Die Geschichte der Chartisten von 1832 bis 1848

Blumenfest der Arbeiter


1848


Belgien


Georg Weerth

Feargus O'Connor

Von Georg Weerth

Feargus O'Connor

Wenn ich dem Irländer Feargus O'Connor dieses Kapitel widme, so geschieht es nicht, weil ich mit allen seinen Ansichten einverstanden bin, sondern nur deswegen, weil ich in ihm einen Mann verehre, der sich durch seine Rechtlichkeit, durch seine Unerschrockenheit und durch seinen eisernen Fleiß verdienter um die Sache des Volkes als tausend andere gemacht hat. Rechtlichkeit, Unerschrockenheit und Fleiß, das ist, was ihn zum Abgott des englischen Volkes erhob, was ihm seine Stellung als Parteichef sicherte und ihm vielleicht noch lange erhalten wird. Manche seiner Kollegen überragen ihn an Verstand, an Witz, an glänzender Beredsamkeit - keiner kommt ihm gleich an jenen schönsten und wichtigsten Eigenschaften eines Agitators.

Man kann ihn angreifen, man kann ihn treten, man kann ihn mißhandeln, man kann es klar und deutlich machen, daß er manchmal ein Dummkopf war, daß er tausend und aber tausend Trivialitäten und Lächerlichkeiten beging, daß er oft mehr schadete als nutzte, daß es zuzeiten besser gewesen wäre, wenn ihn der Teufel geholt hätte mit Haut und Haar, man könnte, wenn man alles dieses nachwiese, wirklich für einen Augenblick seinen Ruf untergraben, ihn in der Liebe des Volkes zum Wanken bringen und seinen Sturz fast bis zur Gewißheit machen - aber auch nur für einen Moment, nur scheinbar würde dies gelingen, denn gleich darauf würde er auch wieder siegreich erstehen, gleich darauf wieder lustiger als je auf die Beine springen, das Banner der Partei über den Köpfen seiner Feinde entrollend, aufs neue reich an Einfluß, an Gewund bewundert von Millionen.

Leicht ist es, das Rätsel der Existenz dieses Mannes zu lösen, wenn man ihn gesehen, wenn man ihn gehört hat, wenn man nur ein einziges Jahr lang seinen Schritten und Tritten folgte. Unwiderstehlich drängt sich dann die Überzeugung auf, daß er nicht nur durch seine Rechtlichkeit, durch seine Unerschrockenheit und durch seinen Fleiß emporkommen und imponieren konnte, sondern daß er auch gerade durch seine weniger guten Eigenschaften, durch seine häufige Borniertheit, durch seinen blinden Enthusiasmus, durch seinen heinebüchenen und nur zu oft trivial werdenden Humor, trotz aller Anfechtungen einen dauernden Platz in den Herzen des Volkes erobern mußte.

Denn sind es nicht eben diese weniger guten Eigenschaften, welche auch die Masse, welche auch das Volk, dieser gewaltige, ungeschliffene Riese, besitzt? Gewiß! In seinem O'Connor sieht das englische Volk sich selbst. O'Connor ist das Volk in einer Person, ausgestattet mit all seinen Tugenden und behaftet mit all seinen Lastern.

Abwechselnd himmlisch weise und niederträchtig dumm; tragisch ernst und bis zum Entzücken ergötzlich; naiv und sentimental in einem Atem; manchmal fein und gewandt wie ein Franzose und plötzlich wieder grob und plump gleich einem Shakespeareschen Stallknecht; zutraulich schmeichelnd wie ein kleines Mädchen und wiederum stolz und despotisch wie ein römischer Imperator; von Liebe lispelnd wie Heine und Hafis und in barbarischen Zoten sich ergehend trotz Meister Franz Rabelais!

Großmütig wie ein Leu, aber auch grausam wie ein Tiger; ebenso aufopfernd für seine Freunde als mißtrauisch gegen seine Feinde; ebenso enthusiastisch für das einmal Begriffene als widerspenstig gegen das Unverstandene; launig-poetisch und leichtsinnig in der Liebe und dem Wein wie der rechte Irländer; ökonomisch und wirtschaftlich besorgt gleich dem filzigsten Schotten; stolz, energisch und adlerkühn wie ein Engländer - alles das ist O'Connor!

Ein tolles Gemisch aller Volksleidenschaften, mit einem Charakter, in dem sich die Grundzüge des Volkes der Rose, der Distel wie des Klees widerspiegeln, ein Mensch, von dem man nicht weiß, ob man ihn mehr bewundern als achten soll, den man aber voll und feierlich anerkennen muß, da er alle Flammen seiner Seele, durch Rechtlichkeit, Unerschrockenheit und Fleiß geregelt, doch am Ende nur zum Wohle des Volkes zu benutzen strebt.

Doch noch andere Umstände sind es, welche die Aufmerksamkeit des Volkes an diesen außerordentlichen Mann heften. Außer dem Renommee, das er sich selbst schuf, liegt noch ein eigentümlicher Reiz über O'Connors Namen. Denn seinen Stammbaum leitet er zurück bis zu den fernsten, halbverschollenen Königen des grünen Erin, verwachsen ist der Name seines Hauses mit allen blutigen Ereignissen jener unglücklichen Insel, durch das Tosen einer jeden Revolte klingt der Ruf eines O'Connor; Vergangenheit und Gegenwart berühren sich in diesem Menschen; er ist ein vom Throne gestürzter König, der als kecker Proletarier wieder auferstand, ohne Leid um das Geschehene, mit allen Fasern seines Lebens wurzelnd in der Gegenwart und mit der Riesenfaust donnernd vor die Pforte der Zukunft, daß sie weit dem Volk sich erschließe, dem Volke und nur dem Volke.

Einem starken, wilden Geiste baute die Natur eine imposante und robuste Wohnung. O'Connor ist ein stattlicher Mann. Auf wohlgebildeten und gewandten Schenkeln und Lenden erhebt sich ein breitschultriger, brustgewölbter Oberkörper, der einen mehr interessanten als schönen Kopf von breiter, nach vorn stehender Stirn trägt. O'Connors Haare sind rot, seine Augen liegen tief, seine Nase ist aufgestülpt. In O'Connors Auftreten liegt Würde und Festigkeit; seine Gestikulation ist lebendig und bezeichnend, der Ton seiner Stimme kräftig, metallen. Man sieht sofort, daß er nicht in die Reihen der Gewöhnlichen gehört, man ahnt, daß etwas Wildes, Unbändiges in diesem Manne steckt, man ist davon überzeugt, daß man eine außerordentliche Rede hören wird, wenn er freudestrahlenden Auges auf die Tribüne steigt. Dort ist er recht an seinem Platze!

Ich werde nie den Augenblick vergessen, als ich ihm zuerst bei einem Meeting begegnete. Die Versammlung hatte lange gewartet, der Saal war gedrängt voll. Viele der Anwesenden hatten sich schon in die Fensternischen geflüchtet, um nicht erdrückt zu werden; Frauen und Mädchen wurden auf die Stufen der Tribüne gebracht. Über dem Ganzen lag eine schwere, dumpfige Atmosphäre. Die Lichter der Ampeln warfen einen trüben Schein auf die Gesichter von etwa anderthalbtausend Arbeitern. Rings herrschte eine unheimliche Stille. Wie einem Gewitter sah man dem Erscheinen O'Connors ernst und bang entgegen.

Da entstand plötzlich vor der Tür ein wildes Spektakel; im Vordergrunde des Saales wogte es toll durcheinander; die Leute drehten sich rechts und links, man bekam Rippenstöße in Menge, und unwillkürlich wurde man nach der Richtung fortgezogen, von der der Lärm ausging. O'Connor hatte die Schwelle des Saales betreten.

Von mehreren Freunden begleitet, brach er sich Bahn durch die Menge, vielen die Hände schüttelnd, manche bei Namen rufend, alle herzlich grüßend, wie ein heimkehrender Vater seine Kinder bewillkommt, und lachend und scherzend immer vorwärtsdringend bis zum Fuß der Tribüne. "There he is, there he is!" (Da ist er, da ist er!) klang es von allen Lippen, und wie im Triumphe hoben ihn die Arme seiner Getreuen auf die Höhe der Plattform. Mit einer Stimme, die im Laufe der Rede mehr oder weniger ihren ersten Ton behielt und durch ihre Einförmigkeit gewissermaßen jedes Wort in das Gedächtnis der Zuhörer graben zu wollen schien, begann O'Connor seine Rede. Ich weiß nicht recht mehr alle Details derselben; ich war damals kaum des Englischen mächtig. Nur so viel ist mir erinnerlich, daß einem halbstündigen, aufmerksamen Zuhören allmählich eine sichtbare Bewegung der ganzen Masse folgte. O'Connor hatte über dieses und jenes Bericht abgestattet, und dann folgte seine Argumentation, jetzt rückte er in das Herz seines Gegenstandes vor. Schon mehrere Male hatte er hörbarer das Brett der Tribüne mit der Rechten geschlagen, schon mehrere Male zorniger mit dem Fuße gestampft und wilder das Haupt geschüttelt. Er schickte sich an, den Angriff auf seine Feinde zu machen - die Versammlung merkte dies und ermunterte ihn durch lauteren Beifall -, es war, als hätte man einen Stier mit rotem Tuche gehetzt. Da hatte der Riese sein Opfer gepackt! Die Stimme bekam einen volleren Klang, die Sätze wurden kürzer, stoßweise drangen sie aus der kochenden Brust, die Faust trommelte wilder auf den Rand der Tribüne, das Gesicht des Redners wurde blaß, seine Glieder zitterten, der Katarakt seines Zornes hatte das letzte Wehr überflutet, und hin donnerte nun die Woge der Beredsamkeit, alles vor sich niederwerfend, alles zerkrachend, zersplitternd - und ich glaube, der Mann hätte sich totgesprochen, wenn er nicht durch einen Applaus unterbrochen worden wäre, der das ganze Haus für eine Minute lang wie in eine schwingende Bewegung setzte.

Dem stürmischen Niederwerfen seines Feindes folgte das Gemetzel der Bataille. Durch einen umfassenden Bericht des früher Geschehenen hatte der Redner den Kampfplatz vorbereitet. Durch seine Argumentation organisierte er den Angriff. Die Phalanx der Beredsamkeit rannte ihren großen Sturm - jetzt lag das Opfer, und nun sollte ihm noch jedes Glied abgerissen und jedes Gelenk abgedreht werden, damit auch nicht die Spur seiner frühern Gestübrigbleibe. Der Witz, der Humor, die Satire des Redners übernahmen diese Arbeit. Es war, als wenn man einen Kadaver zerrieben und zermalmt hätte. Schlag auf Schlag folgte eine Wendung, welche den sterbenden Gegner noch bis in die tiefste Seele hinein verwunden mußte; Schlag auf Schlag eine Sentenz, die ihn mit Hohn und Verdammnis bis in den Tod begleitete. Der Kopf des Redners hatte sich zwischen die Schultern zurückgezogen, seine Hände fassten krampfhaft den Rand der Tribüne, regungslos stand er so da, und nur seine Augen blitzten, nur seine Zunge zischte Gift und Galle - da war das Opfer verblutet.

Der Sieger erhob sich in seiner ganzen Größe, das Lied des Triumphes anstimmend, voll jubilierenden Hohnes. Der Argumentation, dem Feuer der Beredsamkeit und dem vernichtenden Teile des Vortrags folgte der Pomp und das Pathos der Rhetorik. Wie unter klingendem Spiele hielt dann der Redner seinen Einzug in die Herzen des Volkes, indem er, den Alten gleich, die ihre überwundenen Feinde beim Triumphzuge mit durch die Straßen der Städte schleiften, noch einmal alle beseitigten Schwierigkeiten seiner Rede samt der eignen Überlegenheit an dem Gedächtnis der Zuhörer vorüberführte, sie des fernern Gelingens ihrer Anstrengungen versichernd und der Lust einer glorreichen Zukunft.

O'Connor sprach etwa drei Stunden lang an jenem Abend. Sein Eindruck auf die Versammlung war unbeschreiblich. Mehr als einmal trockneten die Weiber, welche den Redner auf der Tribüne umringten, ihre heißen Tränen von den Wangen, mehr als einmal brachen sie in den unendlichsten Jubel aus. Auf den Gesichtern der Männer las man, was in ihren Herzen vorging, die Stimmung des Redners spiegelte sich in ihnen wider.

Die Irländer, welche bei dem Meeting zugegen waren, kannten für ihren Enthusiasmus, wie gewöhnlich, keine Grenzen. Sie drängten sich mehrere Male durch die dichtesten Haufen, sprangen an der Tribüne hinauf und drückten O'Connors Hände. Einen Menschen, den man für einen Spion oder für einen Unruhstifter hielt, ergriff man und warf ihn über die Köpfe der Versammlung von einer Hand zur andern durch die ganze Länge des Saales, absichtliche Stöße den unwillkürlichen hinzufügend und an der Tür des Saales durch einige Fußtritte seine schnelle Abreise höchst befördernd.

Das Amt eines Agitators gehört indes nicht zu den erfreulichsten und leichtesten. Man muß eine Konstitution wie O'Connor haben, um nicht allein drei volle Stunden in einem dumpfigen Raume mit gleicher Kraft sprechen, sondern um auch solche Meetings wochenlang hintereinander fortsetzen zu können. O'Connor tut das eine wie das andere mit derselben Leichtigkeit. Von London aus, wo er seinen Sitz hat, unternimmt er bisweilen Streifzüge in die Fabrikdistrikte Englands und Schottlands. Die Nacht verstreicht dann nicht selten auf der Eisenbahn oder im Wagen. Am frühen Morgen hat er den Ort seiner Tätigkeit erreicht; er besucht seine Anhänger, läßt sich alles Wichtige und Unwichtige von ihnen erzählen, setzt sich dann hin und schreibt Artikel darüber für sein Journal, den "Northern Star"; der Nachmittag kommt, er wird zu Ausflügen in die Umgegend verwandt; endlich wird es Abend, die Stunde des Meetings hat geschlagen, von allen Seiten nahen Zuhörer, und bald steht O'Connor auf der Tribüne. Er spricht drei oder vier Stunden lang, die Sitzung zieht sich bis tief in die Nacht hinein und wird nicht selten nach geschlossenen Debatten bei einem kleinen Mahle noch bis 3 oder 4 Uhr morgens fortgesetzt. Da springt der Unermüdliche auf; er geht zu Bett oder wirft sich wohl noch gar in einen Wagen, fährt nach dem nächsten Orte und beginnt bei Sonnenaufgang seinen neuen Tag, gerade wie er den kaum vergangenen schloß. Und so treibt er es oft vierzehn Tage lang.

