Feargus O'Connor und die englischen Chartisten


1848


mil. Beredsamkeit


Georg Weerth

DAS TRAGIKOMISCHE BELGIEN

Belgien ist ein schönes Land. Dies weiß jeder. Das Land, wo Milch und Faro fleußt. Das Faro ist sauer. Belgien hat Gärten und üppige Triften; auf den letztern wandeln Ochsen und Esel. Die Esel sollen nicht gescheiter sein wie die Esel an andern Orten. Belgien wird von Flamländern und Wallonen bewohnt. Die ersten trinken ihr saures Faro und sprechen flamländisch; die andern trinken lieber Bordeaux und Burgunder und drücken sich in französischer und wallonischer Sprache aus. Die Flamländer sind namentlich sehr gute Menschen. Sie taten noch niemandem etwas zuleide. Im Jahre 1830 zogen sie sich vor den Holländern aufs höflichste zurück und überließen den Franzosen alle Greueltaten des belgischen Freiheitskrieges. Belgien ist ein gesegnetes Land; es hat Weizen und Gerste und Roggen - selbst etwas Grütze und Marmor und Quarz und Kies, und in Flandern ist der vierte Mann ein Blutarmer, und in Brüssel kommen auf die Geburten der arbeitenden Klasse 81 Prozent uneheliche ... Belgien hat eine ganz vorzügliche Konstitution, und jahraus, jahrein bringt die Eisenbahn viele Tausende von Leuten nach der Hauptstadt, damit sie diese famose Konstitution des belgischen Löwen, bei einem Glase Faro, an Ort und Stelle studieren können. Belgien hat auch einen König. Dieser aber ist ein Deutscher, und wenn es gutes Wetter ist, da fährt er im offnen Wagen herüber von Laeken nach Brüssel, und die guten konstitutionellen Belgier stellen sich dann rechts und links an die Seiten der Straße, ziehen den Hut ab und rufen: "Guten Tag, Herr König Leopold!"

Doch im Ernst gesprochen - Belgien war vor dem 24. Februar ein wahres konstitutionelles Kanaan; und wenn so ein jugendlicher Brüsseler mit Hut, Bart, Hose und, nicht zu vergessen, mit einem Glase Faro zu 12 Centimen vor seinem Estaminet saß, da blickte er lächelnd nach Paris und verächtlich nach dem Rheine hinüber und trank auf das Wohlsein der großen belgischen Nation.

Oh, es ist gar nicht abzusehen, was aus den Belgiern geworden wäre, wenn ihnen nicht der alte Pariser Schwiegervater plötzlich den schlimmsten aller Streiche gespielt und sich in so wahrhaft beunruhigender Weise aus dem Staube gemacht hätte. Das war fatal!

Die Farogläser fielen zu Dutzenden um; die längsten Gesichter wurden noch viel länger; die meisten Menschen sahen aus, als hätten sie eben tausend Louisdor im Ecarté verloren; die Herzen sanken in die Hosen, die ganze nationale Courage war verschwunden, und die bleiche, schlotternde Angst ritt auf den neutralen belgischen Patrioten wie ein Gespenst auf einem Kamele. Mit einem Worte, der tapfre belgische Löwe war revolutionskrank geworden; er litt am 24. Februar. Er trank kein Faro mehr.

Einen Tag und eine Nacht dauerten die ersten Krämpfe, ehe man nur einmal daran dachte, wie dem armen Tiere zu helfen sei. Es war ein trauriger Anblick. Da schickte der Doktor Rogier an Herrn van de Weyer nach London und bat ihn um Gottes willen, auf der Stelle irgendein Rezeptchen verschreiben zu lassen; auch an den alten Quacksalber in Wien ging ein Kurier ab mit der Bitte um schleunige Hilfe. Der gute Metternich versteht sich besser wie du auf die Tierkrankheiten, dachte Doktor Rogier; denn er traute nicht seiner eignen Kunst.

