Rosa Luxemburg über Streiks und Gewerkschaften

Einführung in die Nationalökonomie


Rosa Luxemburg


Frauenwahlrecht


Rosa Luxemburg

Der politische Massenstreik und die Gewerkschaften

Parteigenossen und Parteigenossinnen! Werte Anwesende!

Ich muß gestehen, daß ich nicht minder wie Sie überrascht war, als ich hier in der außerordentlichen Mitgliederversammlung des Metallarbeiterverbandes mehrere uniformierte Vertreter unserer Obrigkeit auf Erden erblickt habe. Ich habe erfahren, daß außer den paar hochgestellten Herren, die in diesem Raume weilen, auch noch eine ansehnliche Anzahl von Kommissaren und Schutzleuten in der nächstliegenden Wache aufgestapelt worden sind. (Bewegung) Parteigenossen und werte Anwesende! Ich muß gestehen, daß auf mich diese Überraschung anders gewirkt hat wie auf Sie. Nicht mit Entrüstung habe ich sie aufgenommen, sondern es ist ein wundervolles Gefühl der Sicherheit über mich gekommen. (Ironisches "Bravo!")

Parteigenossen! Sie sind hier in Hagen wohl noch nicht so weit in der preußischen Kultur wie wir in Berlin; ich komme aus der Hauptstadt Berlin, und es gibt einen Stadtteil in Berlin, der Moabit heißt. Wir haben dort gelernt, Parteigenossen, daß, wo man Sicherheit und Ordnung bewahren will, da ist die preußische Polizei direkt unentbehrlich. (Lachen) Verehrte Anwesende! Erst nachdem ich die Nachricht bekommen habe, daß unser Versammlungslokal so ausgiebig vom polizeilichen Schutz gesegnet worden ist, bin ich ganz ruhig, daß wir mit heilen Nasen, Ohren und Augen und sonstigen Körperteilen den Saal verlassen können. (Lachen) Ich muß Ihnen gestehen, daß ich anscheinend eine ganz besondere Anziehungskraft gegenüber der Polizei besitze. (Heiterkeit) Ich muß gestehen, daß ich jedesmal eine gewisse Freude und als Referentin auch eine gewisse Dankbarkeit empfinde gegenüber der löblichen Polizei. Ich muß Ihnen sagen, gerade die Anwesenheit dieser Herren mit ihren behelmten Häuptern gibt der Sache eine gewisse Spitze. ("Sehr gut!") Und heute ist gerade die Anwesenheit der löblichen Polizei eine hübsche Folie für das Thema, das wir am heutigen Abend behandeln werden.

Ich werde im Laufe des heutigen Abends hoffentlich noch eine Gelegenheit haben, den speziellen Zusammenhang zwischen den Massenaktionen und Massendemonstrationen des Proletariats und der löblichen Polizei zu beleuchten. Ich glaube, es ist gut, wenn auch diese Herren einmal die Gelegenheit haben, zu hören, was wir von ihnen denken. ("Sehr richtig!") Ich verliere nie die Hoffnung, daß auch sie mal etwas lernen können, und daher sollten wir doch nicht so geizig sein mit unseren Worten und Lehren. Wir wollen auch einmal unsere Perlen vor die - preußische Polizei werfen.

Parteigenossen und werte Anwesende! In der Tat kann kein Thema in dem gegenwärtigen Moment in einer deutschen Gewerkschaftsversammlung aktueller sein als das Thema: Massenstreik und Gewerkschaften. Wir haben uns hier versammelt, um dieses Thema zu diskutieren, nachzudenken, gewissermaßen zwischen zwei gewaltigen Schlachten. Erst vor wenigen Wochen haben Sie hier in Hagen auf Schwelm einen mustergültigen großartigen Kampf ausgefochten, wie er die Aufmerksamkeit und die Bewunderung der gesamten klassenbewußten Arbeiterschaft in Deutschland verdient, und in kurzer Zeit, werte Anwesende, werden Sie vielleicht gezwungen sein, Sie und Ihre zahllosen Kollegen und Kameraden in ganz Deutschland, in einen so gewaltigen Kampf einzutreten, wie wir ihn in Deutschland noch niemals erlebt haben. Sie wissen alle, daß in wenigen Tagen, übermorgen, die Vertreter der organisierten Arbeiterschaft mit den gewaltigen Kapitalmagnaten der Schiffsbauwerften in Verhandlung treten, wonach entschieden werden soll, ob 400 000 deutsche Metallarbeiter aufs Pflaster geworfen werden.

Parteigenossen! Sollte es zur Tat werden und sollte daraus folgen, was höchstwahrscheinlich von der Solidarität, von dem Klassenbewußtsein, von der Kampfenergie der gesamten organisierten Metallarbeiterschaft zu erwarten ist, so würden wir in ganz Deutschland Zeugen eines Kampfes sein, wie er vielleicht in der Welt noch nie dagewesen ist, denn zusammen mit den nächsten Angehörigen und mit den Familien würden vielleicht eine Million Menschen im Kampfe sein, in einem Kampfe, in dem es sich handelt um Sein oder Nichtsein zwischen der stärksten Gewerkschaftsorganisation und dem übermächtigen protzigen Kapital.