In der Nummer des "Northern Star" vom 6. November 1847 gibt O'Connor die Beschreibung einer solchen Reise. Es heißt darin wörtlich: "Vor allem, meine Kinder", so redet er häufig die Chartisten an, "laßt euch erzählen, was ich in der letzten Woche tat, damit ihr euch davon überzeugt, daß euer Vater seine Energie noch nicht verloren hat. Am Montag war ich bei dem Meeting in der ,Kran- und Ankertaverne' in London; die Nacht verstrich, und ich saß mit unserm Freunde Roberts auf bis um 3 Uhr morgens. Am Dienstag reiste ich nach Manchester und verteidigte mich in einem Ofen und nahm Gelder in Empfang zwischen Tür und Fenster im Zuge - genug, um jeden andern zu töten. Es dauerte bis 1/2 2 Uhr morgens, und um 4 war ich erst im Bette. Am Mittwoch fuhr ich nach Nottingham, verteidigte mich in einem warmen Bade, nahm Gelder in Empfang bis 1/2 12 nachts und ging erst zu Bette um 1/2 3 Uhr morgens. Am Donnerstag ging ich wieder nach London und legte dem Direktor unsrer Bank Rechnung über alle empfangenen Gelder ab, ordnete auch alles unserm Finanzsekretär und schrieb meinen Brief an euch in der letzten Nummer des ,Star'. Am Freitag eilte ich nach Herringsgate und verteilte die Prämien an unsre Leute und inspizierte ihre Ländereien, fuhr auch noch am Abend zurück nach London und ging am Samstag nach Minster, um unsern dortigen Freunden 25 Säcke Weizen zur Aussaat zu bringen - ein nettes Geschäft für ein englisches Parlamentsmitglied. Dies ist nun auch vorüber, und jetzt will ich euch allerlei Wichtiges mitteilen." - So schließt er, und dann folgt ein Artikel von neun eng gedruckten Spalten, in dem er sich gegen die Angriffe der Whigs verteidigt, mit einer solchen Gewandtheit und Genauigkeit, als hätte er vier Wochen Zeit gehabt, um sich vorzubereiten. - Ich frage meine Leser, ob ein Mensch auf der weiten Welt tätiger sein kann als dieser Feargus O'Connor?

Ergötzlich ist es, die Titel zu lesen, unter denen O'Connor seine Adressen an das Volk erläßt. Da heißt es: "Meine teuern Freunde"; oder: "An meine Kinder und teuern Freunde in England"; oder: "An die alte Garde"; oder: "An die, welche in Faulheit ohne Arbeit leben, und an die, welche gern arbeiten möchten, aber hungern müssen"; oder: "An die alte Garde, die Barchent-Jacken, die schwieligen Hände und die ungeschorenen Kinnladen" (To the old Guards, the Fustian Jackets, the blistered hands, and unshorn chins).

Die Zärtlichkeit der Chartisten gegen ihren Chef ist aber nicht weniger groß. Mehr als einmal geschah es schon, daß man den Namen desselben vollständig bei der Taufe benutzte und einen Knaben William Feargus O'Connor Thompson oder Richard Feargus O'Connor Jackson nannte, zum großen Ärger freilich der Geistlichkeit, die lieber jeden Namen des Kalenders als den des wilden Irländers gebraucht hätte.

Wie schon bemerkt, stammt O'Connor aus einer der ältesten irischen Familien. Seine Besitzungen waren nicht unbedeutend und würden ihn wie so manchen andern sorgenfrei haben leben lassen, wenn nicht die mit der höchsten Uneigennützigkeit geführte Volksagitation manche Kosten mit sich gebracht hätte, welche den Betrag seiner Revenue überstiegen. Die Güter, welche O'Connor in Irland besaß, mußten daher teilweise verkauft werden. Die Besitzungen, welche ihm blieben, verschuldeten sehr. Als Barrister-Advokat hätte er natürlich das Fehlende ersetzen können, denn er verstand sich nur zu gut auf das verwickelte englische Rechtswesen, alle übrige Beschäftigung absorbierte aber bald die den Volksinteressen gewidmete Tätigkeit, so daß endlich die Anlage eines Journals das einzige Mittel schien, um den unermüdlichen Agitator vor dem Ruin zu schützen. Dieses Volksorgan, wie man es im eigentlichsten Sinne des Wortes nennen kann, entstand im Jahre 1837 unter dem Namen "The Northern Star" und erfüllte einen doppelten Zweck, indem es nicht allein den Redakteur und den Chef der Chartistenpartei durch seine große Verbreitung pekuniär sicherstellte, sondern auch alle Angelegenheiten des Volkes in geeigneter Darstellung zusammenfaßte.

Das Verschulden der Güter O'Connors und eine Existenz, die auf täglicher Arbeit begründet waren, trugen außer der unermüdlichen Agitation dieses Mannes nicht wenig dazu bei, um ihm dauernden Einfluß bei dem Volke zu sichern; denn wenn man es auch in England gewohnt ist, daß jeder sich für jeden Dienst in barem Gelde bezahlen läßt, so gibt es doch nur zu oft zu allerlei Mißtrauen Veranlassung, wenn ein Agitator, des lieben Lebens wegen, manchmal aus seiner politischen Stellung eine Domäne machen muß. Glücklicherweise hat sich O'Connor vor dieser schiefen Position zu bewahren gewußt.

Neben seinem Fleiße und seiner festen Rechtlichkeit brachte der Irländer indes noch eine dritte Eigenschaft mit nach England herüber. Es war dies die Unerschrockenheit eines Löwen. Wenn er durch das eine seiner Stellung die eigentliche Grundlage gab, durch das andere Freunden und Feinden Achtung einflößte, so imponierte er durch diesen dritten Hauptzug seines Charakters und machte dadurch die Fülle seiner Erscheinung vollständig.

Ein breitschultriger Riese, der die Keule ebensogut schwang, als er behend mit dem Dolche spielte, fiel er seine Feinde an; jede Rücksicht beiseite schiebend und nur sein Ziel vor Augen; mit der Feder die tausend und aber tausend Angriffe der Presse erwidernd und mit der Kraft seiner Lunge jeden Feind niederdonnernd, der ihm auf offenem Markte oder in den Räumen des Parlaments begegnete; ebenso unumwunden in der Wahl der Menschen, die er für die Sache des Volkes benutzen wollte, als rücksichtslos in der Weise, wie er sie desavouierte, sobald sie ihren Bestimmungen nicht ferner entsprachen; den ersten Lord der Pairskammer und den reichsten Fabrikanten Manchesters nicht mehr schonend als den letzten Arbeiter, der seinen Plänen zu widerstehen wagte; allen Spionen des Gouvernements, allen Bestechungsversuchen seiner Feinde und allen Verlockungen seiner falschen Freunde mit gleicher Kälte trotzend; seiner Sache getreu in dem einen Jahre wie in dem andern, auf dem Dreifuß des Redaktionsbüros, auf der Höhe der Tribüne, vor den Schranken des Gerichts oder in der Nacht des Gefängnisses. Wie Börne von Goethe, so kann man noch viel mehr von O'Connor sagen: "Wie eine Mauer stand dieser Mensch im Leben da."

Gehen wir indes nach dieser Schilderung unseres Helden auf den Verlauf der politischen Ereignisse zurück. Im vorigen Kapitel berührten wir die Volksbewegung bis zum Passieren der Reform Bill.

Wie wir sahen, nahm diese große Maßregel alle Geister in Anspruch. Reformers und Radical Reformers, die sich seit dem Manchester Massacre mehr wie je als zwei geschiedene Klassen herausstellten, hatten sich für einen Augenblick wieder bei dieser Gelegenheit die Hände gereicht; die Reformers sahen in der Reform Bill das Ziel ihrer Wünsche, die Radical Reformers betrachteten sie wenigstens als einen Fortschritt. Den vereinten Anstrengungen hatte natürlich denn auch das erwartete Resultat folgen müssen - die Reform Bill wurde Gesetz des Landes; sie war die Niederlage der Aristokratie, ein vollkommener Sieg der Bourgeoisie und ein Fortschritt in der Bewegung der Volksmasse.

Aus diesem Grunde, weil sie nämlich nur ein Fortschritt für die Volkspartei war, löste sich daher auch die Vereinigung der beiden Reformparteien in demselben Augenblick wieder, wo der einstweilige Zweck ihrer Allianz erfüllt war. Die Reformers wurden konservativ in der Reform des Parlamentes, die Radical Reformers blieben revolutionär. Sie hatten sich gegenseitig benutzt; zwei ehrliche, offene Feinde, drehten sie sich wieder den Rücken. Aufs neue begann die alte, eingewurzelte Antipathie. Beschäftigen wir uns mit den daraus entstehenden Konflikten.

Es ist ein gewagter Stoff, den wir uns geben. Zu kolossal, als daß er auf so beschränktem Raume von unserer Feder auch nur flüchtig berührt, geschweige erschöpft werden könnte. Machte nicht schon der leider zu früh geschiedene Buret in seinem trefflichen Werke darauf aufmerksam, daß man die gigantischen Anstrengungen des englischen Volkes, namentlich was die letzten zehn oder fünfzehn Jahre angeht, einzeln schildern müsse, um nur eine entfernte Idee davon zu geben? Er hatte recht. Eine Menschenmasse vieler Millionen hat man vor sich, die zwar alle ihre Tätigkeit zu einem einzigen Zweck vereinigen, die sich aber zugleich in so vielen partiellen Kämpfen und Bewegungen Luft machen, daß das eine unwillkürlich mit dem andern zusammenfließt und die Aufstände der Kohlenarbeiter, die Revolten der Bevölkerung Lancashires und Yorkshires oder die Vorfälle in Birmingham und Sheffield einzeln geschildert werden müßten, wenn man ein richtiges Bild der großen politischen Gesamtbewegung entwerfen wollte.

Die alten Helden der Reformbewegung waren allmählich vom Schauplatz verschwunden. Cartwright, Cobbett und Hunt, sie sanken hinab, ohne das Ziel ihrer Wünsche erreicht zu haben. Eine Nation energischer Männer feierte aber ihr Angedenken, und an die Stelle der Geschiedenen traten jüngere und nicht weniger rastlose Kämpfer "der alten guten Sache".

Robert Owen und Feargus O'Connor. Ehe wir den Anstrengungen des letztern bis in die jüngste Zeit folgen, wollen wir die Laufbahn des erstern mit einigen Worten berühren. Das Auftreten Owens brachte seit der Reform Bill eine gewisse Spaltung unter der Volkspartei hervor, die sich erst vor etwa zwei Jahren wieder ausgeglichen hat. Owen sammelte nämlich die Leute um sich, welche alle ferneren Reformen nur durch moralische Gewdurchsetzen wollten, anders wie O'Connor, der auch der physischen Gewdas Wort redete.

Robert Owen wurde im Mai 1771 geboren und wanderte aus seiner Vaterstadt Newtown in Montgomeryshire früh nach London, wo er als Gehilfe eines Handlungshauses Beschäftigung fand. Wenig schien ihm diese Tätigkeit indes zu behagen, denn schon im sechzehnten Jahre wandte er sich nach Manchester und begann dort für eigne Rechnung ein kleines Spinngeschäft. Merkwürdig ist es, daß er zu dieser Zeit den ersten Ballen Baumwolle verarbeitete, der je von Nordamerika nach England verschifft wurde. Im zwanzigsten Jahre übernahm er die Leitung einer neuerrichteten, sehr bedeutenden Spinnerei für feine Garne, der ersten, die in der Welt erbaut wurde, und prosperierte dadurch so sehr, daß er sich schon nach mehreren Jahren bei einem andern nicht weniger großen Etablissement als Associe beteiligen konnte. Während der junge intelligente Mann auf diese Weise industriell tätig war, hatte er indes nicht versäumt, auch andere Sachen durchzustudieren. Naturwissenschaften, Theologie und Philosophie zogen ihn wechselweise an; seine Kenntnisse vermehrten sich, und seine Urteile geschahen von einem höhern Standpunkte aus. Es konnte daher nicht fehlen, daß er sehr bald des Widerspruches innewurde, der in seiner praktischen Lebensstellung und in der innern Stimme seines besseren Selbst lag. Als praktischer Mann begriff er natürlich alle Vorteile und Segnungen, welche aus einer fernern Entwicklung der Industrie für alle Welt entstehen mußten; der Geist der Humanität, der ihn durch das Studium der Wissenschaft anwehte, machte ihn aber auch darauf aufmerksam, wie nur dann diese Segnungen dauernd sein könnten, wenn Vernunft und Menschlichkeit jene kolossale Entfaltung materieller Verhältnisse zu leiten begännen. Es drängte daher den jungen eifrigen Mann, diese Widersprüche sofort zu versöhnen, indem er die zwei großen Klassen der Gesellschaft, die Besitzenden und die Nichtbesitzenden, über ihre Stellung klarmachte und ihnen zu zeigen suchte, wie nicht durch die bisherige barbarische Exploitation der beiden Klassen, sondern nur durch gegenseitige Liebe und Hilfeleistung der eigentliche Nutzen, das wahre Glück aus jenen großen industriellen Erfindungen gezogen werden könne, welche das Schicksal nicht zugunsten einzelner, sondern zum Besten aller verliehen habe.

Die Umrisse des neuen Systems der Gesellschaft, mit dem sich Owen herumtrug, glaubte er ihrer Richtigkeit nach dadurch am besten erproben zu können, daß er sie selbst praktisch in Anwendung brachte. Sie gründeten sich vor allem auf einer andern als der bisherigen Volkserziehung, und er kam deswegen mit seinen Geschäfts-Associes dahin überein, daß man die großen Spinnereien und Fabriken von New Lanark, welche ungefähr 2500 Menschen beschäftigten, an sich brachte. Mit diesen nebeneinander wohnenden, nützlich beschäftigten Leuten wollte Owen seinen Versuch beginnen, indem er sich bestrebte, dieselben zu glücklichen Menschen zu erziehen.

