfalls beruft: »man käme wahrscheinlich am billigsten fort, wenn man die Landlords auskaufte«, nicht auf das Verhalten des Proletariats vor seinem Siege, sondern nach dem Siege. Denn von »Auskaufen« der herrschenden Klassen kann offenbar nur dann die Rede sein, wenn die Arbeiterklasse am Ruder ist. Was Marx somit hier als möglich in Erwägung zog, ist die friedliche Ausübung der proletarischen Diktatur und nicht die Ersetzung der Diktatur durch kapitalistische Sozialreformen.

Die Notwendigkeit selbst der Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat war ebenso für Marx wie Engels zu allen Zeiten außer Zweifel. Und es blieb Bernstein vorbehalten, den Hühnerstall des bürgerlichen Parlamentarismus für das berufene Organ zu halten, wodurch die gewaltigste weltgeschichtliche Umwälzung: die Überführung der Gesellschaft aus den kapitalistischen in sozialistische Formen vollzogen werden soll.

Aber Bernstein hat ja seine Theorie bloß mit der Befürchtung und der Warnung angefangen, daß das Proletariat nicht zu früh ans Ruder komme! In diesem Falle müßte es nämlich nach Bernstein die bürgerlichen Zustände ganz so lassen, wie sie sind und selbst eine furchtbare Niederlage erleiden. Was aus dieser Befürchtung vor allem ersichtlich, ist, daß die Bernsteinsche Theorie für das Proletariat, falls es durch die Verhältnisse ans Ruder gebracht wäre, nur Eine »praktische« Anweisung hat: sich schlafen zu legen. Damit richtet sie sich aber ohne weiteres selbst, als eine Auffassung, die das Proletariat in den wichtigsten Fällen des Kampfes zur Untätigkeit, also zum passiven Verrate an der eigenen Sache verurteilt.

Tatsächlich wäre unser ganzes Programm ein elender Wisch Papier, wenn es uns nicht für alle Eventualitäten und in allen Momenten des Kampfes zu dienen, und zwar durch seine Ausübung und nicht durch seine Nichtausübung zu dienen imstande wäre. Ist unser Programm einmal die Formulierung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus, dann muß es offenbar auch alle Übergangsphasen dieser Entwicklung formulieren, in sich in den Grundzügen enthalten, also auch das entsprechende Verhalten im Sinne der Annäherung zum Sozialismus in jedem Moment dem Proletariat anweisen können. Daraus folgt, daß es überhaupt für das Proletariat keinen Augenblick geben kann, in dem es gezwungen wäre, sein Programm im Stiche zu lassen, oder wo es von diesem Programm könnte im Stiche gelassen werden.

Praktisch äußert sich das in der Tatsache, daß es keinen Moment geben kann, in dem das Proletariat, durch den Gang der Dinge ans Ruder gebracht, nicht in der Lage und auch nicht verpflichtet wäre, gewisse Maßregeln zur Verwirklichung seines Programms, gewisse Übergangsmaßregeln im Sinne des Sozialismus zu treffen. Hinter der Behauptung, das sozialistische Programm könnte in irgend einem Augenblick der politischen Herrschaft des Proletariats völlig versagen und gar keine Anweisungen zu seiner Verwirklichung geben, steckt unbewußt die andere Behauptung: das sozialistische Programm sei überhaupt und jederzeit unrealisierbar.

Und wenn die Übergangsmaßregeln verfrüht sind? Diese Frage birgt in sich einen ganzen Knäuel von Mißverständnissen in bezug auf den wirklichen Gang sozialer Umwälzungen.