Parteigenossen! In einem solchen Moment, wie ich gesagt habe zwischen zwei gewaltigen Schlachten, ist gerade angezeigt für uns, über das Thema hier zu sprechen und nachzudenken, was für uns die aktuellste Frage des Gestern und des Morgen bedeutet. So, Parteigenossen, so, werte Anwesende, lernt einmal die kämpfende, organisierte Arbeiterklasse in Deutschland und anderwärts, mitten im Schlachtfelde, mitten im Feuer des Kampfes, einen Moment erhaschen, um nachzudenken, zu analysieren, um das Bewußtsein zu schärfen, um die Waffen zu prüfen, die sie im Kampfe anzuwenden hat.

Und das ist ganz natürlich, das ergibt sich aus dem Wesen des Arbeiterkampfes selbst. Die moderne proletarische Klasse führt ihren Kampf nicht nach irgendeinem fertigen, in einem Buch, in einer Theorie niedergelegten Schema, der moderne Arbeiterkampf ist ein Stück in der Geschichte, ein Stück der Sozialentwicklung, und mitten in der Geschichte, mitten in der Entwicklung, mitten im Kampf lernen wir, wie wir kämpfen müssen. Parteigenossen und werte Anwesende! Das ist ja gerade das Bewundernswerte das ist ja gerade das Epochemachende dieses kolossalen Kulturwerks, das in der modernen Arbeiterbewegung liegt: Daß zuerst die gewaltige Masse des arbeitenden Volkes selbst aus eigenem Bewußtsein, aus eigener Überzeugung und auch aus eigenem Verständnis sich die Waffen zu ihrer eigenen Befreiung schmiedet. Und deshalb ist es außerordentlich wichtig, daß wir solche kurzen Momente des Stillstandes zwischen Schlachten, wie wir sie hier erleben, vollauf ausnutzen zu kriegerischen Erwägungen, zur Analyse, zur Prüfung aller Seiten, aller Fragen, aller Probleme, die das Leben an uns stellt.

Eines der wichtigsten Probleme, die jetzt sowohl die gewerkschaftlichen wie die sozialistischen Organisationen beschäftigen, nicht nur in Deutschland, sondern in allen modernen Ländern, ist das Problem des Massenstreiks. Und nun sehen Sie, wie eine interessante Erscheinung sich dabei herausstellt. Wie sooft, ergibt sich hier, daß für unser soziales politisches Leben und Tun vollauf gilt, was Mephisto in Goethes »Faust« gesagt hat: "Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage." Alles verändert sich mit der Zeit.

Das erste Gebot der politischen Kämpfer, wie wir es sind, ist es, mit der Entwicklung der Zeit zu gehen und sich jederzeit Rechenschaft abzulegen über die Veränderung in der modernen Welt wie auch über eine Veränderung unserer Kampfstrategie. Parteigenossen und werte Anwesende! In der Geschichte der Idee vom Massenstreik hat sich das ewige Gesetz der geschichtlichen Entwicklung in glänzender und schlagender Weise bestätigt. Sie wissen alle wohl, daß die Idee des Massenstreiks oder, wie er früher hieß Generalstreik, keine Erfindung der letzten Tage oder Jahre ist ...