Es ist nicht zu leugnen, daß dieser edle Vorsatz von vielem Erfolge gekrönt wurde. Treffliche Schulen für das heranwachsende Geschlecht, Sorge für reinliche, wohlgebaute Wohnungen, Herbeischaffung von gesunden, wohlfeilen Nahrungsmitteln, Unterhaltung und Belehrung für Erwachsene - alles dies machte die Arbeiter von New Lanark zu den glücklichsten und zufriedensten, die es vielleicht je in England gab. Owen hatte einen Teil seines Zweckes erreicht; er hatte Segen über eine ganze Landschaft verbreitet, und sein Name war weit und breit gefeiert.

Damit hatten aber auch alle Erfolge ein Ende; vor allen Dingen regten sie zu wenig Nachahmung an, denn leider zeigte es sich, daß Owen, nachdem er vom Jahre 1799 bis 1829 dem Etablissement von New Lanark vorgestanden, nicht nur wenig für sich verdient hatte, sondern daß auch sein früheres Vermögen durch die so herrlich gelungenen philanthropischen Experimente verlorengegangen war. Manche industriellen Kollegen des Herrn Owen mögen laut aufgelacht haben, als sie dies erfuhren. Es zeigte sich, daß man durch persönliches Aufopfern zwar andere Menschen glücklich machen kann, daß aber solche edlen Beispiele selten andere Leute veranlassen, aus der Starrheit der noch zur Stunde bestehenden Eigentumsverhältnisse ebenso liebreich und philanthropisch herauszutreten.

Es ist nicht zu ermessen, inwieweit Owen über die Natur seiner Bestrebungen in New Lanark mit sich im reinen war - genug, er setzte die Agitation für seine Ideen ruhig fort, abwechselnd England, Frankreich, Deutschland, die Vereinigten Staaten und Mexiko durchreisend und alle Gouvernements mit Vorschlägen besserer gesellschaftlicher Einrichtungen bombardierend.

In seinem Werke "The Book of the New Moral World", London 1842, in dem der Verfasser seine sämtlichen Ideen niederzulegen suchte, finden wir als Basis des "Rational System of Society" folgende fünf "Fundamental Facts" hingestellt.

1. Daß der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist (a compound being), dessen Charakter aus seiner Konstitution oder Organisation bei der Geburt und aus den von der Geburt bis zum Tode darauf einwirkenden äußern Umständen gebildet wird, indem die ursprüngliche Organisation und die äußern Einflüsse fortwährend das eine auf das andere wirken und zurückwirken

2. daß der Mensch durch seine ursprüngliche Konstitution gezwungen wird, seine Gefühle und Überzeugungen unabhängig von seinem Willen zu empfangen

3. daß seine Gefühle und Überzeugungen den Willen hervorbringen, der ihn zum Handeln treibt und sein Handeln entscheidet

4. daß die Organisation von zwei menschlichen Wesen niemals ganz dieselbe ist, noch von der Kindheit bis zum Erwachsensein zwei Individuen auf künstliche Weise ganz gleich geformt werden können

5. daß nichtsdestoweniger die Konstitution eines jeden Kindes, ausgenommen bei organischen Fehlern, fähig ist, zu einer viel schlechtern oder einer viel bessern gebildet zu werden, je nachdem die Natur der äußern Umstände auf diese Konstitution von der Geburt an einwirkt.

In den Meetings der Anhänger Owens, der sogenannten englischen Sozialisten, werden diese fünf "Fundamental Facts" jedesmal vor dem Beginn der Verhandlungen wie ein Abschnitt aus dem Katechismus vorgelesen, so daß man also großen Wert darauf zu legen scheint. Ich muß es meinen Lesern überlassen, in dem Buch von der neuen moralischen Welt nachzulesen, wie Owen auf diesen "Fundamental Facts" sein ganzes System erbaut. Mit wahrhaft bewunderungswürdiger Weitschweifig hat er darin nachgewiesen, wie die Menschen nicht sind und wie sie wohl sein könnten und wie erst dann etwas mit ihnen anzufangen sei, wenn sie ganz und gar umerzogen wären.

Wir gehören nicht zu den Bewunderern solcher Systeme und halten es jedenfalls für das beste, die Menschen einstweilen so zu nehmen, wie sie sind. Owen scheint es selbst für geraten gehalten zu haben, hierauf überzugehen, indem er, nach einem von den Herzögen von Kent und Sussex geleiteten, aber schon im Entstehen gescheiterten Versuche, aufs neue mit seinen Anhängern in England ein auf Aktien basiertes Unternehmen begann. Dies war die unter dem Namen "Harmony Hall" im Süden von England errichtete Anstalt, welche, von teilweise sehr fruchtbaren Feldern umgeben, ihren Bewohnern neben einer Beschäftigung als Handwerker sogleich eine landwirtschaftliche Tätigkeit verstattete. Das ganze Etablissement war unter Owens eigenen Augen nach seinem eigenen Plane errichtet; die Ökonomie des Zusammenwohnens, Essens und Trinkens, ohne für die einzelnen Individuen unangenehm und beengend zu sein, sollte den Bewohnern einen höhern Grad der Lebensgenüsse erlauben, indem die Produktionskosten ihrer Arbeiten dennoch ein Konkurrieren mit der übrigen Gesellschaft möglich machten. Während die erwachsenen Personen auf diese Weise, ähnlich den Arbeitern von New Lanark, einer bessern materiellen Lage sich erfreuen und durch geselligen, musikalisch, theatralisch und wissenschaftlich verschönerten Umgang noch jene Bildung erhalten würden, welche ihrer Jugend fehlte, wollte man in dem neuen Etablissement zugleich eine Knaben- und Mädchenschule auf großartigem Fuße errichten, um nicht nur die Kinder von Harmony Hall, sondern auch die von den Aktionären und sonstigen Freunden des Owenschen Systems zur Pflege übergebenen Zöglinge von vornherein zu jener Mustergeneration heranzubilden, von der Owen das vollkommene Gelingen seines Systems abhängig machte.

Ein durch Aktien unter der Arbeiterwelt und der kleinen Mittelklasse Großbritanniens aufgebrachter Fonds von fast 40 000 Pfund Sterling (etwa 1/4 Million Taler) machte die Ausführung aller dieser Pläne möglich. Die Werkstätten füllten sich mit Handwerkern, die Felder mit Ackerbauern und die Schulen mit Kindern, und im Jahre 1838 war die Anstim besten Zuge.

Als ich einige Jahre später nach England kam und in dem von den Schülern Owens in Harmony Hall selbst herausgegebenen Journal "The New Moral World" die genauesten Berichte über diese Anstlas und auch sonst von meinen Freunden viel Lobenswertes darüber hörte, fühlte ich das Bedürfnis, mich mit eigenen Augen von dem Gelingen des Unternehmens zu überzeugen, und machte mich deswegen von London nach Harmony Hall auf den Weg. Nach zwei Tagen war ich an Ort und Stelle und wurde aufs freundlichste von den Bewohnern empfangen. Wider Erwarten fand ich alles ausnehmend schön. Die Bauart der großen Halle sowie die der sämtlichen Nebengebäude war höchst elegant. Breite, bequeme Treppen führten zu den verschiedenen Etagen, und in den Zimmern herrschte überall Ordnung und Reinlichkeit, ja manche schienen mir zu gut und zu luxuriös für die Beschäftigung der Bewohner eingerichtet zu sein. Fast alle Leute der Anstsahen sehr wohl und munter aus; mit vielem Anstand ließen sie sich zu ihrem Diner nieder, und ich muß gestehen, daß ich oft in meinem Leben schlechter als in Harmony Hall gegessen habe. Die Kinder waren nicht weniger vergnügt als ihre Eltern und Freunde; nach beendigtem Unterricht tummelten sie sich lustig auf dem großen Hofraum umher, der von blühenden Gärten und lachenden Feldern eingefaßt war.

Die ganze Bevölkerung von Harmony Hall kam mir wie eine große glückliche Familie vor, bei der sich Wohlstand und gute Sitte bis in die kleinsten Details hinunter zeigte. Mit den besten Wünschen für ihr ferneres Wohlergehen verließ ich meine Wirte und würde mich gern der reinsten Freude über so frohe, zufriedene Menschen hingegeben haben, wenn sich mir nicht noch immer der Gedanke aufgedrängt hätte, daß all diese Glückseligkeit doch am Ende nur auf dem Ruin der armen Aktionäre begründet sein könne. Leider verwirklichten sich diese Befürchtungen nur gar zu bald. Einigen vorläufigen Bemerkungen folgte ein dringendes Mahnen um fernere Geldbeiträge von seiten der Gesellschaft. Es zeigte sich, daß man mit dem ursprünglichen Kapital nicht ferner mehr auskam; die Aktionäre wurden unruhig, man verlangte eine genaue Rechnungsablage und erschrak nicht wenig, als man nach den Tabellen des Sozialistenorgans, der "New Moral World", schließlich fand, daß der eingeschossene Fonds schon zur Hälfte aufgezehrt war. Die Geschichte kam nun ins Stocken, einige unwillige Gläubiger meldeten sich, und man mußte liquidieren; die Gesellschaft löste sich auf.

So endete der zweite, ziemlich großartige Versuch, das System Owens praktisch zu verwirklichen. Bei dem ersten in New Lanark hatte Owen selbst die Kosten bezahlt, bei dem zweiten in Harmony Hall zahlten die Aktionäre die Zeche. Wiederum hatte es sich gezeigt, daß trotz aller Ökonomie in der Einrichtung großer, gemeinschaftlicher Gebäude dennoch ein Konkurrieren mit der übrigen Gesellschaft, deren Prosperität auf dem Elende der Arbeiter begründet ist, unmöglich wird, wenn die Arbeiter der gemeinschaftlichen Anlagen viel besser leben wollen als ihre Kollegen da draußen.

Sehr wahrscheinlich werden ähnliche Unternehmungen, falls man daran noch wagen sollte, nur zu ähnlichen Resultaten führen.

Abgeschnitten und unberührt vom ganzen übrigen Weltverkehr mögen sie im fernen Westen von Amerika oder sonst in einem Winkel der Welt wohl gelingen - solange sich aber eine Gemeinschaft noch den ökonomischen Gesetzen unterwirft, welche die übrige Welt rings um sie herum regieren, so lange wird sie auch die Konsequenzen dieser Gesetze tragen müssen. Der Zukunft und einer noch gewaltigern Entwicklung des Proleariats wird es überlassen bleiben, etwas dauernd Großes und Umfassendes an die Stelle unsrer heutigen Verhältnisse zu setzen. Die Philanthropie eines Owen ist nichts im Vergleich zu den Ereignissen, welche die eherne Notwendigkeit mit sich bringen wird.

Kurz nach dem Scheitern der Unternehmung von Harmony Hall wurde ich mit dem alten Owen bekannt gemacht. Ich sah einen alten, ehrwürdigen Mann vor mir, auf dessen Gesicht ein feierlich friedlicher Ernst lag. Seine kleinen klugen Augen schimmerten freundlich durch die ergrauten Wimpern. Er sprach wenig und spielte mit zwei Kindern, die er auf den Knien wiegte. Als er hörte, daß ich ein Deutscher sei, erzählte er von seinen Reisen in meiner Heimat, erwähnte seine Unterredungen mit Humboldt und Raumer und schien sich namentlich über die Gunstbezeugungen des früheren Königs von Preußen und Ludwigs von Bayern nachträglich zu freuen. Ich vermied es, auf die philanthropischen Bestrebungen und auf das System des alten Mannes einzugehen. Einer der Anwesenden begann aber aufs neue über den Fall von Harmony Hall zu jammern, und mit dem ruhigsten Tone bemerkte der Greis, daß er dies vorhergesehen habe, daß aber die Zukunft seines Systems gedenken werde. Am folgenden Morgen begleiteten wir den alten Herrn nach der Eisenbahnstation. Er begab sich nach Liverpool, um von da seine siebte Reise nach den Vereinigten Staaten zu machen. Bei seinem früheren Aufenthin Amerika war er schon entschlossen gewesen, nicht mehr nach England zurückzukehren; als aber Harmony Hall am Wanken war, kam er noch einmal herüber, um bei dem englischen Gouvernement eine Summe von 6000 Pfund Sterling zu reklamieren, die er einst der Gemahlin Georgs IV. vorgeschossen hatte und die jetzt seinen Schülern aus der Klemme helfen sollte. Vergebens hatte er sich um dieses Geld bemüht; es war nicht zu erhalten, und Harmony Hall mußte fallen.

Jetzt nahm der gute Mann auf ewig von seinen Jüngern in England Abschied. Ich fürchte mich vor rührenden Szenen - ich machte mich aus dem Staube, als wir in die Station traten. Einige Minuten nachher kehrten die weinenden Schüler stumm und traurig zu mir zurück. Der Alte war fort.

Wie ich höre, soll er jetzt abwechselnd den Mississippi und den Ohio befahren, auf den Dampfschiffen während der Reise Vorträge haltend, und dann wieder zu seinem Sohn Robert Dale Owen nach New Harmony in Indiana zurückreisen, wo das System des großen Philanthropen wirksamer als in England ausgeführt zu sein scheint. Einen eigentümlichen Reiz hatte es, diesen merkwürdigen Mann gerade in dem Augenblicke zu sehen, wo er auf immer von einem Lande Abschied nahm, dessen großartige industrielle Entwicklung er mehr als viele andere in ihren ersten Keimen beobachtet hatte, eine Entwicklung, die ihn selbst einst mit Reichtum überschüttete, die ihn aber auch nicht die Schattenseiten übersehen ließ, welche sie an sich hatte, und ihn zu jenen Forschungen gesellschaftlicher Zustände führte, denen wir viel Wahrheit und Belehrung entnehmen können.

Das Gold, das ihm die Industrie gegeben, er gab es wieder hin, um die Leiden zu heilen, welche die Industrie mit sich brachte.