Die Ergreifung der Staatsgewdurch das Proletariat, d.h. durch eine große Volksklasse, läßt sich vor allem nicht künstlich herbeiführen. Sie setzt von selbst, abgesehen von Fällen, wie die Pariser Kommune, wo die Herrschaft dem Proletariat nicht als Ergebnis seines zielbewußten Kampfes, sondern ausnahmsweise als von allen verlassenes herrenloses Gut in den Schoß fiel, einen bestimmten Reifegrad der ökonomisch-politischen Verhältnisse voraus. Hier liegt der Hauptunterschied zwischen blanquistischen Staatsstreichen einer »entschlossenen Minderheit«, die jederzeit wie aus der Pistole geschossen und eben deshalb immer unzeitgemäß kommen, und der Eroberung der Staatsgewalt durch die große und klassenbewußte Volksmasse, die selbst nur das Produkt eines beginnenden Zusammenbruches der bürgerlichen Gesellschaft sein kann, deshalb in sich selbst die ökonomisch-politische Legitimation ihrer zeitgemäßen Erscheinung trägt.

Kann somit die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse vom Standpunkt der gesellschaftlichen Voraussetzungen gar nicht »zu früh« geschehen, so muß sie andererseits vom Standpunkte des politischen Effekts: der Festhaltung der Gewalt, notwendig »zu früh« stattfinden. Die verfrühte Revolution, die Bernstein nicht schlafen läßt, bedroht uns wie das Damoklesschwert, und dagegen hilft kein Bitten und Beten, kein Bangen und Zagen. Und zwar aus zwei sehr einfachen Gründen.

Erstens ist eine so gewaltige Umwälzung, wie die Überführung der Gesellschaft aus der kapitalistischen in die sozialistische Ordnung, ganz undenkbar auf einen Schlag, durch einen siegreichen Streich des Proletariats. Dies als möglich voraussetzen, hieße wiederum eine echt blanquistische Auffassung an den Tag legen. Die sozialistische Umwälzung setzt einen langen und hartnäckigen Kampf voraus, wobei das Proletariat allem Anscheine nach mehr als einmal zurückgeworfen wird, so daß es das erstemal, vom Standpunkte des Endresultates des ganzen Kampfes gesprochen, notwendig »zu früh« ans Ruder gekommen sein wird.

Zweitens aber läßt sich das »verfrühte« Ergreifen der Staatsgewauch deshalb nicht vermeiden, weil diese »verfrühten« Angriffe des Proletariats eben selbst ein, und zwar sehr wichtiger Faktor sind, der die politischen Bedingungen des endgültigen Sieges schafft, indem das Proletariat erst im Laufe jener politischen Krise, die seine Machtergreifung begleiten wird, erst im Feuer langer und hartnäckiger Kämpfe den erforderlichen Grad der politischen Reife erreichen kann, der es zur endgültigen großen Umwälzung befähigen wird. So stellen sich denn jene »verfrühten« Angriffe des Proletariats auf die politische Staatsgewselbst als wichtige geschichtliche Momente heraus, die auch den Zeitpunkt des endgültigen Sieges mitherbeiführen und mitbestimmen. Von diesem Standpunkte erscheint die Vorstellung einer »verfrühten« Eroberung der politischen Macht durch das arbeitende Volk als ein politischer Widersinn, der von einer mechanischen Entwicklung der Gesellschaft ausgeht und einen außerhalb und unabhängig vom Klassenkampf bestimmten Zeitpunkt für den Sieg des Klassenkampfes voraussetzt.

Da aber das Proletariat somit gar nicht imstande ist, die Staatsgewanders als »zu früh« zu erobern, oder mit anderen Worten, da es sie unbedingt einmal oder mehrmals »zu früh« erobern muß, um sie schließlich dauernd zu erobern, so ist die Opposition gegen die »verfrühte« Machtergreifung nichts als die Opposition gegen die Bestrebung des Proletariats überhaupt, sich der Staatsgewzu bemächtigen.

Also auch von dieser Seite gelangen wir folgerichtig, wie durch alle Straßen nach Rom, zu dem Ergebnis, daß die revisionistische Anweisung, das sozialistische Endziel fallen zu lassen, auf die andere hinauskommt, auch die ganze sozialistische Bewegung aufzugeben, (daß sein Rat an die Sozialdemokratie, sich im Falle der Machteroberung »schlafen zu legen«, mit dem anderen identisch ist: sich nun und überhaupt schlafen zu legen, d.h. auf den Klassenkampf zu verzichten).