So standen die Dinge noch vor kurzem, und was sehen wir heutzutage? Blicken wir auf die bloßen Tatsachen hin, auf die Ergebnisse des letzten Jahrzehnts, auf die Jahre 1900 bis jetzt, blicken wir auf alle die Länder der kapitalistischen Entwicklung, so müssen wir konstatieren, daß in einem Lande nach dem andern, in einem Jahre nach dem andern, die gewaltigen Generalstreiks und Massenstreiks ausbrechen - Parteigenossen! Ich will Ihnen nur noch einige der wichtigsten in Erinnerung rufen. Im Jahre 1900 hatten wir den gewaltigen Bergarbeiterstreik der Bergarbeiter in Pennsylvanien, von dem die amerikanischen Parteigenossen behaupteten und erklärten, er habe für die Ausbreitung des sozialistischen Klassenbewußtseins mehr getan, als 10 Jahre Agitation es sonst tun. Im Jahre 1902 hatten wir den großen Massenstreik der Bergarbeiter in Österreich, der zunächst, wie es den Anschein hatte, resultatlos verlief, der aber in der Folge durch die Umstimmung der öffentlichen Meinung und durch den Druck auf die Regierung und auf das Parlament den neunstündigen Arbeitstag für die Bergarbeiter erobert hat. Wir hatten 1903 den Massenstreik der Bergarbeiter in Frankreich, der im weiteren Verlauf für die französischen Bergarbeiter den achtstündigen Arbeitstag erobert hat. Wir hatten noch im Jahre 1902 in Belgien den großen Massenstreik, den politischen Streik, den Kampf um das allgemeine Wahlrecht. Wir hatten 1904, gerade zu Beginn, im Januar, den gewaltigen Generalstreik der holländischen Eisenbahner, der den kolossalsten Eindruck auf die Welt gemacht hat und der die unerhörte Kunde verbreitet hat, daß plötzlich in Holland der ganze Verkehr und damit das ganze wirtschaftliche Leben lahmgelegt wurde, und der erst durch den Willen einer bestimmten Kategorie von Arbeitern zum Stillstand gebracht werden konnte. Und dann, Parteigenossen, kam das Jahr 1905. Im Januar des Jahres 1905 kam nach Europa eine Kunde, die wie aus einem Märchenlande lautete. Das war die Kunde, daß in der nördlichen Hauptstadt des Zaren aller Reußen - in Petersburg plötzlich 100000 bis 200000 Proletarier den Massenstreik erklärt haben und zu gleich sich vor das Schloß begeben haben, um politische Freiheit und den Achtstundentag zu fordern. Nun, Parteigenossen, seit jenem Tage verging kein Monat, ja, kein Tag, da nicht in Rußland lokale Generalstreiks und Massenstreiks ausbrachen. In einem Lande, von dem bisher angenommen wurde, daß es überhaupt eine Ausnahme der alten Kulturländer darstellt. In einem Lande, von dem man annahm, daß die Gesetze der historischen Entwicklung ohnmächtig an seinen Grenzen, an seiner Schwelle zusammenbrechen, in einem Lande, nach welchem die Machthaber aus Deutschland und speziell aus Preußen hinblickten, weil sie glaubten, dort sei der einzige Landesvater, dem seine Landeskinder so gar keine Sorge machten. Parteigenossen! In diesem Lande erhob sich zuerst eine gewaltige Masse von Proletariern und gebrauchte das Werkzeug des Massenstreiks, die Waffe des Massenstreiks, des politischen und gewerkschaftlichen zugleich, zum Kampfe gegen die Ausbeuterklasse und zur Eroberung der politischen Freiheit. Und als ein lebhaftes Echo, als ein Nachhall dieser Sturmperiode, hatten wir im Herbst in Österreich eine Reihe gewaltiger Massenstreiks als Demonstration und Kampfmittel für das allgemeine Wahlrecht zum Reichsrat und den einzelnen Landtagen in Böhmen, Galizien und Triest. Im Jahre 1905 gleichfalls hatten wir in Italien den kolossalen Streik der Eisenbahner, in Galizien den Massenstreik von 200000 Landarbeitern, derjenigen Kategorie, die im tiefsten Elend, in der tiefsten Erniedrigung lebt. Seitdem vergeht kein Jahr ohne einen gewaltigen Massenstreik in diesem oder jenem Lande. Im vergangenen Jahre, 1909, hatten wir den unvergeßlichen Generalstreik in Schweden, der Ihnen allen in frischer Erinnerung ist. In diesem Moment, in diesem Jahre hatten wir - ich werde Ihnen das, was Sie selbst erlebt haben, nicht in Erinnerung zu rufen brauchen - in Amerika zwei glänzend durchgeführte und siegreiche Massenstreiks. Der erste begann im März und endete im April, das war der Massenstreik in Philadelphia, der zweite, jüngst erst beendete, war der Generalstreik von 70 000 männlichen und weiblichen Arbeitern der Frauenindustrie in New York, die es durchgesetzt haben, daß in der ganzen Branche in sämtlichen Werkstätten nur das als Gesetz gilt, was die Gewerkschaft der Arbeiter bestimmt. ("Bravo!") Parteigenossen! Das ist sozusagen ein kurzer Überblick über die nackten Tatsachen der Geschichte des Massenstreiks des letzten Jahrzehnts. Und es genügt, diese Tatsachen festzustellen, um daraus den Schluß zu ziehen: Es hat sich in den Bedingungen der Verwirklichung des Massenstreiks Gewaltiges verändert in der letzten Zeit. Haben wir denn einen Grund anzunehmen oder zu denken, daß alle diese Massenstreiks und Generalstreiks, die ich Ihnen aufgezählt habe, sozusagen ein verspäteter Triumph der anarchistischen Idee sei? Nein, durchaus nicht, werte Anwesende, durchaus sind es nicht die Anarchisten, die einen Grund zum Triumphieren und uns nicht darauf hinzuweisen haben, daß wir sozusagen mit Verspätung darauf gekommen sind. Merken Sie sich wohl, daß gerade in allen den Ländern, wo die wirksamsten und machtvollsten Massenstreiks in der letzten Zeit zustande gekommen sind, daß dort der Anarchismus gänzlich ausgestorben ist, und merken Sie sich die interessante Tatsache, daß während der russischen Revolution in jenem Lande, wo der Massenstreik als politisches Kampfmittel gewissermaßen aus der Taufe gehoben ist, gewissermaßen als epochemachendes glänzendes Beispiel angewandt worden ist, daß in diesem Lande, das außerdem die Wiege des bekannten Theoretikers und Anarchisten Michael Bakunin ist, mit dem noch Marx und Engels in der Internationale heftige Kämpfe führen mußten - daß in Rußland selbst während der ganzen großen Revolution der Anarchismus nicht nur keine Rolle gespielt hat, sondern daß er gänzlich heruntergestampft worden ist von den siegreichen Scharen des organisierten Proletariats. ("Bravo!") Denn, Parteigenossen, diese Tatsache muß doch geschichtlich hervorgehoben werden, in der einzigen Form, in der sich der Name des Anarchismus dieser Schablone in der russischen Revolution erblicken ließ, das war das Aushängeschild des Lumpenproletariats, der Diebe, der Banditen und Strolche, die, um in irgendeinen idealen Mantel sich einzukleiden, sich anarchistische Kommunisten nannten und von der ganzen sozialistischen Arbeiterschaft als das was sie sind, die Vertreter des Lumpenproletariats erkannt wurden. Parteigenossen! Somit trennt sich gewissermaßen gleich zu Beginn unserer jetzigen Entwicklungsperiode die Idee des Massenstreiks von den anarchistischen Nährvätern und Propagandisten des Generalstreiks vollständig. Die Idee des Massenstreiks tritt auf als direkter Gegensatz zu den Hirngespinsten des Anarchismus. Denn, Parteigenossen und werte Anwesende, während für die alten Anarchisten die Idee des Generalstreiks ein wundertätiges Mittel sein sollte, um gewissermaßen durch einen Zauberschlag von heute auf morgen, ohne große Mühe, plötzlich in ein Paradies des Sozialismus hinüberzuspringen, während für die Anarchisten die Idee des Massenstreiks ein direkter Gegensatz zur politischen Betätigung, zum politischen Kampf war, erblicken wir jetzt umgekehrt den Massenstreik als politische Waffe, die am meisten dazu dient, dem Volke politische Rechte zu erobern.