Daß seine philanthropischen Versuche im größern Maße an der Barbarei unsrer heutigen Zustände scheitern mußten, es war natürlich. Aber ein Vorläufer jener großen Reformer wird er bleiben, die uns die Welt in ihrer Entwicklung bringen muß. Als solchen wird man ihn immer nennen und verehren. Der Dank vieler Tausende, die er glücklich machte und die noch heute leben, er fehlt ihm nicht.

Gehen wir nach diesen wenigen Mitteilungen über die durch Owen repräsentierte sozialistische Fraktion der englischen Volkspartei wieder auf die weit bedeutendere durch Feargus O'Connor vertretene politische Bewegung über. Sie beschäftigte sich nach dem Passieren der Reform Bill zunächst mit dem anscheinend unwichtigen, aber im Grunde höchst bedeutsamen Gegenstande des Herabsetzens der Stempel-Taxen für Zeitungen.

Vor und während der Agitation für die Reform Bill hatte sich unter dem Volke die Lust des Zeitungslesens ungemein vergrößert. Dies war natürlich. Jeder wollte sich über das, was im Lande vorging, unterrichten, und gierig fiel man über alle Blätter her. Leider kostete aber jede Nummer allein an Stempel 4d (etwa 3 1/2 Sgr.), so daß es unbemittelten Leuten fast unmöglich war, ihre Neugierde immer zu befriedigen. Ein Umgehen des Stempels war daher bald an der Tagesordnung, und zahllose Journale erschienen, die der Strafe des Ohne-Stempel-Publizierens zu trotzen wagten.

Während der Aufregung der Reform-Agitation würde es umsonst gewesen sein, wenn man die Herausgeber der verschiedenen Blätter jedesmal hätte belangen wollen, denn für jeden Ruinierten würde sich schnell ein neuer eingestellt haben; auch mochte dem Gouvernement hin und wieder wohl daran gelegen sein, daß alle Neuigkeiten soviel als möglich unter das Volk drangen, so daß man dann ein Auge über das Vorfallende zudrückte.

Als indes die große Bewegung zu Ende war, da brach man nur zu schleunig über die plötzlich allerorts erschienenen Journale her, Konfiskationen erfolgten in Masse, und das Volk, das sich noch eben der billigen Lektüre erfreut hatte, sah sich zu seinem großen Ärger wieder in der traurigen Lage, alle Nachrichten entbehren zu müssen. Ein allgemeiner Schrei des Unwillens tönte daher von einem Ende Englands bis zum andern; eine regelrechte Agitation begann gegen den verrufenen Stempel, und das Gouvernement sah sich denn auch zuletzt genötigt nachzugeben, indem es den Stempel von 4 auf 1 d ermäßigte. Diese Maßregel passierte das Haus der Commons im August 1836.

Während man die Agitation gegen die Stempel-Taxe führte, hatte indes noch eine andere Sache die Gemüter des Volkes und namentlich der industriell beschäftigten Arbeiter in Anspruch genommen. Dies war der Umstand, daß man sich endlich im Unterhause mit etwas Ernst den Untersuchungen über den Einfluß des Fabriksystems auf die arbeitende Klasse hingab. Infolge vieler Klagen war schon im Jahre 1818 eine Bill Sir Robert Peels zur Regulierung der Arbeitsstunden in den Fabriken passiert; 1825 und 1831 passierte eine zweite und eine dritte Bill, "da aber", wie der Dr. Wade in seiner "Geschichte der Middle and Working Classes" sagt, "die scheußliche Barbarei in den Manufakturdistrikten fortfuhr, so wurde ein neuer Akt nötig. Es zeigte sich durch den Bericht eines parlamentarischen Komitees, welches die wahrhaft entsetzlichen Grausamkeiten der Fabrikbesitzer aufdeckte, daß alle bisherigen Maßregeln die niedrigen Leidenschaften jener Leute nicht im Zaume zu halten vermochten und daß sie in ihrem Drang nach Gewinn kaum von den Spaniern an Barbarei übertroffen wurden, als letztere einst voll Goldgier über das neuentdeckte Amerika herfielen."

Der Bericht des Parlament-Komitees, wovon Wade spricht, behandelt namentlich die in den Baumwollspinnereien gegen die Arbeiter verübten Grausamkeiten und füllt nicht weniger als 600 Folioseiten. Es geht daraus hervor, daß es nichts Ungewöhnliches war, wenn man fünfzehn- oder sechzehnjährige Knaben von 4 Uhr morgens bis 1/2 12 Uhr nachts in einem fort arbeiten ließ, daß manche Kinder sich gewöhnlich nachts in den Wollmagazinen verbargen, um dort zu schlafen, weil sie zu müde waren, um nach Hause zu gehen, und daß kleine Mädchen, stehend bei ihren Maschinen eingeschlafen, gar nicht bemerkt hatten, daß diese stillgesetzt waren, und noch immer die Bewegungen machten, mit denen sie wachend den Lauf der Spindeln begleiteten. Im Juli 1833 brachte dann Lord Ashley seine 10-Stunden-Bill vor das Parlament, die aber verworfen wurde, indem man ein Amendement Lord Althorps annahm, wonach einstweilen nur die Arbeiter beschützt werden sollten, welche zu jung seien, um sich selbst helfen zu können.

In dem dann votierten Fabrik-Regulations-Akt stellte man fest, daß kein Kind vor dem neunten Jahre beschäftigt werden und daß kein Kind unter 11 Jahren mehr als 48 Stunden in einer Woche arbeiten solle, auch nicht mehr als 9 Stunden in einem Tage. Nach dem 1. März 1835 erstreckte sich diese Maßregel auf Kinder unter 12 Jahren, nach derselben Zeit 1836 auf alle unter 13. Personen unter 18 Jahren sollten nicht mehr als 69 Stunden in der Woche arbeiten.

Es läßt sich leicht denken, daß diese Versammlungen aufs eifrigste von der Volkspartei überwacht wurden; der durch das Passieren der Reform Bill immer größer gewordene Haß zwischen der industrietreibenden Mittelklasse und den alten Torys war schuld daran, daß auch letztere namentlich im Parlamente dafür stimmten. Außer dem Hause hatte der Tory Richard Oastler vor allen andern das Wort geführt und sich so populär gemacht, daß ihn die Arbeiter nicht anders mehr als "King Dick" (König Dick) nannten und ihn nicht selten bei einem Meeting durch ihre Kinder mit Blumen bekränzen und nach dem Schluß der Sitzung wie im Triumphe wieder nach Haus führen ließen. Noch bis zur Stunde weiß der jetzt ziemlich gewordene Mann seinen Namen mit alledem, was die Fabrikkinder angeht, zu verbinden, und ob er auch nach vielen Widerwärtigkeiten seines Lebens endlich als Wechselmakler unter der Firma Wellbeloved u. Oastler in Leeds seine Tage zu beschließen gezwungen ist und dadurch also augenblicklich noch selbst in den Reihen der Mittelklasse steht, so scheut er sich doch nicht, noch fortwährend seine Kollegen anzugreifen und sich so in das Gedächtnis seiner politischen Freunde zurückzurufen.

Mehr als Zeitungsstempel und Fabriksystem setzten aber die Folgen des im Jahre 1834 gewissermaßen als Nachtrag zu der Reform Bill passierten neuen Armengesetzes die sämtlichen Volksagitatoren in Bewegung. Da wir in einem der nächsten Kapitel das englische Armenwesen ausführlich beleuchten werden, so bemerken wir hier nur, daß die geschehene Änderung darin bestand, daß man nicht mehr wie früher hilfsbedürftige Arme in barem Gelde abfand, sondern sie hinfort in Arbeitshäuser steckte, wo sie durch allerlei strenge Maßregeln dermaßen gepeinigt wurden, daß im eigentlichsten Sinne des Wortes aus der Mildtätigkeit eine Strafe wurde.

Der Grund dieser sonderbaren Änderung war das unerhörte Steigen der Armentaxe, die einen solchen Betrag erreichte, daß man unwillkürlich vor der weiteren Verfolgung des bisherigen Systems zurückschauderte. Der Poor-Law-Amendment-Act mit seinen barbarischen Workhouses sollte nun die Armen gewissermaßen davon zurückhalten, die Mildtätigkeit der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen. Dies schien das einzige Mittel zu sein, wie man sich vor der steigenden Taxe bewahren könne.

Daß ein solches Gesetz die fürchterlichste Entrüstung unter dem Volke hervorbrachte, läßt sich leicht denken. Arbeiter, die sich ihr ganzes Leben lang ehrlich für ihre Herren geplagt hatten und durch den Verlust ihrer Kräfte, durch Handelskrisen oder sonstige Unglücksfälle plötzlich außer Brot kamen, sollten jetzt nur in Häusern, die das Volk mit Recht "Armen-Bastillen" nannte, ein Asyl finden, wo sie bei schlechter Kost, von Weib und Kind getrennt einer entwürdigenden Beschäftigung wie dem Gehen-in-der-Tretmühle usw. unterworfen wurden - das war zu stark! Augenblicklich standen die Führer der Volkspartei dagegen auf.

Unter ihnen zeichnete sich ein Methodistenprediger aus, Joseph Rayner Stephens aus Stalybridge, ein wilder Fanatiker, der naiv genug war, den Kindern seiner Gemeinde aus der Bibel zu beweisen, daß Gott ganz damit einverstanden sei, wenn sie einmal recht gründlich über die Priester Baals, über die reichen Fabrikanten, herfielen, daß ein Schwefelhölzchen hinreiche, um eine tüchtige Verwüstung unter ihren Palästen anzurichten, und daß überhaupt alle politischen Bewegungen nur Messer-und-Gabel-Fragen seien, indem sich alles zuletzt auf Essen und Trinken reduziere.

Stephens, "der hochwürdige Feuerbrand", wie ihn Lord Brougham einst im Parlamente titulierte, hatte sich, wie gesagt, das neue Armengesetz vor allem andern zum Thema genommen. Er erklärte dem Volke geradezu, daß es die richtige Konsequenz der Bevölkerungstheorie von Malthus sei, "dieses eingeborenen Teufels", der das ganze Gouvernement verrückt gemacht habe.

In seinem "Essay on the Principle of Population", ein Werk, welches zuerst im Jahre 1798 erschien, nahm Malthus an, daß die Bevölkerung der Erde sich bei vollkommen freier Entwicklung jedesmal in 25 Jahren wenigstens verdoppeln, also in einer geometrischen Proportion wachsen würde, daß dagegen die Subsistenzmittel in Betracht des jetzigen Zustandes der Erde und unter den günstigsten Umständen nur in einer arithmetischen Proportion gesteigert werden könnten. Die Bevölkerung würde sich also vermehren: 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256 - die Subsistenzmittel: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9. In zwei Jahrhunderten würde sich die Population zu den Subsistenzmitteln verhalten wie 256 zu 9, in drei Jahrhunderten wie 4096 zu 13, und in zweitausend Jahren würde der Unterschied beinah unberechenbar sein - genug, es würde schon bald das Bestehen der Menschheit unmöglich werden, wenn Krieg, Pest, Not und Tod die Bevölkerung nicht stets wieder mit den Subsistenzmitteln ins Gleichgewicht brächten. Hierauf gestützt, erklärt Malthus das Laster wie das Elend für ganz herrliche Sachen, da sie die Bevölkerung, welche stets die Neigung hat, sich über ihre Subsistenzmittel hinaus zu entwickeln, wieder in die gehörigen Schranken zurückdrängen. Er erklärt jeden Versuch, die Not der Menschen durch Almosen zu erleichtern, für eine Torheit und für sehr gefährlich, da dies dem ärmern Teil der Bevölkerung erlaube, sich auszudehnen, wodurch über kurz oder lang doch nur abermaliges, größeres Elend herbeigeführt werde. Er erlaubt auch die Heirat nur einigen vom Schicksal Begünstigten und sagt wörtlich: "Ein Mensch, der in einer Welt geboren wird, die schon besetzt, hat, falls ihn seine Familie nicht ernähren kann und die Gesellschaft seiner Arbeit nicht bedarf, nicht das geringste Recht auf irgendeinen Teil von Nahrung; er ist zuviel auf der Erde. Bei dem großen Bankett der Natur hat man kein Kuvert für ihn gelegt. Die Natur befiehlt ihm, sich zu entfernen, und zögert nicht, diesen Befehl selbst in Ausführung zu bringen." Ebenso heißt es am Schlusse des ersten Bandes wörtlich: "Die stille, aber sichere Untergrabung des Lebens in großen Städten und Manufakturen, die engen Wohnungen und die unzureichende Nahrung vieler Armen lassen die Population die Summe der Subsistenzmittel nicht überschreiten und, wenn ich einen Ausspruch wagen darf, der gewiß anfangs sonderbar erscheinen wird, überheben uns der Notwendigkeit großer, verheerender Seuchen, um das Überflüssige zu zerstören."

Der Geist des neuen Armengesetzes, das aus der Mildtätigkeit eine Strafe machte, hatte wirklich genug Ähnlichkeit mit den Ideen eines Malthus, und es bedurfte wohl kaum der feurigen Beredsamkeit eines Stephens, um dies dem Volke klarzumachen. Die Erbitterung der Masse wurde aber noch gesteigert, als plötzlich unter dem Titel "On the Possibility of Limiting Populousness - an Essay on Populousness, to which is added the Theory of Painless Extinction" ein kleines Werk erschien, in welchem der Verfasser Marcus, ein übrigens unbekannter Mann, auf die Malthusianischen Ideen gestützt, geradezu den Kindermord predigte. Die vierte Auflage, erschienen bei W. Dugdale, Holywell Street, Strand, London 1840, wurde uns mit dem Bemerken übersandt, daß der Verfasser in seinem Buche die Theorie ,Malthus' dadurch habe lächerlich machen wollen, daß er die Sache auf die Spitze stellte.