4. Der Zusammenbruch

Bernstein hat seine Revision des sozialdemokratischen Programms mit dem Aufgeben der Theorie des kapitalistischen Zusammenbruchs angefangen. Da aber der Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft ein Eckstein des wissenschaftlichen Sozialismus ist, so mußte die Entfernung dieses Ecksteins logisch zum Zusammenbruche der ganzen sozialistischen Auffassung bei Bernstein führen. Im Laufe der Debatte gibt er, um seine erste Behauptung aufrecht zu erhalten, eine Position des Sozialismus nach der anderen preis.

Ohne Zusammenbruch des Kapitalismus ist die Expropriation der Kapitalistenklasse unmöglich - Bernstein verzichtet auf die Expropriation und stellt als Ziel der Arbeiterbewegung die allmähliche Durchführung des »Genossenschaftlichkeitsprinzips« auf.

Aber die Genossenschaftlichkeit läßt sich inmitten der kapitalistischen Produktion nicht durchführen - Bernstein verzichtet auf die Vergesellschaftung der Produktion und kommt auf die Reform des Handels, auf den Konsumverein.

Aber die Umgestaltung der Gesellschaft durch die Konsumvereine, auch mit Gewerkschaften zusammen, verträgt sich nicht mit der tatsächlichen materiellen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft - Bernstein gibt die materialistische Geschichtsauffassung auf.

Aber seine Auffassung von dem Gang der ökonomischen Entwicklung verträgt sich nicht mit dem Marxschen Mehrwertgesetz - Bernstein gibt das Mehrwert- und das Wertgesetz und damit die ganze ökonomische Theorie von Karl Marx auf.

Aber ohne bestimmtes Endziel und ohne ökonomischen Boden in der gegenwärtigen Gesellschaft kann der proletarische Klassenkampf nicht geführt werden - Bernstein gibt den Klassenkampf auf und verkündet die Aussöhnung mit dem bürgerlichen Liberalismus.

Aber in einer Klassengesellschaft ist der Klassenkampf eine ganz natürliche, unvermeidliche Erscheinung - Bernstein bestreitet in weiterer Konsequenz sogar das Bestehen der Klassen in unserer Gesellschaft: die Arbeiterklasse ist ihm bloß ein Haufen nicht nur politisch und geistig, sondern auch wirtschaftlich zersplitterter Individuen. Und auch die Bourgeoisie wird nach ihm nicht durch innere ökonomische Interessen, sondern bloß durch äußeren Druck von oben oder von unten - politisch zusammengehalten.

Aber wenn es keinen ökonomischen Boden für den Klassenkampf und im Grunde genommen auch keine Klassen gibt, so erscheint nicht nur der künftige Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie unmöglich, sondern auch der bisherige, so erscheint die Sozialdemokratie selbst mit ihren Erfolgen unbegreiflich. Oder aber sie wird begreiflich gleichfalls nur als Resultat des politischen Regierungsdruckes, nicht als gesetzmäßiges Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung, sondern als Zufallsprodukt des hohenzollernschen Kurses, nicht als legitimes Kind der kapitalistischen Gesellschaft, sondern als Bastard der Reaktion. So führt Bernstein mit zwingender Logik von der materialistischen Geschichtsauffassung zu der »Frankfurter« und der »Vossischen Zeitung«.

Es bleibt nur noch übrig, nachdem man die ganze sozialistische Kritik der kapitalistischen Gesellschaft abgeschworen hat, das Bestehende wenigstens irn großen und ganzen auch befriedigend zu finden. Und auch davor schreckt Bernstein nicht zurück: er findet jetzt die Reaktion in Deutschland nicht so stark, »in den westeuropäischen Staaten ist von politischer Reaktion nicht viel zu merken«, in fast allen Ländern des Westens ist »die Haltung der bürgerlichen Klassen der sozialistischen Bewegung gegenüber höchstens eine der Defensive und keine der Unterdrückung« ('Vorwärts' vom 26. März 1899). Die Arbeiter sind nicht verelendet, sondern im Gegenteil immer wohlhabender, die Bourgeoisie ist politisch fortschrittlich und sogar moralisch gesund, von Reaktion und Unterdrückung ist nichts zu sehen, - und alles geht zum besten in dieser besten der Welten...