Während man so mit dem königlichen Tiere beschäftigt war, begingen einige jugendliche Untertanen Sr. Majestät die konstitutionelle Unverschämtheit, die Ruhe rings um den kranken Löwen herum auf sehr bedauerliche Weise zu stören. Ohne Rücksicht auf seine hohen Leiden zu nehmen, hielten sie nicht nur sehr stürmische Versammlungen in geschlossenen Räumen, nein, auch auf offner Straße ließen sie ihrer revolutionären Laune die Zügel schießen, so daß nicht selten das "Vive la Republique!" bis hinauf zu Nobels Fenster klang.

Man kann sich denken, welchen Eindruck dieses lasterhafte Getöse auf die ohnehin schon gedrückte Stimmung des unglücklichen Wesens machen mußte. Nobel sah ein, daß seine erschütterte belgische Konstitution nur durch ein wahres Wunder aufrechterhalten werden könne.

Ehe Antwort von Wien und London kam, mußte etwas Außerordentliches geschehen. Die Not bricht Eisen. Nobel kam auf einen Gedanken.

Die Nachtmütze auf dem Kopfe, die Tatzen in weiten, schlürfenden Pantoffeln und den königlichen Schweif in melancholische Ringeln gelegt, schritt nämlich unser Leu aus seinem Gemach und trat vor die Großen seines Reiches. Es war ein feierlicher, wichtiger Augenblick, der denkwürdigste in den belgischen Annalen. "Ich bin Philosoph", begann der Leu, und ein bedenkliches Zittern seiner schwachen Klauen ließ einen Ausbruch königlicher Konvulsionen befürchten. "Ich bin Philosoph", hub er abermals an, "und deshalb begreife ich mein Jahrhundert. Ich sehe, daß es uns Löwen an den Kragen geht, unsre Stunde hat geschlagen. Hören Sie nicht, wie man draußen so dringend nach dem Ende meiner Regierung verlangt? Jeder Tag meines Lebens wird nur einen neuen Tag der Unruhe und Anarchie für Sie mitbringen - wozu das? Da ich dennoch sterben muß, so will ich lieber gleich zugrunde gehn, denn ich bin ein guter, rücksichtsvoller Leu und gern zufrieden, wenn nur jeder Belgier wieder ruhig sein Glas Faro trinken kann, zu 12 Centimen ... Jagen Sie mich deshalb fort, schlagen Sie mich tot, meine Herren - es ist mir alles einerlei, es lebe Belgien! es lebe die große Nation!" Hier schwieg der Löwe, und während er im Herumdrehen spöttisch und ironisch die Zunge aus dem königlichen Rachen streckte, schlug er wiederum mit seinem Schweif die melancholischsten aller Ringeln, und die Pforten des Gemaches schlossen sich wieder hinter seinen rötlichen Pantoffeln.

Nobel hatte erreicht, was er gewollt. Die Großen seines Reiches schwammen in Tränen der Rührung. "Nein, dieser Löwe ist kein Tier, er ist ein Mensch, ein Engel; von Neros Zeiten bis auf den heutigen Tag gab es nie eine so hochherzige Bestie!" Also jauchzten des Reiches Großen, und hinaus eilten sie, um allem Volk zu verkündigen, was sie eben vernommen.

Die guten Brüsseler waren steif wie Stockfische vor Erstaunen, als sie alles wußten. Sie veranstalteten sofort eine Illumination mit den wenigen Lichtern, die es in Brüssel gibt. "Hosianna! Hosianna!" klang es durch alle Straßen. "Wir haben einen Löwen, dessen Konstitution aufrechterhalten zu werden verdient! Es lebe Nobel, es lebe die große Nation!" Und jeder Brüsseler griff nach seinem Schwert und nach seinem Glase Faro, zu 12 Centimen.