Wir wollen dies gern so annehmen oder die ganze Geschichte auch nur als einen schlechten buchhändlerischen Spaß betrachten. Befremden muß indes jedenfalls der mysteriöse Ton des ganzen Buches und namentlich der Umstand, daß es zuerst bei einem Verleger erschien, der sich vorzugsweise mit der Verbreitung moralischer und religiöser Schriften beschäftigte. Wie dem auch sei, das Volk nahm in seiner fieberhaften Aufregung jene "Theorie der schmerzlosen Vertilgung" als ernst entgegen. Geben wir in wenigen Worten den Inhdes Buches an. In dem ersten Kapitel wird erwähnt, daß Malthus zuerst die Theorie der Übervölkerung aufgebracht habe und daß von Gottes und Rechts wegen Laster und Elend in der Welt existieren müssen, um der schnellen Vermehrung menschlicher Wesen zu steuern. Im zweiten Kapitel setzt der Autor auseinander, daß in alten Zeiten Sklaverei und Kindermord dem Übel der Übervölkerung so sehr vorbeugten, daß man diese damals nicht schwer fühlte und ihr deshalb keine Aufmerksamkeit schenkte. Im dritten Kapitel legt der Verfasser die Basis seiner Theorie nieder, welche darin besteht, daß alle Kinder, welche über drei in einer Familie geboren werden, zur Verminderung der Population ermordet werden sollen; sogar alle dritten Kinder soll man sammeln und über jedesmal drei aus vieren das Los werfen, damit man sie zerstöre. Im vierten Kapitel wird der Vorschlag gemacht, daß man unter gesetzlicher Sanktion eine Assoziation bilde, welche den Plan in Ausführung bringe; im fünften, daß die ärmeren Klassen, überhaupt alle die, welche nicht eine gewisse Summe des Eigentumes besitzen, ihre Kinder ausliefern sollen, damit man sie erdroßle. In Irland soll jede arme Familie nur ein Kind auferziehen dürfen, damit man die Population dort vermindere. Der Verfasser schlägt ebenfalls vor, daß Eltern durch ein geringes Gehveranlaßt werden sollen, sich bei der Vertilgung ihrer Kinder zu beruhigen; namentlich sollen diejenigen unterstützt werden, welche versprechen, ganz kinderlos bleiben zu wollen. Am Schluß des Buches heißt es, daß Eltern nicht das Recht hätten, mehr Kinder aufzuerziehen, als die Gesellschaft verlange; ferner, daß kein Kind ein Recht auf sein Leben habe und nur die Gesellschaft zu entscheiden brauche, ob es sein Leben fortsetzen dürfe oder nicht. Des Kindes Anspruch auf Existenz wird ein imaginäres Recht genannt. Man ladet dazu ein, die Mütter durch hübsche und lustige Bilder über den Mord ihrer Kinder zu beruhigen; sie sollen mit dem Gedanken befreundet werden, daß es zum Wohle der Welt sei, daß sie ihre neugeborenen Kleinen opferten. Vor allem sollen aber die toten Kinder in hübschen Reihen begraben werden, die man mit Blumen und schönem Gesträuch auszuschmücken hat; und diese Gräberreihen sollen dann das "Paradies der Kinder" heißen, und der Ort soll ein Erholungsort und eine Promenade der armen arbeitenden Klasse sein. Der Autor setzt hierauf seine Mordmethode auseinander, welche er die "Theorie der schmerzlosen Vertilgung" nennt, das heißt: die Kunst zu morden, ohne Schmerz zu verursachen. Diese Kunst besteht darin, die Luft, welche die Kinder während ihres ersten Schlafes einatmen, nach und nach mit einer hinreichenden Quantität tödlichen Gases zu vermischen und dadurch den Schlummer in einen Todesschlaf zu verwandeln.

Es bedarf weiter keiner Bemerkung über diese Ausgeburt einer verpesteten Phantasie.

Der Pfarrer Stephens brachte aber das Marcussche Buch in dieselbe Linie mit dem Poor-Law-Amendment-Act und erklärte sie für Zwillingskinder der Malthusianischen Muse. In dem Munde des fanatischen Methodisten wurden solche Sachen natürlich zu Mitteln, welche die Masse des Volkes mehr als je in Bewegung setzte:

"Für Weib und für Kind
Mit Messern zum Kampfe geschwind!"

So sang er auf der Kanzel seiner Kapelle. Da kannte die Neugier und der Enthusiasmus keine Grenzen mehr. Aus Liverpool, Manchester, Bury, Middleton, Oldham, Leeds usw. wanderten die Arbeiter in Scharen zu dem ehrenwerten Feuerbrand hinüber, und wenn dann am Sonntage die Kapelle zu eng war, um alle fassen zu können, da ajournierte man den Gottesdienst auf den offnen Marktplatz. Stephens stellte sich auf ein Faß oder auf eine Karre, und seine Zuhörer standen bis in die entferntesten Straßen hinein. Die Zusammenkünfte nahmen bald einen so drohenden Charakter an, daß es vom Gouvernement für das beste gehalten wurde, einen Trupp Artillerie nach Stalybridge zu schicken, so daß nicht selten im Bereich der Kanonen die Tribüne des feurigen Geistlichen errichtet wurde.

Ein Bändchen Stephensscher Predigten, das ich als einen Schatz hochkomischer Kanzelberedsamkeit aufbewahre, gibt den schönsten Beweis, wie selbst die wahnsinnigsten Tiraden auf das Volk einwirken können, wenn nur die rechten Stichwörter der verschiedenen Parteien darin vorkommen. Stephens warf damit nach Herzenslust um sich, und deshalb machte er Effekt.

Ein lustiger Feuerwerker, ließ er Funken und Flammen um seine Kanzel sprühen, und wenn er die Leute auch über nichts belehrte, so setzte er sie doch in Bewegung, und das war damals durchaus nötig. Man hatte sich zuviel von den Folgen der Reform Bill versprochen. Es war im Interesse der Volkspartei, daß Männer wie Stephens die Masse des Volkes selbst durch Übertreibungen davon zurückbrachten. Stephens hatte das Verdienst, dies zu unternehmen und teilweise durchzuführen. Er machte das meiste aus der Anti-Poor-Law-Amendment-Act-Agitation. "He made the most of it", wie die Engländer sagen.

Ein feuriger, wilder Prophet, bahnte er den Weg für den Irländer Feargus O'Connor.

Nach einer kurzen Tätigkeit brachte man indes den eifrigen Methodisten in den "Court of Queen's Bench" und beschuldigte ihn der Absicht, den öffentlichen Frieden auf eine sehr gefährliche Weise haben stören zu wollen. Er habe eine große Menge der Untertanen der Königin zum Tumult, zur Insurrektion und zum Ungehorsam vor dem Gesetz aufgereizt und sie zu überreden gesucht, die Person und das Eigentum verschiedener friedlicher Untertanen Ihrer Majestät zu beschädigen. Am 17. August 1839 machte man ihm dann in Chester den Prozeß. Die Sitzung begann um 9 Uhr morgens und dauerte ohne Unterbrechung, ausgenommen ungefähr 10 Minuten, bis 8 Uhr abends.

Stephens verteidigte sich in einer Rede, welche 5 Stunden weniger 5 Minuten dauerte, weswegen er von den Richtern im höchsten Grade bekomplimentiert wurde. Der Generaladvokat war aber ohn' Maßen wütend. Die Jury, nachdem sie fast eine halbe Minute deliberiert hatte, gab das Verdikt: "Schuldig", und der Richter eröffnete dem ehrenwerten Agitator, daß er sich auf 18 Monate nach dem Korrektionshause von Knutsford zu verfügen habe.

So bestrafte man den würdigen Mann, der die Kühnheit hatte, dem Volke zu sagen, daß das neue Armengesetz und das Kindermordbuch des Marsus aus derselben Quelle stammten.

Die Gefangenschaft des Methodisten wurde dadurch versüßt, daß die englischen Arbeiter eine Subskription für Stephens eröffneten, wodurch über 3000 Pfund Sterling in seine Taschen geflossen sein sollen.

Mit diesem Sümmchen hat der gute Mann sich aus dem Leben und Treiben der Politik wieder nach Stalybridge zurückgezogen, wo er noch heutigen Tages sehr vergnügt seines Daseins pflegt.

Während, wie wir erzählten, die Sozialisten ihren Versuch machten, das System Owens praktisch auszuführen, während die Agitation gegen die Stempeltaxe, gegen das Fabriksystem und gegen das neue Armengesetz im besten Zuge war, hatte der Irländer Feargus O'Connor seinen Fuß auf britischen Boden gesetzt und den ersten Anlauf genommen, um die Bewegung des englischen Volkes in seine Hände zu nehmen. Sein Unternehmen war nicht das leichteste. Schon als Irländer, der stets von den Briten mit etwas zweideutigen Augen betrachtet wird, hatte er mit mehr Vorurteilen als mancher andere zu kämpfen. Die meisten Schwierigkeiten machten ihm indes die Führer der alten Radical Reformers, welche nach und nach konservativ in ihren Ideen geworden waren und sich durch den ersten besten sprudel-frischen Geist nicht aus ihrem Schlendrian herausreißen lassen wollten. Durch die teilweisen Erfolge der letzten Jahre hatte sich eine gewisse Aristokratie unter den revolutionären Leuten gebildet, die größtenteils aus abgenutzten und verschlissenen Individuen oder aus solchen bestand, die, in gewissen Lieblingspunkten disappointiert, den Mut zu weitern Anstrengungen verloren und sich mürrisch in sich zurückzogen, indem sie die jüngeren Agitatoren neidisch anbellten. In gewisser Beziehung gehörte auch der alte Jackson, der uns im vorigen Kapitel die Entwicklung der Radical Reformers schilderte, zu diesen Leuten; je mehr O'Connor an Einfluß gewann, desto inniger neigte sich mein alter Freund der letzten, äußersten Spitze der Partei der Radical Reformers zu, die sich in dem in Birmingham lebenden bekannten Sturge personifizierte. Seine Abneigung vor den Chartisten ging sogar schließlich so weit, daß er entschieden mit ihnen brach und ihren Chef O'Connor in einer sehr ausgearbeiteten Broschüre von unten bis oben angriff.

Wir müssen gestehen, daß es ihm gelungen ist, O'Connor manche Inkonsequenzen nachzuweisen; nichtsdestoweniger scheitert aber all sein Scharfsinn an den vielen guten Eigenschaften jenes merkwürdigen Mannes, und wir glauben, unbeschadet unseres Helden, den Beginn der Jacksonschen Broschüre erwähnen zu dürfen, da sie uns in sehr lustiger Weise das erste Auftreten unseres O'Connors schildert. "Gern", beginnt Jackson, "machen wir mit Feargus O'Connor den englischen Radikalen ein Geschenk. So drückte sich Daniel O'Connell einst aus, und daß er überhaupt dies Geschenk machte, daß er es so gern und zu damaliger Zeit gab, das zeigt nur zu deutlich, daß Daniel viel früher als die englischen Radikalen wußte, wie es wirklich mit diesem Geschenke aussah.

O'Connor hatte seine Anlage zu einem politischen Agitator und seine Ausdauer in allem, was er unternahm, genügsam in Irland bewiesen. O'Connell griff ihn daher auf und hoffte, aus seiner wilden Hast allmählich einen nützlichen Eifer zur Erringung gleicher Rechte und Gesetze Irlands mit Alt-England zu machen. Die Hoffnungen O'Connells schlugen aber fehl; denn nachdem er Feargus zu einer Stellung erhoben hatte, in welcher er etwas leisten konnte, zeigte es sich nur zu bald, daß seine Indiskretion mehr schadete als sein Mitarbeiten nützte. O'Connors Rücksichtslosigkeit und seine Wut, in allen Dingen das Kommando übernehmen zu wollen, zwangen O'Connell, ihn entweder als unbrauchbar laufen zu lassen oder sich der Gefahr auszusetzen, stets die Sache seines Landes durch ihn kompromittiert zu sehen. Daher die Bereitwilligkeit Daniels, sich O'Connor vom Halse zu schaffen.

Die englischen Radikalen nahmen indes das Geschenk an; sie waren damals in einer sonderbaren Lage; mit jedem Tage wurde es ihnen klarer, wie die Reform Bill doch nur von sehr geringfügigen Folgen für die Masse des Volkes sein könne, mehr als je fühlten sie sich in ihren Hoffnungen getäuscht, und von allen Seiten drängten sie sich zu einem neuen Sturm zusammen. Da trat ,Feargus O'Connor, Esq., früher M.P. für Cork, Barrister at law, der Sprosse altirischer Aristokratie', mitten unter sie, imponierend durch sein Äußeres, gewinnend durch seine Versprechungen, sowohl auf die Whigs losschlagend, weil sie nicht genug reformiert hatten, als auch auf die Torys, weil sie sich gegen jede Reform gesträubt hatten, und nur die Demokratie erhebend bis in den Himmel.

Seine Beredsamkeit, seine Energie und seine pekuniären Mittel waren so bedeutend, daß bald die Kunde seines Erscheinens durch das ganze Land drang und namentlich in den Fabrikdistrikten schnell ein Haufe Bewundrer seinen Schritten folgte, die sich gern von ihm wiederholen ließen, daß er ihr devouiertester, determiniertester und unbestechlichster Freund und Anwsei.

Dieser Erfolg machte ihn so üppig, daß er schon gleich von vornherein alle übrigen Leiter der Volkspartei zu verdächtigen suchte und überhaupt jeden angriff, der nicht ganz seiner Meinung war.

Die Versicherung, daß sich die ganze Presse gegen ihn verschworen habe und nichts von seinen Reden erwähnen wolle, weil sie nur zu gut die Wichtigkeit derselben spüre, setzte mehrere Skribenten in Bewegung; andere bestach er durch Geld; man fing an, sich für ihn zu interessieren, sein Anhang wuchs zusehends, und es dauerte gar nicht lange, da stand der große Demagoge schon in seiner vollen Glorie da."

Soweit Jackson.

O'Connor hatte erreicht, was er wollte; seine Gesthatte hinfort ein paarmal hunderttausend Menschen zum Hintergrunde; bei jedem Meeting konnte er auf einige hundert gute Fäuste rechnen, die ihm auf jeden Wink durch den rasendsten Applaus antworteten. Die Sache war im Gange, sie brauchte nur poussiert zu werden.

Hierzu war vor allen Dingen ein großer Schlachtruf nötig, irgendein Wort, ein Schrei, wie man ihn gern zur Losung der Partei macht. O'Connor erfand das Richtige, indem er das "Hurra für die Volks-Charte" anstimmte.