So kommt Bernstein ganz logisch und folgerichtig von A bis herunter auf Z. Er hatte damit angefangen, das Endziel um der Bewegung willen aufzugeben. Da es aber tatsächlich keine sozialdemokratische Bewegung ohne das sozialistische Endziel geben kann, so endet er notwendig damit, daß er auch die Bewegung selbst aufgibt.

Die ganze sozialistische Auffassung Bernsteins ist somit zusammengebrochen. Aus dem stolzen, symmetrischen, wunderbaren Bau des Marxschen Systems ist bei ihm nunmehr ein großer Schutthaufen geworden, in dem Scherben aller Systeme, Gedankensplitter aller großen und kleinen Geister eine gemeinsame Gruft gefunden haben. Marx und Proudhon, Leo von Buch und Franz Oppenheimer, Friedrich Albert Lange und Kant, Herr Prokopovitsch und Dr. Ritter von Neupauer, Herkner und Schulze-Gävernitz, Lassalle und Prof. Julius Wolf - alle haben ihr Scherflein zu dem Bernsteinschen System beigetragen, bei allen ist er in die Lehre gegangen. Und kein Wunder! Mit dem Verlassen des Klassenstandpunktes hat er den politischen Kompaß, mit dem Aufgeben des wissenschaftlichen Sozialismus die geistige Kristallisationsachse verloren, um die sich einzelne Tatsachen zum organischen Ganzen einer konsequenten Weltanschauung gruppieren.

Diese aus allen möglichen Systembrocken unterschiedslos zusammengewürfelte Theorie scheint auf den ersten Blick ganz vorurteilslos zu sein. Bernstein will auch nichts von einer »Parteiwissenschaft«, oder richtiger von einer Klassenwissenschaft, ebensowenig von einem Klassenliberalismus, einer Klassenmoral hören. Er meint eine allgemein menschliche, abstrakte Wissenschaft, abstrakten Liberalismus, abstrakte Moral zu vertreten. Da aber die wirkliche Gesellschaft aus Klassen besteht, die diamentral entgegengesetzte Interessen, Bestrebungen und Auffassungen haben, so ist eine allgemein menschliche Wissenschaft in sozialen Fragen, ein abstrakter Liberalismus, eine abstrakte Moral vorläufig eine Phantasie, eine Selbsttäuschung. Was Bernstein für seine allgemein menschliche Wissenschaft, Demokratie und Moral hält, ist bloß die herrschende, d.h. die bürgerliche Wissenschaft, die bürgerliche Demokratie, die bürgerliche Moral.

In der Tat! Wenn er das Marxsche ökonomische System abschwört, um auf die Lehren von Brentano, Böhm-Jevons, Say, Julius Wolf zu schwören, was tut er anderes, als die wissenschaftliche Grundlage der Emanzipation der Arbeiterklasse mit dem Apologetentum (Verherrlichung) der Bourgeoisie vertauschen? Wenn er von dem allgemein menschlichen Charakter des Liberalismus spricht und den Sozialismus in seine Abart verwandelt, was tut er anderes, als dem Sozialismus den Klassencharakter, also den geschichtlichen Inhalt, also überhaupt jeden Inhnehmen und damit umgekehrt die historische Trägerin des Liberalismus, die Bourgeoisie, zur Vertreterin der allgemein menschlichen Interessen machen?

Und wenn er gegen »die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten (allmächtigen) Mächten der Entwicklung«, gegen die »Verachtung des Ideals« in der Sozialdemokratie zu Felde zieht, wenn er dem Idealismus, der Moral das Wort redet, gleichzeitig aber gegen die einzige Quelle der moralischen Wiedergeburt des Proletariats, gegen den revolutionären Klassenkampf eifert - was tut er im Grunde genommen anderes, als der Arbeiterklasse die Quintessenz der Moral der Bourgeoisie: die Aussöhnung mit der bestehenden Ordnung und die Übertragung der Hoffnung ins jenseits der sittlichen Vorstellungswelt predigen?