Polizeieinsatz gegen Streikende, Dortmund 1912
Polizeieinsatz gegen Streikende, Dortmund 1912

So, verehrte Anwesende, stellen sich die Tatsachen dar, und nun haben wir allen Grund, uns als denkende Kämpfer die Frage vorzulegen: Was ist geschehen, wieso ist es möglich geworden, daß eine Idee, deren Ausführbarkeit so lange Zeit unpraktisch erschien, unrealisierbar erschien, daß sie gewissermaßen jetzt zur täglichen Erscheinung geworden ist, daß sie heute auf jeder Tagesordnung der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung steht? Wenn Sie die Antwort auf diese Idee mit jener Gründlichkeit geben wollen, die zu einem ernsten Politiker gehört, so müssen Sie vor allem einen Blick in die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte und namentlich des letzten Jahrzehnts werfen. Werte Anwesende und Parteigenossen, diejenigen, die in einem der wichtigsten Punkte des westlichen Industriegebietes wohnen, wissen selbst, was sie am eigenen Leibe erfahren haben. Der hervorragende Zug in der Entwicklung Deutschlands in der letzten Zeit ist die gewaltige Konzentration des Kapitals, die Konzentration und Ansammlung der Großindustrie in ihrer Macht gegenüber dem Proletariat! Parteigenossen, erinnern Sie sich, daß vor etwa 12 Jahren in unseren eigenen Reihen, in den Reihen der Sozialdemokratie, sich sehr laute Zweifelstimmen hören ließen, die die Revision der ganzen Marxschen Lehre verlangten, die behaupteten, das, was Marx gesagt habe über die Linie, über die Richtung der organisatorischen Entwicklung des Kapitals, das sei alles, was zum alten Eisen geworfen werden müsse. Denn in Wirklichkeit entwickele sich der deutsche Kapitalismus nicht wie es Marx prophezeit habe. Man sagte, die Konzentration des Kapitals geht nicht so vor sich, denn viele kleine Betriebe erhalten sich noch am Leben, und auf diese Weise habe das Proletariat durchweg nicht so rasch nötig, mit der kapitalistischen Herrschaft ein Ende zu machen, und - Parteigenossen - kaum war diese Ansicht ausgesprochen, kaum begann das große Werk der Revidierung der Marxschen Lehre, da kam das Leben selbst und zeigte - und zwar in so deutlicher Weise, daß selbst ein Blinder es sehen mußte -, zeigte, daß in Deutschland die kapitalistische Entwicklung gewissermaßen nach Marxschen Voraussetzungen in glänzender Weise bestätigte, was unsere Lehre vorausgesagt hatte. Nirgends so wie in Deutschland hat sich gerade im letzten Jahre das Kapital in dieser Übermacht gegenüber dem Proletariat zu einer gewaltigen Macht zusammengeballt.

Nirgends so wie in Deutschland, und speziell hier im westlichen Industriegebiet. Blicken Sie nur auf die wichtigsten Industriezweige. Überall ist fast das gesamte Kapital, die gesamte Macht über die Produktionsmittel konzentriert in wenigen Händen, von Kartellen, die allmächtig beherrschen das ganze Gebiet.