Die Volks-Charte, von einigen Radical Reformers entworfen, enthielt fast dieselben Punkte, für welche man schon bis zur Reform Bill agitiert hatte. Jährliche Parlamente, allgemeine Wahl, Votieren durch Ballotage, gleiche Repräsentation, keine Eigentumsqualifikation und Bezahlung der Parlamentsmitglieder. Das sind die sechs Punkte, welche die Chartisten bis auf den heutigen Tag als Ziel ihrer politischen Bestrebungen verfolgen.

O'Connor machte sich verbindlich, für dieselben in die Schranken zu treten, und da sich die Masse des Volkes immer dichter um ihn scharte, so verschwand allmählich die Benennung "Radical Reformers", und die revolutionäre Partei nahm von der Charte den Namen "Chartisten" an, indem sie O'Connor als Chartist Leader auf den Schild erhob.

Wie wir sahen, hatte die Agitation gegen den Zeitungsstempel, gegen das Fabriksystem und gegen das Armengesetz sowie die allgemeine Unzufriedenheit mit den geringfügigen Folgen der Reform Bill dem neuen Koryphäus ein hübsches Feld der Eroberungen zurechtgemacht. Es kam jetzt darauf an, daß er sich mit seinem jungen Ruhme praktisch darauf herumtummelte. O'Connor tat dies dadurch, daß er einen Aufruf an die Bewohner sämtlicher Grafschaften erließ, in welchem er sie ersuchte, Abgeordnete zu einer Volksversammlung nach London zu senden, damit man sich darüber berate, wie nach den Erfordernissen der Zeit zu Werke zu gehen sei.

Der von O'Connor gewählte Augenblick war der günstigste. Die Handelskrise von 1836-39 war gerade in ihrer Blüte. In den Fabrikdistrikten herrschte das schrecklichste Elend, und gern befreundete man sich daher mit der Idee jenes Konventes, der wenigstens die Lage der Arbeiter in energischer Weise zur Sprache bringen würde. An demselben Tage, an dem sich die junge Königin Victoria nach hergebrachter Sitte in großer Prozession zur Eröffnung des Parlamentes verfügte, hielt der Konvent seine erste Sitzung im "Britischen Kaffeehause" in London. Es war am 4. Februar 1839. Die Zahl der Abgeordneten war zweiundfünfzig.

Die erste Woche verstrich mit Vorarbeiten. Man beschloß dann, eine Petition an die Königin abzuschicken, in der man die Einführung der Volks-Charte beantragte. Ferner sandte man Mitglieder des Konvents durch ganz England, um das Volk überall mit den Prinzipien der Charte bekannt zu machen, Beiträge für die Nationalrente und Unterschriften für die Petition zu sammeln. Als sich bald darauf die Nachricht verbreitete, daß das Gouvernement beabsichtige, den Konvent mit Gewauseinanderzutreiben, erklärte man, daß sich in diesem Falle alle Abgeordneten in ihre Grafschaften zurückverfügen würden, um den Zorn und die Indignation des Volkes das vollenden zu lassen, was man in diesem Augenblicke auf friedlichem Wege durchzusetzen suche.

Die weitern Verhandlungen, welche wir übergehen, nahmen bald die Aufmerksamkeit der ganzen Arbeiterwelt in Anspruch. Es zeichnet sich unter ihnen namentlich die Debatte über das Recht der Volksbewaffnung aus, welche deutlich zeigt, wie große Einsicht das Volk in die Mittel zu seinem Zwecke hatte.

Ebenso prächtig beleuchtete man schon damals das Treiben der Freetraders, die sich gern der Volksbewegung bemächtigt hätten, um ihre eignen Absichten durchzusetzen. Schnell war man hierüber im reinen, da jeder Arbeiter einsah, daß trotz des größern Handels, der bei freiem Verkehr entstehen würde, dennoch bald aller Vorteil durch Herabsetzung der Arbeitslöhne aufgehoben sein werde.

Fünfzehn Mitglieder des Konvents gingen indes in die verschiedenen Grafschaften ab, um zu agitieren. Sie wurden überall mit lautem Jubel empfangen; Meetings von 10 000 bis 20 000 Menschen waren bald an der Tagesordnung. Auch Frauen und Mädchen hielten überall aufrührerische Zusammenkünfte und beschlossen, ihre Ehemänner und Geliebten im Kampfe für die Charte ehrlich zu unterstützen, sie noch mehr aufzureizen, damit die "schuftigen Whigs und namentlich die kleine Schlange Lord John Russell" bald zur Hölle fahren möchten.

Der eifrigste unter den Abgeordneten des Konvents war Feargus O'Connor, indem er kein Dorf und keinen Flecken auf seinem politischen Streifzuge unberührt ließ. Sein "Northern Star" wurde schnell eins der gelesensten Blätter Englands, und nicht selten geschah es, daß man in den Hauptfabrikstädten einen ganzen Ballen davon auf einem Karren durch die Straßen führte, um allen Nachfragen sofort zu genügen.

Unter den Volksversammlungen, welche die Agitation der Abgeordneten hervorrief, ist ein Meeting auf Kersal Moor bei Manchester vor allen andern merkwürdig. Es geschah am 1. Juni 1839, und man versicherte damals, daß nicht weniger als 300.000 Menschen dabei zugegen gewesen seien. Die Beschlüsse dieser Versammlung waren, daß sich erstens jeder Arbeiter bewaffne, daß zweitens alle ihr Geld aus den Sparkassen zurückfordern sollten, um eine Finanzkrise herbeizuführen, und daß man drittens "einen heiligen Monat" feire, d. h. einen ganzen Monat lang in ganz England, Schottland und Wales nicht arbeite, um dadurch dem Handel und der Industrie den gefährlichsten Schlag zu versetzen. Durch solche Mittel wollte man die politische Reform erzwingen, und half das alles noch nicht, so wollte man eben von den Waffen Gebrauch machen.

Nachdem diese Beschlüsse gefaßt worden waren, kehrten die Abgeordneten des Konvents aus den Grafschaften nach London zurück, um die Überreichung der Petition vorzubereiten. Die Zahl der Konventsmitglieder war indes bis zu 200 angewachsen. An dem dazu bestimmten Tage versammelten sich alle in ihrem Saale und verfügten sich dann zu Herrn Attwood, M.P. für Birmingham, der die Petition beim Hause der Commons einreichen sollte. Nach dem Bericht der "Times" hatte diese Petition eine Länge von 3 Meilen weniger 250 Yards. Sie wog beinahe 6 Zentner und trug 1250000 Unterschriften. An beiden Seiten war sie mit Zinn beschlagen und war befestigt an einer Rolle von großer Dimension. Sie lag auf einem Karren, an dessen vorderer Seite ein Schild angebracht war mit den Worten "National-Petition". Zu beiden Seiten der Karre waren Flaggen und Banner befestigt.

Am 20. Juni wurde dieses wunderliche Aktenstück, die Petition von einer Million zweimal hundertfünfundzwanzigtausend Engländern, die Petition des gedrücktesten und zertretensten Teiles der englischen Bevölkerung in das Haus der Commons hineingefahren und - mit schallendem Gelächter empfangen.

Es wäre jetzt der Augenblick gewesen, um von den Waffen Gebrauch zu machen und überhaupt die Pläne auszuführen, welche man auf dem Meeting zu Kersal Moor gefaßt hatte. Es zeigte sich aber bald, daß unter den Arbeitern trotz ihrer großen Aufregung nicht das Einverständnis herrschte, welches zu einem Aufstande nötig war. Zur Zurückziehung des Geldes aus den Banken kam es gar nicht; zur Feier des "heiligen Monats" ebenso nicht, da man nur für drei Tage im ganzen Lande die Arbeit einstellte, und mit der Bewaffnung sah es noch schlechter aus. Eine vereinzelte und sehr unglückliche Revolte war daher das nächste Resultat der Bewegung.

Gleich nachdem man die National-Petition im Hause der Commons überreicht hatte, verlegte nämlich der Konvent seine Sitzungen von London nach Birmingham. In London wurde es unsicher; in Birmingham, wo die größere Anzahl Arbeiter mehr Schutz versprach, schien es ratsamer, in Zukunft zu verweilen. Infolge einiger Reden fielen aber dort Emeuten vor, die mit Brandstiftungen endeten. Da sah sich das Gouvernement veranlaßt, mit Geweinzuschreiten. Die besten Redner, die tüchtigsten Mitglieder des Konvents wurden verhaftet. Die Zurückgebliebenen gaben aber doch die Hoffnung nicht auf, noch einen Aufstand zuwege zu bringen. Frost, früher Magistratsperson in Newport, sollte in Wales beginnen. Man würde dann die meisten Truppen dorthin senden. Frost sollte sich gegen diese in den Bergen von Wales halten; währenddessen wollten die übrigen in Yorkshire losbrechen und sich aller größern Städte bemächtigen. Auf diese Weise wäre der Anschlag vielleicht noch gelungen. Da wurde Frost von seinen Leuten gezwungen, früher, als man verabredet hatte, ins Feld zu rücken. Die Kugeln des Militärs sprengten die Chartisten auseinander. Frost wurde gefangen, und da man in Yorkshire mit der Bewaffnung noch nicht weit genug vorgeschritten war, so mußten die übrigen Mitglieder des Konvents teils nach Amerika und Frankreich flüchten, teils vor der Polizei das Gewehr strecken. Viele Arbeiter teilten das Schicksal ihrer Abgeordneten.

Wiederum war also, nach unsäglichen Anstrengungen, der Versuch einer politischen Umwälzung für die englischen Arbeiter mißlungen. Das Ungewohnte des Waffenführens, die eingewurzelte Liebe des Engländers zu einem gesetzlich begründeten Kampfe und vielleicht auch in etwa der Schreck vor einem Bürgerkriege, alles dies hatte jene große Masse des Volkes wieder im Momente des Losschlagens gelähmt und eine totale Niederlage für sie herbeigeführt.

Man hat das deutsche Volk mit einem Elefanten verglichen, der lange mit sich spaßen lasse, ehe er wild werde - von den englischen Arbeitern läßt sich dies noch viel eher sagen!

Die Periode, welche zwischen dem verunglückten Aufstande von 1839 und der Insurrektion von 1842 liegt, ist durch nichts merkwürdig als durch den Einfluß, welchen inzwischen der O'Connorsche "Northern Star" auf die Arbeiterwelt ausübte. Besiegt und auseinandergejagt, fand die Chartistenpartei in diesem Blatte das einzige Organ, welches sich ihrer Prinzipien annahm und namentlich die Berichte über die mit der Entwicklung der Industrie immer zahlreicher werdenden Einzelkämpfe der Arbeiter und ihrer Herren in voller Ausdehnung vor die Augen des Volkes brachte.

Wie wir früher bereits bemerkten, besteht außer der allgemein-politisch sich bewegenden Masse der Chartisten noch jene Vereinigung der verschiedenen Gewerbe in England, die unter dem Namen der Trade Unions bekannt ist. Diese große Union, welche durch Gesellschaften in fast allen Orten Englands vertreten ist, setzte während und nach der politischen eben erzählten Agitation ihre alten Kämpfe mit den Fabrikherren und Meistern des Landes ruhig fort. Das Signal zu einem solchen Kampfe ist gewöhnlich das Herabdrücken der Löhne von seiten der Arbeitgebenden.

Die Wollkämmer eines Ortes erhalten z. B. von ihren Herren heute die Anzeige, daß diese von dem und dem Tage an nur soundso viel Lohn für das Kämmen eines Pfundes Wolle bezahlen werden, indem sie als Grund der Verkürzung die Not der Zeiten, den schlechten Geschäftsgang, andre Ursachen oder oft auch gar nichts angeben.

Die Arbeiter nehmen diese Erklärung ruhig entgegen, versammeln sich aber sofort und überlegen, wie man dieser Maßregel widerstehen könne. Nach beendigten Debatten wird dann in den meisten Fällen eine Deputation aus ihrer Mitte gewählt, um sich sofort mit den Meistern oder Fabrikherren in Verbindung zu setzen, ihnen das Grausame ihres Verfahrens usw. auseinanderzusetzen und sie zur Zurücknahme der Erklärung zu bewegen. Diese Deputation hat sich ihrer Mission sofort zu entledigen. Gelingt es ihr, durch Unterredung oder durch Drohungen die Sache wieder ins gleiche zu bringen, so bleibt die Sache natürlich beim alten; weigern sich dagegen die Herren, den Vorstellungen der Arbeiter Gehör zu geben, so kehrt die Deputation nach dreimal wiederholten Demonstrationen zu der Versammlung zurück, und einer schlägt dann vor, ob man nun nicht, da alles freundschaftliche Unterhandeln nutzlos sei, zu energischen Mitteln übergehen und einen "Strike" organisieren solle. Dieser Strike besteht darin, daß die Arbeiter sich verbindlich machen, sofort die Hände in den Schoß zu legen und zu feiern, damit der Arbeitgebende, in seinem Geschäfte aufgehalten, zur Rückkehr zu den bisherigen Arbeitsbedingungen gezwungen werde.

Ist dieser Vorschlag gemacht und von der Majorität angenommen, so geht man von Stund an zur Ausübung des Vorgebrachten über. Arbeitet man in den eigenen Wohnungen für die widerspenstigen Herren, so legt man einfach die Arbeit nieder. War man in dem Etablissement des Herrn beschäftigt, so hält man in aller Feier, manchmal Fahnen und Musik voran, seinen "Turn-out", seinen Auszug aus dem Hause des Herrn. Feindlich stehen sich nun beide Parteien gegenüber. Das Bestreben des Arbeitgebenden ist es, sich neue Arbeiter zu verschaffen; das Bestreben der Arbeiter ist, dies zu verhindern, und nicht selten geht man zu Drohungen und tätlichen Angriffen auf diejenigen über, welche es wagen, den Platz ihrer Kameraden einzunehmen.

Ein "Knobstick", wie man die dem Arbeiterinteresse Abtrünnigen nennt, ist in den Augen seiner Kameraden das verächtlichste und elendigste Wesen.