Indem er endlich gegen die Dialektik seine schärfsten Pfeile richtet, was tut er anders, als gegen die spezifische Denkweise des aufstrebenden klassenbewußten Proletariats ankämpfen? Gegen das Schwert ankämpfen, das dem Proletariat die Finsternis seiner historischen Zukunft hat durchhauen helfen, gegen die geistige Waffe, womit es, materiell noch im Joch, die Bourgeoisie besiegt, weil es sie ihrer Vergänglichkeit überführt, ihr die Unvermeidlichkeit seines Sieges nachgewiesen, die Revolution im Reiche des Geistes bereits vollzogen hat! Indem Bernstein von der Dialektik Abschied nimmt und die Gedankenschaukel des Einerseits-Andererseits, Zwar-Aber, Obgleich-Dennoch, Mehr-Weniger sich aneignet, verfällt er ganz folgerichtig in die historisch-bedingte Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, eine Denkweise, die das getreue geistige Abbild ihres gesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist. (Caprivi-Hohenlohe, Berlepsch-Posadowsky, Februarerlasse - Zuchthausvorlage,) das politische Einerseits-Andererseits, Wenn und Aber der heutigen Bourgeoisie sieht genau so aus, wie die Denkweise Bernsteins, und die Bernsteinsche Denkweise ist das feinste und sicherste Symptom seiner bürgerlichen Weltanschauung.

Aber für Bernstein ist nunmehr auch das Wort »bürgerlich« kein Klassenausdruck, sondern ein allgemein-gesellschaftlicher Begriff. Das bedeutet nur, daß er - folgerichtig bis zum Punkt über dem i - mit der Wissenschaft, Politik, Moral und Denkweise auch die geschichtliche Sprache des Proletariats mit derjenigen der Bourgeoisie vertauscht hat. Indem Bernstein unter »Bürger« unterschiedslos den Bourgeois und den Proletarier, also den Menschen schlechthin versteht, ist ihm tatsächlich der Mensch schlechthin zum Bourgeois, die menschliche Gesellschaft mit der bürgerlichen identisch geworden.

(Wenn jemand zu Beginn der Diskussion mit Bernstein noch gehofft hat, ihn durch Argumente aus der wissenschaftlichen Rüstkammer der Sozialdemokratie überzeugen, ihn der Bewegung wiedergeben zu können, muß er diese Hoffnung gänzlich fallen lassen. Denn nun haben dieselben Worte aufgehört, für beide Seiten dieselben Begriffe, die nämlichen Begriffe haben aufgehört, dieselben sozialen Tatsachen auszudrücken. Die Diskussion mit Bernstein ist zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen, zweier Klassen, zweier Gesellschaftsformen geworden. Bernstein und die Sozialdemokratie stehen jetzt auf gänzlich verschiedenem Boden.)

5. Der Opportunismus in Theorie und Praxis

Das Bernsteinsche Buch hat für die deutsche und die internationale Arbeiterbewegung eine große geschichtliche Bedeutung gehabt: es war dies der erste Versuch, den opportunistischen Strömungen in der Sozialdemokratie eine theoretische Grundlage zu geben.

Die opportunistischen Strömungen datieren in unserer Bewegung, wenn man ihre sporadischen Äußerungen, wie in der bekannten Dampfsubventionsfrage, in Betracht zieht, seit längerer Zeit. Allein eine ausgesprochene einheitliche Strömung in diesem Sinne datiert erst seit Anfang der neunziger Jahre, seit dem Fall des Sozialistengesetzes und der Wiedereroberung des gesetzlichen Bodens. Vollmars Staatssozialismus, die bayerische Budgetabstimmung, der süddeutsche Agrarsozialismus, Heines Kompensationsvorschläge, Schippels Zoll- und Milizstandpunkt, das sind die Marksteine in der Entwicklung der opportunistischen Praxis.