Daraus ergibt sich, Parteigenossen, daß auch auf politischem Gebiet jeder Schritt vorwärts, daß jedes politische Recht nicht anders, als durch die arbeitenden Massen selbst in einer großen kühnen Aktion oder vielmehr in vielen langen Aktionen der Massen draußen auf der Straße erworben werden kann. Wir haben ja bisher schon manchen Schritt vorwärts getan, wir haben erlebt, Parteigenossen, in diesem Kampfe um das preußische Wahlrecht, daß die bestehende herrschende Ordnung auch vor brutalsten Eingriffen in unsere bürgerlichen Rechte nicht zurückschreckt, um uns den Sieg zu erschweren. Denken wir alle an das schöne Erlebnis, das wir am 6. März im Berliner Tiergarten hatten, wo wir, eine vieltausendköpfige Menge, ganz ruhig und friedlich in der Frühlingssonne standen und nichts anderes taten, als einmal über das andere zu rufen: "Das allgemeine, gleiche Wahlrecht lebe hoch!" Da zeigte sich plötzlich auf dem Platz eine Truppe berittener Polizisten, die mit geschwungenen Säbeln wie eine wilde Horde auf uns losstürmten. Da zeigte es sich, wozu, zu welcher Sicherheit die Polizeisäbel getragen werden. Parteigenossen! Mit Ruhe und Gelassenheit können wir diese vergangene Geschichte erzählen, wir haben diese Herren gezwungen, ihre Säbel wieder in die Plempen zu stecken. Parteigenossen! Wir haben noch mehr gezeigt, wir haben den Chef der Polizei in Berlin gezwungen, nachdem er gewaltige Proklamationen gegen uns, die revolutionäre Partei, erließ und plakatierte, die Straße gehört dem Verkehr, Demonstrationen werden nicht geduldet, uns die Straßen einzuräumen, und ihn gelehrt, daß die Straßen uns, der Masse der Arbeiter, gehören. ("Bravo!") So, Parteigenossen, hat uns die Massenbewegung bis jetzt schon gezeigt, daß jeder Schritt vorwärts unter dem Druck der gewaltigen Masse der Arbeiter draußen auf der Straße erzwungen werden muß. Mögen die herrschenden Gewalten in Preußen noch viel mehr mit dem Säbel fuchteln, Sie haben vielleicht alle gehört, welch neue schöne Geheimnisse von jener Seite auf unserem letzten Magdeburger Parteitag offenbart wurden, wie wiederum ein Herr aus Westfalen, der gewesene Kommandierende General von Bissing, einen ganzen Feldzugsplan gegen das demonstrierende Proletariat in den Straßen entworfen hat. Mögen die Herrschaften, wie sie am 6. März in Berlin getan haben, ihre Kanonen, ihre mit scharfen Patronen geladenen Gewehre gegen die Massen richten. Gegen die Waffen, die wir in Vorrat haben, helfen keine Kanonen, keine scharfen Säbel. ("Bravo!" "Sehr richtig!") Denn, Parteigenossen, alle bisherigen Erfahrungen haben das bereits gezeigt. Kann denn irgendein Staat, mag er an Verblendung, mag er an Brutalität sogar den preußischen Staat übersteigen, kann er gegen hunderttausende ruhig und friedlich streikende Arbeiter die Kanonen ausfahren lassen? Töricht und verblendet wäre derjenige Staat, der eine so gewaltige Menge Arbeiter niedermetzeln wollte. Denn er würde ja mit eigenen Händen die Biene morden, von deren Honig er als Drohne lebt. ("Bravo!" "Sehr richtig!") Und, Parteigenossen, kann irgendein Staat - und mag er sämtliche Kanonen gegen uns ausfahren lassen -, kann er friedlich streikende Arbeiter dazu zwingen, die Maschinen in Bewegung zu setzen? Nein! Das vermag auch der despotischste Staat nicht zustande zu bringen, und so erweist sich, daß gerade die friedliche und ruhige Waffe des politischen Massenstreiks die schärfste Waffe ist, zu der wir vielleicht greifen müssen, wenn die herrschende Reaktion in ihrer Verbohrtheit und Verblendung weiter beharrt. Während so, Parteigenossen, die politische Entwicklung uns gerade dazu zwingt, zu Massenstreiks immer mehr zu greifen, um die elementarsten politischen Rechte zu erobern, führen wir genau nach derselben Richtung eine solche Politik in der Gewerkschaftsbewegung.

Werte Anwesende! Welchen Umständen verdanken wir die letzten großen Massenstreiks auf wirtschaftlichem Gebiet, und namentlich welche Lehren müssen wir ziehen aus dem Gewitter, das heraufzieht über ihren blühenden Metallarbeiterverband? Es sind ja die Kapitalisten selbst, die mutwillig und planmäßig darauf ausgehen, uns zu einer gewaltigen Kraftprobe zu provozieren. Nach den Erfahrungen der Bauarbeiteraussperrung ist es geradezu durch Dokumente erwiesen worden, daß der Streik gegen die Organisation der Bauarbeiter von langer Hand vorbereitet war, daß die Unternehmer es planmäßig dazu führten, durch Aussperrungen Proletarier zu einem Verzweiflungskampf zu zwingen, und genau derselbe Plan liegt dem jetzigen Plan der Schiffsbauwerftkapitalisten, ebenso wie der Kapitalisten der Metallindustrie zugrunde. Wenn auf diese Weise die Kapitalisten selbst, die Unternehmer, es in der Hand haben, dank der Protektion einer zusammengefügten Gewund durch Aussperrung zu einem Massenstreik zu zwingen, so ergibt sich als eine dringende Notwendigkeit für unsere gewerbliche Organisation, mit der Waffe des Massenstreiks auf den Kampf zur Verteidigung des Koalitionsrechtes später einmal als unvermeidlich zu rechnen. Daraus ergibt sich, daß es die praktischste Sache ist, der Zukunft klar in die Augen zu blicken, sich zu sagen, je mehr die Massen des Proletariats dazu vorbereitet werden durch klare Erfassung der gesamten Lage, durch das Bewußtsein der großen Aufgaben, die ihnen bevorstehen, je mehr sie vorbereitet werden, diesen großen Kampf auszufechten, um so mehr Chancen haben wir, aus diesem Kampf als Sieger hervorzugehen.