Wochen- und monatelang sucht der eine des andern Willen so zu brechen, und kaum glaublich ist es, welchen Aufopfrungen sich der Arbeiter bei solchen Fehden unterwirft. Die Gelder der Sparkasse werden zuerst zurückgezogen; ihnen folgt der Verkauf der am wenigsten nötigen Haushaltungsgegenstände und Kleidungsstücke. Je länger die Zeit des Kampfes dauert, desto mehr schränkt sich der unerschrockene Arbeiter ein, immer hoffend, daß er endlich seinen Herrn durch diesen passiven Widerstand zum Nachgeben bringen werde. Eine Zeit des Hungerns und Darbens beginnt - er achtet's nicht. Er verkauft den Rock vom Leibe, er bringt sein Bett aufs Pfandhaus - er ist entschlossen, seinen Willen durchzusetzen ! Noch immer bleiben seine Anstrengungen fruchtlos. Da hält man eine neue Versammlung; man sendet eine abermalige Deputation an den hartherzigen Herrn und wendet ich zugleich an andre Unionen, indem man nach Aufopfrung aller eignen Güter ihre Hilfe in Anspruch ninmt.

Ist der vorhegende Fall so bedeutend, daß man ein allgemeines Interesse daran zu nehmen für gut hält so erfolgt natürlich die erbetene Unterstützung, und der Herr muß sich dann nicht selten dem Willen seiner Arbeiter fügen. Im andern Falle bricht dann aber endlich der mutige Paria unter der Wucht seines Schicksales zusammen. Weiber und Kinder hungerten schon seid Wochen; der Herd der Hütte erlosch, das Bett ist verschwunden; gebeugt und ermattet bis zum Tod, schleicht er endlich mit seinen Kameraden vor die Türe des Herrn - es ist aus, und man erklärt sich für besiegt.

Dies ist die Art und Weise des Kampfes, den Arbeiter und Herrn seit den letzten fünfzig Jahren mit einer Ausdauer und Erbitterung geführt haben, die kaum ihesgleichen kennen. Jahraus, jahrein, selbst in den Zeiten der höchsten Prosperität, fallen diese Streitigkeiten an einem oder andern Orte Englands vor. Welche Energie, welche Ausdauer und welcher Mut wird in ihnen verschwendet!

In frühern Jahren nahm die engliche Presse kaum von solchen stets sich wiederholenden Vorfällen Notiz. Dem "Northern Star" und seinem unermüdlichen O'Connor gehört das Verdienst sie durch seine treuen Schilderungen der Nachwelt aufbewahrt zu haben.

In den Jahren, welche zwischen der Insurrektion von 1839 und 1842 verstrichen, füllte er mit der Darstellung dieser Einzelfehden nicht selten die Hälfte seines Blattes und brachte dadurch jenes große Resultat zuwege, daß sich das englische Volk gerade in seiner schönsten und herrlichsten Eigenschaft, in seinem Mut und in seiner Ausdauer gegenseitig kennenlernte.

Die Frucht dieses Bekannterdens wird sich in der Zukunft zeigen.

Dem Aufstand von 1839, den die Arbeiterwelt auf ihre eigene Faust unternahm, folgte im Jahre 1842 wieder ein Feldzug, in dem wir die Leiter der Mittelklasse mit den Chartisten Hand in Hand gehen sehen.

Gerade wie man sich im Jahre 1829 zur Durchsetzung der katholichen Emanzipations-Bill und im Jahre 1831 für die Reform Bill vereinigt hatte, so schloß man jetzt aufs neue eine Allianz in der Bewegung der Abschaffung der Korngesetze. Ein wunderlicher Anblick; dieselben Menschen, die sich fortwährend durch ihre Privatstreitigkeiten in die Haare geraten, sie werden plötzlich wieder sozusagen gute Freunde, wenn es einer politischen Maßregel gilt, welche für beide Seiten von Interesse ist!

Das Band, welches die Säbel der Manchester Yeomanry so infam zerhauen, es knüpft sich von neuem, wenn es gilt, der Aristokratie des Landes einen Stoß zu versetzen, der vereint besser als einzeln auszuführen ist. Schnell, ehe man sich's verieht, ist diese Vereinigung fertig, um natürlich nur so lange zu dauern, als bis der Zweck des Unternehmens erfült ist.

Bei einem Diner, wie wir kurz erzählen müssen, welches man am 1. September 1838 dem Dr.Bowring gab, wurde von einem Fabrikanten in Manchester beschlossen, eine League zu bilden, welche die Agitation gegen die zugunsten der Landaristokratie passierten Korngesetze zu ihrem Gegenstande hatte. Dieser Verein nannte sich die Nadonal Anti-Corn-Law-League.

Die wirklichen Folgen einer Abschaffung der Korngesetze waren, man kann es wohl sagen, den drei großen Klassen der englischen Gesellschaft, der Aristokratie, der Mittelklasse und der Arbeiterklasse, von vornherein ziemlich klar. Die alte grund-besitzende Aristokratie stemmte sich nicht nur gegen eine solche Maßregelung weil ein pekuniärer Verlust für sie dadurch entstehen, sondern namentlich, weil der Sieg der diese Sache unternehmenden Mittelklasse auch ihrem, dem politischen Einflusse der Aristokratie einen Stoß versetzen mußte.

Aus diesem sowie aus kommerziellen Gründen war natürlich die ganze Mittelklasse für die Maßregel, und die Arbeiter schlossen sich der Agitation ebenfalls an, weil es ja nur in ihrem Interesse war, daß Aristokratie und Mittelklasse sich untereinander aufrieben. Von zwei gefährlichen Feinden blieb dann schließlich nur einer übrig.

Die Anti-Corn-Law-League hatte damit angefangen, ein Journal zu gründen und drei Lecturers (Agitatoren) zu mieten, welche ihre Lehren unter dem Volke verbreiten sollten. Broschüren, fliegende Blätter und ähnliche Sachen wurden außerdem so zahlreich im Lande verteilt, daß die League sich schon im Jahre 1840 rühmen konnte, 150 000 Exemplare solcher Pamphlets gegen die Korngesetze verbreitet zu haben; etwa 160 000 Exemplare wurden von ihrer Zeitung abgesetzt. Außerdem hatte man 400 Vorträge gehalten und daher wohl 800 000 Menschen für die Sache bearbeitet. Die Ausgaben für alles dies betrugen damals kaum 5000 Pfund Sterling.

Weit mehr als die Reden der gemieteten Lecturers halfen indes die Vorträge der eigentlichen Mitglieder der League, unter denen sich bald Richard Cobden, ein Fabrikant aus Manchester, John Bright, Wilson und andere als die Hauptleute hervortaten.

Ein Bäcker in Carlisle zeigte seine edlen und unermüdlichen Anstrengungen für die gute Sache dadurch, daß er eine Anzahl Brote backte, von denen der eine Teil "taxed" und der andere "untaxed" war. Beide Sorten Brot verkaufte er zu 6 Pence; das untaxierte Brot hatte aber wenigstens den Wert von 2 1/2 Pence mehr an Brot als das taxierte.

Diese handgreifliche Demonstration machte um so mehr Effekt, da sie gerade an einem Tage geschah, wo man eine Petition für die Abschaffung der Korntaxe zur Unterschrift umhertrug. Die Anhänger der League, die Freunde des freien Handels, welche man Freetraders nannte, trugen auch wohl solche taxierten und untaxierten Brote auf Stöcken durch die Straßen der Städte - ein Manöver, das viele Leute zum Unterschreiben der Petitionen herbeilockte.

Namentlich interessierten sich die Weiber für die größern Brote und versprachen stets, ihre Männer zum Unterzeichnen herbeizubringen.

Auch von den Kanzeln herunter wußte die League Propaganda zu machen, indem sie den größten Teil der Dissenterprediger für die Kornagitation gewann.

Je größer die begonnene Bewegung wurde, desto größer wurden natürlich auch die damit zusammenhängenden Kosten. Aber auch dafür wußte die League zu sorgen, indem sie einen National Anti-Corn-Law-Bazar errichtete, eine Sammlung aller möglichen zum Geschenk gemachten Gegenstände, welche dann zum Besten der Sache verkauft wurden. Dies Experiment brachte nicht weniger als 10000 Pfund Sterling auf, welche mit den durch Geldbeiträge gebildeten Fonds von 80 000 Pfund allein vom Herbst 1841 bis zur selben Zeit 1842 für die Agitation ausgegeben wurden.

Alle diese Anstrengungen würden aber dennoch wenig geholfen haben, wenn es den Freetraders nicht gelungen wäre, auch die Masse des Volkes in Bewegung zu bringen. Durch die heuchlerischsten Schmeicheleien hatten sie dies gleich von vornherein versucht, indem sie den Arbeitern vordemonstrierten, daß die freie Einfuhr des Kornes den Brotpreis erniedrigen, also ganz zu ihrem Vorteil sein würde. "High wages, low prices and plenty to do!" (Hohe Löhne, niedrige Preise und viel zu tun!) Das war das Motto aller an das Volk gerichteten Demonstrationen. Wie wir bereits erwähnten, wußten die meisten Arbeiter und namentlich die Chartisten aber sehr gut, wie es mit diesen schönen Versprechungen aussah, und nur aus politischen Gründen war es, daß sie sich den Freihandelsmännern anschlossen.

Am 15.Februar 1842 geschah diese Einigung in aller Form, indem die Leiter der Chartistenpartei und die Koryphäen der League bei einem Meeting in Manchester zusammentrafen, um den Plan zu entwerfen, nach welchem man die Agitation in Zukunft gemeinschaftlich betreiben wollte. Dieser Plan und die zugleich gefaßten Beschlüsse enthielten die Hauptpunkte der Bewegung beider Parteien, nämlich allgemeine Parlamentswahl für die Chartisten und totale Abschaffung der Korngesetze für die Freetraders. Ähnliche Meetings der Chartisten und der League erfolgten in Bolton, Stockport usw.

Drohend stand nun die Mittelklasse mit der Arbeiterwelt vereinigt dem torystischen, von Sir Robert Peel vertretenen Gouvernement gegenüber. Von den Mitteln, durch welche man dasselbe zum Bewilligen aller Forderungen zwingen wollte, war das erste der Beschluß, daß sich jeder verpflichtete, nie eine Note der Bank von England vierundzwanzig Stunden im Hause zu behalten, sondern sie gleich gegen Gold umzuwechseln, was natürlich, wenn es streng in Ausführung gebracht wurde, sofort den entsetzlichsten Wirrwarr für die Finanzverwaltung herbeiführen mußte. Die zweite, übrigens mehr von den Mitgliedern der League adoptierte Maßregel bestand darin, daß man bei dem angeblich aus dem Bestehen der Korngesetze hervorgegangenen schlechten Geschäftsgang alle unbeschäftigten Arbeiter aus den Fabrikdistrikten in die Agrikulturgegenden jagen wollte, um sie den Grundbesitzern zur Last fallen zu lassen, so daß diese durch die Unterhaltungskosten der Fremdlinge bald ihren ganzen Profit an der protegierten Produktion ihrer Ländereien ausgeglichen sehen und nicht länger an dem Bestehen der Kornzölle halten würden.

Sowohl das Einwechseln der Banknoten als das Verabschieden der Arbeiter würde seinen erwarteten Effekt gemacht haben. Gerade wie die Chartisten aber im Jahre 1839 mit dem Feiern eines "heiligen Monats" und mit dem Zurückziehen des Geldes aus den Stadtkassen nicht reüssiert hatten, ebenso fielen auch jetzt die Freetraders mit ihren zwei Hauptmaßregeln durch. Denn außer daß die Chartisten sahen, daß es trotz der scheinbaren Allianz den Mitgliedern der League nur darum zu tun war, die Resolutionen in betreff der Charte bei jedem Meeting zu eskamotieren und nur die Interessen der League durchzusetzen, so schien es ihnen doch auch ein wenig zuviel Aufopferung, plötzlich ihre Wohnungen zu verlassen, um ohne die geringste Garantie eines günstigen Erfolges so ohne weiteres in die Agrikulturdistrikte hineinzustürzen. Je mehr daher die League auf Ausführung des Beschlossenen drang, desto kühler und vorsichtiger wurden die Chartisten. Doch noch ein anderer fataler Umstand stellte sich für die Freetraders ein. Das Geschäft besserte sich nämlich plötzlich ganz zur unrechten Zeit, so daß der League nicht nur das Hauptargument gegen die Korngesetze aus der Hand gewunden wurde, sondern daß auch Massen von Arbeitern, die sich nur aus Mangel an Beschäftigung bisher in die politische Bewegung hineinbegeben hatten, plötzlich aus den Meetings verschwanden, um bei ähnlich gesinnten Fabrikanten ruhig ihre Arbeit fortzusetzen.

Dies war rein zum Verzweifeln. Die League stand ratlos da, aufgehalten in ihrem besten Laufe.

Da beschlossen drei Mitglieder der League, die Herren Reyner Brothers in Ashton, Georg Cheetham & Sons und William Bayley & Brothers in Stalybridge, das durch Gewzuwege zu bringen, was sich gutwillig nicht machen wollte. Sie setzten nämlich die Löhne ihrer Arbeiter so sehr herunter, daß sie dieselben zu einem Strike und zu einem allgemeinen Turn-out zwangen.

Man mußte unbeschäftigte Arbeiter auf den Straßen haben, um das Gouvernement zu erschrecken, - jene drei großen Fabrikanten opferten sich auf, indem sie den Anfang machten, hoffend, daß andere ihrem Beispiele folgen würden. Ebenso kühn, wie das Manöver war, ebenso gut wurde es aber auch in seinem Beweggrund von der Arbeiterpartei begriffen.

Es war jetzt allen klar, daß die League nur damit umging, die Arbeiter aufs neue zu ihren Zwecken zu benutzen, ohne sich weiter daran zu kehren, ob auch die Interessen der Chartisten in der Bewegung berücksichtigt wurden.

Die spöttischen Worte des Herrn Bayley: "You had, perhaps, better go and play for a few days", mit denen er seine Arbeiter davonjagte und welche hinfort das Stichwort der Bewegung wurden, reizten den Zorn der Verabschiedeten noch mehr, und man beschloß sofort, den durch das Stillsetzen jener drei Fabriken hervorgerufenen Tumult nicht zum Besten der League, sondern zu einem allgemeinen, dem Interesse des Volkes geltenden Aufstand zu benutzen.