Was kennzeichnete sie vor allem äußerlich? Die Feindseligkeit gegen »die Theorie«. Und dies ist ganz selbstverständlich, denn unsere »Theorie«, d.h. die Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus, setzen der praktischen Tätigkeit ebenso in bezug auf die angestrebten Ziele, wie auf die anzuwendenden Kampfmittel, wie endlich selbst auf die Kampfweise sehr feste Schranken. Daher zeigt sich bei denjenigen, die nur den praktischen Erfolgen nachjagen wollen, das natürliche Bestreben, sich die Hände frei zu machen, d.h. unsere Praxis von der »Theorie« zu trennen, von ihr unabhängig zu machen.

Aber dieselbe Theorie schlug sie bei jedem praktischen Versuch auf den Kopf: der Staatssozialismus, Agrarsozialismus, die Kompensationspolitik, die Milizfrage sind eben soviel Niederlagen für den Opportunismus. Es ist klar, daß diese Strömung, wollte sie sich gegen unsere Grundsätze behaupten, folgerichtig dazu kommen mußte, sich an die Theorie selbst, an die Grundsätze heranzuwagen, statt sie zu ignorieren, sie zu erschüttern suchen und eine eigene Theorie zurechtzumachen. Ein dahingehender Versuch war eben die Bernsteinsche Theorie, und daher sahen wir auf dem Parteitag in Stuttgart alle opportunistischen Elemente sich sofort um das Bernsteinsche Banner gruppieren. Sind einerseits die opportunistischen Strömungen in der Praxis eine ganz natürliche, aus den Bedingungen unseres Kampfes und seinem Wachstum erklärliche Erscheinung, so ist andererseits die Bernsteinsche Theorie ein nicht minder selbstverständlicher Versuch, diese Strömungen in einem allgemeinen theoretischen Ausdruck zusammenzufassen, ihre eigenen theoretischen Voraussetzungen herauszufinden und mit dem wissenschaftlichen Sozialismus abzurechnen. Die Bernsteinsche Theorie war daher von vornherein die theoretische Feuerprobe für den Opportunismus, seine erste wissenschaftliche Legitimation.

Wie ist nun diese Probe ausgefallen? Wir haben es gesehen. Der Opportunismus ist nicht imstande, eine einigermaßen die Kritik aushaltende positive Theorie aufzustellen. Alles, was er kann, ist: die Marxsche Lehre zuerst in verschiedenen einzelnen Grundsätzen zu bekämpfen und zuletzt, da diese Lehre ein fest zusammengefügtes Gebäude darstellt, das ganze System vom obersten Stockwerke bis zum Fundament zu zerstören. Damit ist erwiesen, daß die opportunistische Praxis in ihrem Wesen, in ihren Grundlagen mit dem Marxschen System unvereinbar ist.

Aber damit ist ferner noch erwiesen, daß der Opportunismus auch mit dem Sozialismus überhaupt unvereinbar ist, daß seine innere Tendenz dahin geht, die Arbeiterbewegung in bürgerliche Bahnen hinüberzudrängen, d.h. den proletarischen Klassenkampf völlig lahmzulegen. Freilich ist proletarischer Klassenkampf mit dem Marxschen System - geschichtlich genommen - nicht identisch. Auch vor Marx und unabhängig von ihm hat es eine Arbeiterbewegung und verschiedene sozialistische Systeme gegeben, die jedes in seiner Weise ein den Zeitverhältnissen entsprechender theoretischer Ausdruck der Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklasse waren. Die Begründung des Sozialismus durch moralische Gerechtigkeitsbegriffe, der Kampf gegen die Verteilungsweise, statt gegen die Produktionsweise, die Auffassung der Klassengegensätze als Gegensatz von arm und reich, die Bestrebung, die »Genossenschaftlichkeit« auf die kapitalistische Wirtschaft aufzupfropfen, alles das, was wir im Bernsteinschen System vorfinden, ist schon einmal dagewesen. Und diese Theorien waren ihrer Zeit bei all ihrer Unzulänglichkeit wirkliche Theorien des proletarischen Klassenkampfes, sie waren die riesenhaften Kinderschuhe, worin das Proletariat auf der geschichtlichen Bühne marschieren lernte.