Der Entschluß war gefaßt. Man wollte seine nationale Unabhängigkeit und die Konstitution verteidigen bis in den Tod, ja noch viel weiter. Alle Arrangements wurden getroffen. Monsieur le Baaaaa-ron de Chazal, zu deutsch: Herr von Scheusal, der Minister des Krieges, ließ die konstitutionellen Janitscharen zu Roß sitzen. Monsieur Hooooo-dy, zu deutsch: Herr Hody, bewaffnete die heilige Hermandad. Die Garde comique fand sich von selbst ein, und ehe vierzehn Tage vergingen, strotzten alle Grenzen von konstitutionellen Bärten und Bajonetten. Ganz Belgien sah aus wie ein Stachelschwein.

Soweit ging alles gut; aber da kam der Schluß der Geschichte, es kam die Pointe, es kam nämlich kein Krieg. O wie schade für die tapfern Belgier! Niemanden gelüstete nach dem großen Königreiche. Von Frankreich her sandte ihnen Herr Lamartine aus der Feuerspritze seiner Beredsamkeit die kühlsten, die beruhigendsten Versicherungen. Die Leute am Rhein tranken nach wie vor ihren ambrosischen Nierensteiner und kümmerten sich um ihre eignen Angelegenheiten. Die Holländer stopften ihre irdischen Pfeifen und spekulierten nach Indien und Amerika, und die Engländer endlich rösteten ihr Beef und brauten ihren schäumenden Porter.

Kein Hahn und kein Huhn krähte nach den mutigen Belgiern.

Da entbrannten sie in gewaltigem Zorn und fielen nicht nur über ihre eignen, von Paris heimkehrenden Landsleute, sondern namentlich über die in Brüssel wohnenden Ausländer her, um wenigstens einmal ihre Tapferkeit und ihre Brutalität durch irgendein eklatantes Faktum zu konstatieren. Deutsche Handwerker und deutsche Gelehrte, denen man ohne weiteres in die Schuhe schob, daß sie mit einem Attentat auf den lächerlichsten Löwen aller europäischen Menagerien umgingen, wurden von den unsaubern, feilen Händen der Diener des Herrn Rogier ergriffen und nicht nur bei ihrer Arrestation, nein, auch noch in den Gefängnissen, in den trefflichen Zellenanstalten jenes traurigen belgischen Philanthropen Ducpétiaux auf die empörendste, infamste Weise mißhandelt. Der preußische Gesandte, der bayrische Gesandte, kurz, die sämtlichen in Brüssel residierenden deutschen Gesandten taten ihre Mäuler nicht auf! Die Revolution des März war noch nicht geschehen ...

Tage und Wochen sind seitdem vergangen. Nach ihren Heldentaten ruhen die Belgier aus bei einem Glase Faro zu 12 Centimen. Der belgische Löwe wedelt noch immer mit seinem Schweife; er hat sich allmählich wieder etwas erholt und würde vielleicht froh und munter sein, wenn nicht die kriegerischen Gelüste des Herrn Chaaaaa-zal und des Herrn Hooooo-dy so viele Unkosten mit sich gebracht hätten, daß die guten Brüsseler bei ihren vielen Zwangsanleihen wahrscheinlich nächstens das Glas Faro nicht unter 14 Centimen kaufen können werden. Dies ist nun sehr schlimm!

Doch überlassen wir die Belgier ihrer berühmten Konstitution. Die Franzosen, die man vertrieb, sie sitzen in Paris und freuen sich ihrer Republik; und die deutschen Handwerker und Gelehrten, sie stehen wieder am Rhein und schwingen ihre grünen Römer und lachen über jene winzigen Gesellen, die der Sturm der Demokratie einst um all ihre erbärmlichen nationalen Liebhabereien bringen wird, wenn der Deutsche und der Franke sich die republikanische Bruderhand reichen werden, trotzend allen Völkern des Erdballs und heraufbeschwörend eine Zeit der Freiheit und der Menschlichkeit.



Feargus O'Connor und die englischen Chartisten


1848


mil. Beredsamkeit


Letzte Änderung: 15. Jun. 2001, Adresse: /deutsch/1848/belgien.html