Werte Genossen! Es stellen sich mehrere Argumente gegen den Gebrauch des Massenstreiks ein, die meist ins Feld geführt werden. Zunächst wird uns gesagt: Wir gehen bei einem Massenstreik, namentlich bei einem politischen Massenstreik, ein gewaltiges Risiko ein, indem wir die gewerkschaftliche Organisation einer gewaltigen Gefahr aussetzen. Unsere Gewerkschaftsorganisation könnte bei einem solchen großen Zusammenstoß in Stücke geschlagen werden. Es stimmt schon, daß in diesem oder jenem stürmischen Massenstreik vielleicht unsere Organisation im ersten Moment beschädigt werden könnte. Aber es gibt Lagen, und wir kommen immer mehr in diese Lage, wo ein Kampf auch unter ungünstigen Bedingungen aufgenommen werden muß, wenn überhaupt die Ehre der organisierten Arbeiterbewegung verteidigt werden soll.

Parteigenossen! Die gewerkschaftlichen Organisationen sind da, vor allem dazu geschaffen, uns in unserem Kampfe namentlich zur Verteidigung unseres allerersten Rechtes, des Koalitionsrechtes, das jetzt so bedroht wird, um uns dazu als Waffe im Kampfe zu dienen. Unsere gewerkschaftlichen Organisationen sind ja unsere Kanonen im Kampfe um eine bessere Zukunft. Was würden Sie sagen von einem militärischen Staat, welcher erklären würde, er könne nicht in den Krieg ziehen vor Befürchtung, seine Kanonen könnten dabei zerschmettert werden? Wozu haben wir die Kanonen anders, um damit gegebenenfalls auf den Feind zu schießen? Andererseits sind unsere Waffen nicht von so plumper Beschaffenheit wie die Waffen der Militärstaaten. Die Kanonen der Militärstaaten können wirklich in einem Kampfe zerschmettert und unbrauchbar gemacht werden. Unsere Organisationen aber, sie bewähren sich im Kampfe, sie können nur existieren im Kampfe, sie wachsen nur im Kampfe. Erinnern Sie sich an die Zeit des Sozialistengesetzes. War das nicht die schwerste Zeit, die die deutschen Gewerkschaften zusammen mit der deutschen Sozialdemokratie erlebt haben? Wie sah es in unserer Organisation denn aus im ersten Moment nach der Verwirklichung des Sozialistengesetzes? Unsere Gewerkschaften waren zerschmettert, unsere Presse lahmgelegt, unsere Organisation vernichtet, aber wie sahen wir aus nach 12 Jahren, als das Sozialistengesetz aufgehoben werden mußte? Da standen wir da mit verzehnfachter Kraft, das Sozialistengesetz lag zerschmettert. (Tosender Beifall) Und so wird es immer gehen in dem großen Kampfe, der uns durch unsere Gegner aufgezwungen wird.

Parteigenossen! Was zeigen die Erfahrungen der letzten Zeit? Sie zeigen uns, daß es keine günstigere Zeit zum Ausbau der gewerkschaftlichen Organisationen gibt als einen großen Massenkampf, der die indifferenten Massen des Proletariats aufrüttelt und sie aufnahmefähig macht für den Anschluß an die Organisationen. ("Sehr richtig!") Sie haben es hier in Hagen erlebt, wo seit der letzten Aussperrung Ihr Metallarbeiterverband in so glänzender Weise einen Zuwachs aufzuweisen hat. Genau ebenso bestätigt sich dies auch anderswo. Nehmen Sie zum Beispiel das früher erwähnte Rußland. Bis zum Jahre 1905 gab es in Rußland fast keine Gewerkschaftsorganisationen. Infolge der gewaltigen Massenstreikaktion, die wir im Jahre 1905 dort erlebt haben, wachsen sie wie Pilze aus der Erde in einem Gouvernement nach dem andern. Kräftige, junge Gewerkschaftsorganisationen. Dasselbe hat seinerzeit in Belgien stattgefunden. Bis zum Jahre 1886 gab es in Belgien keine Spur von Gewerkschaftsorganisation. Zuerst kam da ein Zeichen des allgemeinen Erwachens nach dem Sturm von Massenstreiks in den Eisenwerkstätten. Aus diesen Massenstreiks wurde einerseits geboren die politische Bewegung, der Kampf um das allgemeine, gleiche Wahlrecht und zugleich die erste Gewerkschaftsorganisation Belgiens. Und die jüngste Erfahrung zeigt uns nach dieser Hinsicht sehr lehrreiche Beispiele in Philadelphia in Amerika...