Aber nachdem einmal die Entwicklung des Klassenkampfes selbst und seiner gesellschaftlichen Bedingungen zur Abstreifung dieser Theorien und zur Formulierung der Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus geführt hat, kann es - wenigstens in Deutschland - keinen Sozialismus mehr außer dem Marxschen, keinen sozialistischen Klassenkampf außerhalb der Sozialdemokratie geben. Nunmehr sind Sozialismus und Marxismus, proletarischer Emanzipationskampf und Sozialdemokratie identisch. Das Zurückgreifen auf vormarxsche Theorien des Sozialismus bedeutet daher heute nicht einmal den Rückfall in die riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats, nein, es ist ein Rückfall in die zwerghaften, ausgetretenen Hausschuhe der Bourgeoisie.

Die Bernsteinsche Theorie war der erste, aber zugleich auch der letzte Versuch, dem Opportunismus eine theoretische Grundlage zu geben. Wir sagen: der letzte, weil er in dem Bernsteinschen System ebenso negativ in der Abschwörung des wissenschaftlichen Sozialismus, wie positiv in der Zusammenwürfelung aller verfügbaren theoretitischen Konfusion so weit gegangen ist, daß ihm nichts zu tun mehr übrig bleibt. Durch das Bernsteinsche Buch hat der Opportunismus seine Entwicklung in der Theorie (wie durch die Schippelsche Stellungnahme zur Frage des Militarismus in der Praxis)S vollendet, seine letzten Konsequenzen gezogen.

Und die Marxsche Lehre ist nicht nur imstande, ihn theoretisch zu widerlegen, sondern sie ist es allein, die in der Lage ist, den Opportunismus als geschichtliche Erscheinung in dem Werdegange der Partei auch zu erklären. Der weltgeschichtliche Vormarsch des Proletariats bis zu seinem Siege ist tatsächlich »keine so einfache Sache«. Die ganze Besonderheit dieser Bewegung liegt darin, daß hier zum erstenmal in der Geschichte die Volksmassen selbst und gegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen, diesen Willen aber ins jenseits der heutigen Gesellschaft, über sie hinaus setzen müssen. Diesen Willen können sich die Massen aber wiederum nur im beständigen Kampfe mit der bestehenden Ordnung, nur in ihrem Rahmen ausbilden. Die Vereinigung der großen Volksmasse mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen Kampfes mit der großen Weltreform, das ist das große Problem der sozialdemokratischen Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgange zwischen den beiden Klippen: zwischen dem Aufgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels, zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung, zwischen Anarchismus und Opportunismus vorwärts arbeiten muß.

Die Marxsche Lehre hat freilich in ihrer theoretischen Rüstkammer schon vor einem halben Jahrhundert vernichtende Waffen ebenso gegen das eine wie gegen das andere Extrem geliefert. Da aber unsere Bewegung eben eine Massenbewegung ist, und die Gefahren, die ihr drohen, nicht aus den menschlichen Köpfen, sondern aus den gesellschaftlichen Bedingungen entspringen, so konnten die anarchistischen und die opportunistischen Seitensprünge nicht ein für allemal von vornherein durch die Marxsche Theorie verhütet werden: sie müssen, erst nachdem sie in der Praxis Fleisch geworden, durch die Bewegung selbst, allerdings nur mit Hilfe der von Marx gelieferten Waffen, überwunden werden. Die geringere Gefahr, die anarchistischen Kindheitsmasern, hat die Sozialdemokratie bereits mit der »Unabhängigenbewegung« überwunden. Die größere Gefahr - die opportunistische Wassersucht, überwindet sie gegenwärtig.

Bei dem enormen Wachstum der Bewegung in die Breite in den letzten Jahren, bei der Kompliziertheit der Bedingungen, worin und der Aufgaben, wofür nun der Kampf zu führen ist, mußte der Augenblick kommen, wo sich in der Bewegung Skeptizismus in bezug auf die Erreichung der großen Endziele, Schwankung in bezug auf das ideelle Element der Bewegung geltend machten. So und nicht anders kann und muß die große proletarische Bewegung verlaufen, und die Augenblicke des Wankens, des Zagens sind weit entfernt, eine Überraschung für die Marxsche Lehre zu sein, vielmehr von Marx längst vorausgesehen und vorausgesagt. »Bürgerliche Revolutionen«, schrieb Marx vor einem halben Jahrhundert in seinem »Achtzehnten Brumaire«, »wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages: aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!«

Dies ist wahr geblieben, auch nachdem die Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus aufgebaut worden ist. Die proletarische Bewegung ist damit noch nicht auf einmal, auch in Deutschland nicht, sozialdemokratisch geworden, sie wird sozialdemokratisch mit jedem Tage, sie wird es auch während und indem sie fortwährend die extremen Seitensprünge ins Anarchistische und ins Opportunistische überwindet, beides nur Bewegungsmomente der als Prozeß aufgefaßten Sozialdemokratie.

Angesichts dieses ist nicht die Entstehung der opportunistischen Strömung, sondern vielmehr ihre Schwäche überraschend. Solange sie bloß in Einzelfällen der Parteipraxis zum Durchbruch kam, konnte man noch hinter ihr eine irgendwie ernste theoretische Grundlage vermuten. Nun sie aber in dem Bernsteinschen Buche zum vollen Ausdruck gekommen ist, muß jedermann verwundert ausrufen: Wie, das ist alles, was Ihr zu sagen habt? Kein einziger Splitter von einem neuen Gedanken! Kein einziger Gedanke, der nicht schon vor Jahrzehnten von dem Marxismus niedergetreten, zerstampft, ausgelacht, in nichts verwandelt worden wäre!

Es genügte, daß der Opportunismus sprach, um zu zeigen, daß er nichts zu sagen hatte. Und darin liegt die eigentliche parteigeschichtliche Bedeutung des Bernsteinschen Buches.

Und so kann Bernstein noch beim Abschied von der Denkweise des revolutionären Proletariats, von der Dialektik und der materialistischen Geschichtsauffassung, sich bei ihnen für die mildernden Umstände bedanken, die sie seiner Wandlung zubilligen. Denn nur die Dialektik und die materialistische Geschichtsauffassung, hochherzig wie sie sind, lassen ihn als berufenes, aber unbewußtes Werkzeug erscheinen, wodurch das vorwärtsstürmende Proletariat seinen augenblicklichen Wankelmut zum Ausdruck gebracht hat, um ihn, bei Lichte besehen, hohnlachend und lockenschüttelnd weit von sich zu werfen.

[Wir haben gesagt: die Bewegung wird sozialdemokratisch, während und indem sie die mit Notwendigkeit sich aus ihrem Wachstum ergebenden Seitensprünge ins Anarchistische und Opportunistische überwindet. Aber überwinden, heißt nicht, in Seelenruhe alles gehen zu lassen, wie's Gott gefällt. Die jetzige opportunistische Strömung überwinden, heißt, sie von sich weisen.

Bernstein läßt sein Buch in den Rat an die Partei ausklingen, sie möge zu scheinen wagen, was sie sei: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei. Die Partei, d.h. ihr oberes Organ, der Parteitag müßte unseres Erachtens diesen Rat quittieren, indem er Bernstein veranlaßt, seinerseits auch formell als das zu erscheinen, was er ist: ein kleinbürgerlich-demokratischer Fortschrittler.]

Berlin 1899



Rosa Luxemburg


Massenstreik, Partei und Gewerkschaften


Letzte Änderung: 08. Oct. 2000, Adresse: /deutsch/rlsorad.html