Und nun noch ein anderes Bedenken gegen die Massenstreiks. Parteigenossen! Man weist uns darauf hin - und das hat auch eine große Rolle gespielt bei der Besprechung des Massenstreiks im preußischen Wahlrechtskampf -, man weist uns darauf hin, daß wir noch zu sehr zu tun hatten mit einer großen Masse gegnerisch organisierter Kollegen. Wir haben noch mit den christlich organisierten Arbeitern zu tun, die nicht auf unserm Standpunkt stehen, und können wir denn eine so große Aktion, wie die des politischen Massenstreiks unternehmen, da wir gegen uns noch so große Scharen andersdenkender Proletarier haben? Parteigenossen, diejenigen, die diese Befürchtung aussprechen, müssen erkennen, daß die Geschichte gerade in dieser Hinsicht umgekehrt wirkt, als sie behaupten. Nicht die christlich Organisierten können ein ernstes Hindernis bei der Massenstreikaktion darstellen, sondern umgekehrt. Es gibt kein sichereres Mittel, die großen Scharen der genasführten Arbeiterschaft von ihren bürgerlichen Führern in christlich-sozialen und andern Verbänden loszureißen und zu uns zu bringen, als eine kühne, große Massenaktion. Denn, Genossen, je mehr Massenbewegungen kommen, je mehr es sich im Kampfe um große Fragen, um große Probleme, um Grundinteressen des Proletariats handelt, um so mehr müssen die Massen, auch die christlichen Gewerkschaften und Hirsch-Dunckerschen, mit uns zusammengehören und je mehr kommt heraus, was wir sagen, daß die ganze Politik ihrer Führer in den Verbänden in Wirklichkeit nichts anderes als eine Nasführung der Gewerkschaften ist. Parteigenossen! Deshalb müssen wir uns jedesmal freuen, wenn durch eine große Massenbewegung die Anhänger der christlichen Verbände und der Hirsch-Dunckerschen Verbände zusammenmarschieren. Freilich, dieses Marschieren hat nur dann seinen Zweck erfüllt, wenn wir dabei die volle Öffentlichkeit haben und diese politisch ausnutzen, und die Massen, die hinter den bürgerlichen Führern herlaufen, aufklären über das eigentliche Wesen ihrer Interessen und Aufgaben.

Parteigenossen! Es gibt noch einen weiteren Einwand, der scheinbar sehr plausibel und eine sehr gefährliche Waffe gegen den politischen Massenstreik ist, und dieser Einwand ist gewöhnlich der: Wir stellen den Hauptfaktor der Macht unserer gewerkschaftlichen Organisationen, wir stellen unsere Kasse, unsere finanziellen Mittel auf die Probe. Keine Gewerkschaft kann von sich, vor eine gewaltige Massenbewegung, vor einen gewaltigen Massenstreik gestellt, erklären: wir haben in unserer Gewerkschaft Mittel genug, um ungezählte Hunderttausende während langer Monate unterhalten zu können. Aber, Genossen, die ganze Auffassung der Sache ist vollständig falsch. Wir können nicht vom Standpunkte des Kassenbestandes überhaupt so gewaltige Bewegungen, wie politische Massenstreiks es sind, erwägen. In solchen Fällen müssen wir vor allem rechnen auf etwas anderes als auf die klingende Münze in unsern Kassen und Kassenbüchern. Wir müssen rechnen auf die unerschöpfliche Quelle des Idealismus bei der Ausführung der Sache. Mit Kassen allein können solche gewaltige Schlachten, wie sie uns jetzt bevorstehen, in Zukunft nimmermehr geschlagen werden. Da muß die große Hingebung an unsere großen Ziele und Aufgaben angespannt werden, da muß der Letzte aus der Masse verstehen, daß es sich um solche Aufgaben handelt, um deren Willen man nicht nur monatelang darben kann, um derentwillen man nötigenfalls das Leben dran gibt. ("Bravo!") Parteigenossen! Bis jetzt hat noch niemals die Rechnung auf die Ideale der Massen in unserer Geschichte versagt. Haben wir nicht Beispiele genug gehabt während des modernen proletarischen Kampfes um die Befreiung, daß die Massen wohl das allerschwerste zu ertragen verstehen? Wenn sie nur vor sich klar das Ziel erblicken, das dazu führt, sie von dem Joch des Kapitalismus zu befreien. Parteigenossen! So war es im Jahre 1848, und nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich während der berühmten Februarrevolution. Damals trugen sich die Proletarier mit dem holden Wahn, daß sie nur eine große Anstrengung voller Opfer zu machen brauchen, damit sie gleich in kürzester Frist die sozialistische Gesellschaftsordnung verwirklichen können. Nachdem sie in Frankreich am 24. Februar erzwungen haben bei der provisorischen Regierung, die Republik zu proklamieren, haben sie sofort die Forderung gestellt: Wir verlangen, daß diesmal eine soziale Republik in Frankreich eingerichtet wird, in der es für jedermann Zuckererbsen und Brot genug geben soll. Und, Parteigenossen, damals marschierten die französischen Proletarier auf den Straßen von Paris mit einer schwarzen Fahne, auf der geschrieben stand: Arbeiter, lebt oder empfangt den Tod! Die provisorische Regierung, die damals die größte Furcht vor dem versammelten Proletariat auf der Straße hatte, versprach, die sozialistische Republik einzurichten und jedem Brot und Arbeit zu sichern: Sie müsse aber dazu einige Zeit haben. Die Herrschaften wußten aber, daß das Feld nach 3 Monaten anders aussehen werde, sie mußten Zeit gewinnen, um die blauen Bohnen zu sammeln, mit denen sie die Hungernden füttern wollten. Parteigenossen! Die Proletarier erklärten damals die denkwürdigen historischen Worte durch den Mund eines der Ihren, eines der ersten und besten Arbeiter von Paris. Sie erklärten damals der versammelten provisorischen Regierung: Gut, meine Herren, wir geben euch die Zeit, wir hungern die 3 Monate, wir, das Proletariat von Paris, aber wir wollen die soziale Republik haben. Es kamen 3 Monate furchtbarster Not, und sie haben sie ausgehalten, weil sie glaubten, sie bekämen die berühmte soziale Republik, die für jedermann Brot und Arbeit haben sollte, und als die 3 Monate um waren, da erschien nicht Brot und Arbeit der sozialen Republik, sondern es erschien die Nationalgarde auf der Straße, da erschien die Armee auf der Straße und da gab es die berühmten Junikämpfe und Junischlächtereien, die während 3 Tage und 3 Nächte im Blute den Wahn der sozialen Republik zu ersticken suchten.

Aber, Parteigenossen, schon damals hat sich gezeigt, daß die Masse vor keinen Opfern zurückschreckt. Damals gab es keine Kassen, um die Proletarier 3 Monate zu erhalten, damals gab es keine Gewerkschaften, keine Organisation, um sie in ihrer Kampfesstimmung aufrechtzuerhalten. Wie erst müßte heutzutage unser Augenmerk darauf hingerichtet sein, für alle Kämpfe die Opfer zu bringen, die nötig sein sollen, nachdem wir solche gewaltige Kulturarbeiten der deutschen Gewerkschaften und der deutschen Sozialdemokratie hinter uns haben! Um diesen Geist, um diesen Idealismus aus der Masse hervorzurufen, brauchen wir nichts anderes, als immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Kämpfe, die wir jetzt führen, daß alle Massenstreiks, die wir vor uns haben, nichts anderes sind, als eine notwendige geschichtliche Etappe zur endgültigen Befreiung vom Kapitalismus, zur sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Parteigenossen! Ist nicht jede Aussperrung, die wir heute erleben, eine gewaltige Propaganda für den Sozialismus? Ist nicht die Tatsache allein, daß wir heutzutage vor einer Entscheidung stehen und uns fragen, ob in den nächsten Tagen schon durch einen Machtspruch einer Handvoll Kapitalisten Hunderttausende von Männern und Frauen auf das Straßenpflaster geworfen werden - ist das nicht Beweis genug für den Blinden, daß eine solche Gesellschaftsordnung wert ist, daß sie zum Teufel gejagt wird? (Lebhafter Beifall)

Parteigenossen! Jede Aussperrung ist ein Schritt weiter, ist ein neuer Nagel zum Sarge der kapitalistischen Ordnung, denn gerade die jetzt beliebte Methode der Aussperrung, ohne das Proletariat zu besiegen, ist der beste Beweis, daß die bestehende Gesellschaftsordnung nicht mehr möglich, sondern unhaltbar geworden ist, daß sie einer andern Platz machen muß. Und ist nicht jeder Massenstreik ein Schritt weiter vorwärts auf dem Wege zu ihrer Beseitigung? Parteigenossen, das berühmte "Kommunistische Manifest" von Marx und Engels schließt mit den Worten: Das Proletariat hat nichts zu verlieren als seine Ketten, zu gewinnen eine ganze Welt. Nur dann werden wir gewappnet sein zu der gewaltigen Schlacht, die wir in der nächsten Zeit zu schlagen haben, wenn jeder gewerkschaftlich organisierte Proletarier verstanden hat, daß sein Beruf in der Sozialdemokratischen Partei, wenn jeder sozialistische Proletarier versteht, daß er verpflichtet ist, die sozialistische Aufklärungsliteratur sich zu eigen zu machen, daß jeder gewerkschaftlich tätige und organisierte Arbeiter zugleich ein zielbewußter sicherer Kämpfer für die sozialistische Befreiung ist. Nur unter diesem Schlachtruf werden wir die nächsten Schlachten zum Siege bringen, wenn der letzte Proletarier versteht, daß man zu verlieren bloß seine Ketten, zu gewinnen eine Welt hat. (Anhaltender tosender Beifall!)

Rede in der Generalversammlung der Freien Gewerkschaften in Hagen

1. Oktober 1910



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