Nachdem die Arbeiter die Bayleysche Fabrik verlassen hatten zogen sie daher in Prozession nach Mottram Moor, wo man eine Rednertribüne errichtete und die von allen Seiten herbeieilenden Leute, so gut es ging, über den Zweck der Bewegung aufklärte. Man war bald einig und fiel nun sofort über sämtliche Fabriken von Stalybridge her, indem man alle Arbeiter zwang, ihre Beschäftigung einzustellen und sich dem Zuge anzuschließen, der sich nach Manchester in Bewegung setzen sollte, um dort eine Abrechnung mit der Mittelklasse und eine politische Umwälzung herbeizuführen. Auf dem Banner, welches der Masse voranwehte, las man die Worte: "They that perish by the sword are better than they that perish by hunger." (Die, welche durchs Schwert sterben, sind besser dran als die, welche verhungern.)

Je weiter man zog und je mehr Fabriken man berührte, desto größer wurde der Zug. Überall, in allen kleinern Industrieorten, wurden die Arbeiter gezwungen, dem Beispiele ihrer Kameraden zu folgen, und einer Lawine gleich wälzte sich die Masse auf Manchester zu. Hin und wieder versuchten es die Anhänger der League noch, den Sturm aufzuhalten, indem sie sich mitten unter die dichtesten Haufen begaben und die Nächststehenden im Sinne der Freetraders anredeten. Es war aber zu spät; den Geist, den man heraufbeschworen - man wußte ihn nicht zu bändigen, und ehe man sich's versah, rückten Tausende von Arbeitern in Manchester ein. Ein Trupp Kavallerie und eine Abteilung Fußvolk empfing sie in einer der ersten Straßen. Die Zahl der Heranrückenden war aber so groß, daß es tollkühn gewesen wäre, wenn man sie durch eine so geringe Anzahl Bewaffneter hätte aufhalten wollen, und der Magistrat ersuchte daher den kommandierenden Kolonel, seine Truppen zurückzuziehen, indem er sich selbst an die Spitze der Arbeiter stellte.

Dieses kluge Verfahren ist vielleicht schuld daran, daß Manchester noch heute so aussieht wie damals.

Die Arbeiter, welche nicht anders gemeint hatten, als daß es einen ehrlichen Kampf absetzen würde, ehe sie sich der Stadt bemächtigen könnten, waren sogar konsterniert, als sie sahen, daß man ihnen nicht das geringste Hindernis in den Weg legte. Ohne ihre Stöcke, Äxte und Piken zu gebrauchen, ja, ohne nur einmal ihrem Zorn durch einen Ruf, durch einen Schrei Luft gemacht zu haben, war die zweitgrößte Stadt des Königreichs in ihre Hände gelangt.

War es ein Wunder, daß sie erstaunt in ihrem Marsche innehielten? Zum Glück für die Bewohner von Manchester geschah dies. Die Einigkeit, welche für einen Kampf dagewesen war, hörte auf, sobald alle Aussicht zu demselben verschwand; der Enthusiasmus, die Wut der Einrückenden legte sich mit dem Verschwinden jedes Widerstandes, und während die einen darüber deliberierten, wie man von seinem Siege Gebrauch machen sollte, und die andern auch die Arbeiter der Fabriken innerhalb Manchesters zur Arbeitseinstellung veranlaßten, fiel der größere Haufe in toller Freude über die Bäcker- und Fleischerläden her, so daß bald von der frühern kompakten Masse nichts mehr zu sehen war und nur vereinzelte Haufen die Stadt durchzogen. Diesen Umstand benutzten natürlich die Bewohner der Stadt, indem sie von allen Seiten Truppen durch die Eisenbahnen herbeischaffen und schnell alle Hauptpunkte Manchesters von Bewaffneten und Konstablern besetzen ließen.

Den Aufstand, den man im Interesse der League hervorgebracht hatte, suchte man zu unterdrücken, da er nicht nach dem Willen der Freetraders ausfiel.

Vergebens strengten sich indes die Leiter der Chartisten an, ihre Partei zusammenzuhalten, damit man zu einigen praktischen und wirksamen Maßregeln übergehen könne - es war zu spät. Die Führer der Mittelklasse hatten sich von ihrem Schreck erholt, ehe sie damit zustande kamen; vierundzwanzig Stunden der kostbarsten Zeit, in denen man die Charte mit allen ihren sechs Punkten und wer weiß was sonst noch hätte durchsetzen können - sie waren nutzlos verstrichen, und wie man im Jahre 1819 den Säbeln der Yeomanry und im Jahre 1839 den Kugeln des Militärs hatte weichen müssen, so mußte man sich jetzt vor den Konstablern Manchesters zerstreuen und den kaum errungenen Sieg wieder fahrenlassen.

So endete das dritte gewaltsame Zusammenstoßen der englischen Bourgeoisie mit der Arbeiterwelt. In den sechs Jahren, welche seitdem verflossen sind, hat die Partei der Chartisten eine sehr ruhige Entwicklung genommen; die unerhörte Prosperität, deren sich England unter Peel vom Jahre 1842 bis 1845 zu erfreuen hatte, war nicht geeignet, den politischen Geist des Volkes in Bewegung zu setzen.

Der unermüdliche O'Connor, indem er zwar keine Gelegenheit vorbeigehen ließ, um den Arbeitern die Charte ins Gedächtnis zurückzurufen, unternahm daher nebenbei noch eine andere Agitation, welche die unmittelbare Besserung der sozialen Lage eines Teiles der Arbeiter zum Zweck hat. Es war dies der Vorschlag seines "Landplans", den wir indes nur flüchtig berühren wollen, da er uns zwar wie alle ähnlichen philanthropischen Experimente von Nutzen, aber nicht von allgemeiner Wichtigkeit erscheint.

Der Hauptpunkt des O'Connorschen Landplanes besteht darin, daß jeder Arbeiter durch das Einzahlen eines sehr geringfügigen Betrages Aktionär einer Compagnie wird, welche sich damit beschäftigt, von dem zusammengeschossenen Gelde Ländereien im großen anzukaufen und sie in Parzellen an die Aktionäre zum Gebrauch (nicht zum Besitz) zu verlosen. Jeder, dem eine Parzelle zur Bebauung zufällt, erhält ein Haus darauf, Gerätschaften und eine Summe Geldes, um damit seine Arbeiten beginnen zu können. Die Vorteile des Landplanes, sowohl für die Arbeiter selbst als für die Partei der Chartisten, sind nicht zu leugnen. Fürs erste bleiben viele Arbeiter, welche bisher rein von den Chancen des Handels abhingen, durch ihre ackerbautreibende Lebensweise vor manchen Unfällen bewahrt. Zweitens fließen die ersparten Gelder der Arbeiterwelt nicht mehr in jene Kassen, aus welchen Bankiers und Spekulanten manchmal ihre Fonds schöpfen, um damit zum Nachteil derselben Leute zu operieren, welche ihnen die Mittel ihrer Manipulationen lieferten, sondern die Ersparnisse der Armen werden von diesen Armen selbst zu ihrem eigenen Nutzen verwandt.

Drittens glaubt namentlich O'Connor als Anhänger des "Kleinen Ackersystems", daß die sorgfältige, mit dem Spaten vor sich gehende Bearbeitung des Landes ein viel günstigeres Resultat als gemeinschaftliche, im großen vor sich gehende Besorgung des Ackerbaus liefere; und viertens, und dies ist einer der Haupt- punkte, hofft man durch die wenigstens für den Augenblick zu besitzenden Leuten gemachten Arbeiter nach und nach eine Menge Stimmen zu den Wahlen zu bekommen, so daß dann die Chartistenpartei mehr Gelegenheit bekäme, ihre hervorragendsten Leute ins Parlament zu schicken.

Dies sind so ziemlich die Hauptvorteile, welche sich O'Connor von seinem Landplan verspricht, und sie scheinen den Arbeitern so sehr einzuleuchten, daß schon seit mehreren Jahren jede Woche von 1500 bis zu 2000 Pfund Sterling aus allen Teilen des Landes durch die ersparten Pfennige der Arbeiter in die gemeinsame Landkasse nach London gingen, womit man bereits sehr bedeutende Ländereien ankaufte und die Pläne O'Connors in Ausführung bringen konnte.

Die Zukunft muß es lehren, inwieweit den Arbeitern ein allgemeiner Nutzen aus diesen wirtschaftlichen Bestrebungen hervorgehen wird. Jedenfalls erlangte O'Connor mit seinem Landplan in der Weise etwas sehr Bedeutendes, als er die Aufmerksamkeit der Arbeiter dadurch fesselte und seine Partei in Zeiten großer politischer Niedergeschlagenheit damit zusammenhielt.

Daß ihm dies gelang, zeigten die Ereignisse des Jahres 1845.

Die Anti-Corn-Law-League hatte sich nämlich von ihrer Schlappe im Jahre 1842 etwas erholt und doppelt gewaltige Anstrengungen gemacht, um ihre Agitation wieder in Schwung zu bringen.

Gemietete Redner lärmten auf allen Gassen und Märkten; ehrenwerte Mitglieder erstürmten die Tribünen aller Säle; die Manchester-Helden Cobden, Thompson, Wilson usw. durchzogen das Land und agitierten vom Palast hinab bis zur letzten Hütte, indem sie rechts und links mit Broschüren, Pamphlets, fliegenden Blättern, Zeitungen usw. um sich warfen, die in kurzen, manchmal sogar witzigen Artikeln die Quintessenz ihrer Weisheit enthielten.

Bezahlte Säufer tranken auf das Wohl des freien Handels; bezahlte Boxer boxten sich für die Abschaffung der Korngesetze; bezahlte Poeten machten die schlechtesten Verse gegen die Brottaxe, und bezahlte Krämer wickelten um jedes Pfund Butter eine Abhandlung über die Notwendigkeit des Freetrades. Preise wurden ausgesetzt für alle, welche nicht allein die ganze hohe ökonomische Wissenschaft, nein, auch die Religion, die Philosophie, kurz alles, was es auf der Welt gibt, am besten zugunsten der League verdrehen konnten. Selbst die zarten, süßen Frauen mischten sich in den Spektakel - die Damen von Manchester traten mehr als einmal für die Sache in die Schranken! Oh, es war eine schlimme Zeit! Wollte man im Theater den Othello oder den Hamlet sehen, so sah man den dicken Quäker Bright, wie er gerade die Bühne innehatte, um einen Korngesetzsermon loszulassen. Wollte man sich im Hause Gottes an den Lehren des Heilands erquicken, so fing ein schnarrender Dissenter plötzlich an, den Ricardo und den Adam Smith zu zitieren! "Abschaffung der Korngesetze!" - so war der Schrei des Tages, so war der Schrei der Nacht. Die Wut des Agitierens durchraste alle Sphären der Mittelklasse; eine an Wahnsinn grenzende Sucht der Propaganda bemächtigte sich des ersten wie des letzten britischen Bourgeois, und die enorme Summe von einer viertel Million Pfund Sterling, welche man in einem Jahre aus der Erde stampfte und für die Bewegung hinwarf, machte vielen die Lehren der League natürlich nur um so begreiflicher. Immer wollte die Sache aber noch nicht glücken - da kam der League plötzlich die schlechte Kartoffelernte von 1845 zu Hilfe, und ihr Sieg war entschieden. Zu einem System, was man nach dem Rat der Majorität der Mittelklasse gutwillig nicht hatte annehmen wollen, wurde man jetzt durch die Notwendigkeit der Umstände gezwungen. Lord John Russell schrieb seinen bekannten Brief an die Londoner Wähler und hätte fast nach dem augenblicklichen Sturz des Kabinett Peel ein Whig-Ministerium zusammengebracht, wenn nicht seine Bemühungen an der Hartnäckigkeit einiger Kollegen gescheitert wären. Sir Robert, nachdem er den alten Wellington auf seine Seite gebracht und als der einzig mögliche Premier die Führung der Geschäfte wieder übernommen hatte, bekam daher jetzt Zeit, dem Beispiele Russells zu folgen, indem er sich ebenfalls für eine Änderung der Korngesetze aussprach.

Die League hatte jetzt gewonnenes Spiel, und um den stärksten Widerstand zu besiegen, der sich allenfalls im Parlamente noch zeigen konnte, kam es nur noch darauf an, die letzten Feldzüge der Agitation zu tun und auch die seit dem Jahre 1842 untreu gewordenen Chartisten wieder für die Sache zu gewinnen.

Die Häupter der League unterzogen sich dieser Arbeit sofort mit einer Emsigkeit, welche alles bisher Geleistete hinter sich ließ. Es war wirklich komisch anzuschauen, mit welcher Liebenswürdigkeit die gleisnerischen Herren vor ihren zerlumpten Arbeitern erschienen. "Hohe Löhne, niedrige Preise und viel zu tun!" - das waren wieder die schönen Worte, welche sie mit gekrümmten Rücken von den Tribünen hinunterlispelten.

Aber auch die Aristokraten stürzten sich jetzt unter das Volk; denn im Augenblick der Gefahr wurde der Pöbel wieder nötig. Auf den unfashionablen, aus wenigen Brettern zusammengeschlagenen Tribünen der Chartisten, auf den engen, dumpfigen Sammelplätzen des Volkes erschienen jene stolzen alten Lords, um den gewaltigen Bau ihrer Institutionen vor dem Fall zu retten.

Ein seltsamer Anblick!

Die öffentliche Meinung, die Meinung des Volkes wurde im Augenblick der Gefahr als die entscheidende Richterin anerkannt, und das Volk richtete recht!

Von der Bourgeoisie zertreten und zerdrückt, hatte es Selbstbeherrschung und Verstand genug, sich dennoch für dieselbe zu erklären, damit der Aristokratie, damit einer Klasse ein Ende gemacht werde, welche wahrlich weniger als jede andere berufen ist, noch zu unsern Zeiten die Geschicke der Welt zu lenken.

Der Zufall wollte es, daß ich so glücklich war, bei dem letzten, eklatantesten Akte dieser politischen Gerechtigkeit des Volkes zugegen zu sein; nie werde ich diesen Augenblick vergessen.

Ein Stock-Tory, Busfield Ferrand, M. P. für einen Ort der West Riding von Yorkshire, versuchte es vor Toresschluß, nachdem schon alle andern Aristokraten jede Hoffnung aufgegeben hatten, zum letzten Male, die Arbeiterwelt für die Sache der Protektionisten zu gewinnen. In einem Saale, den ungefähr 5000 Menschen innehatten, erhob der unerschrockene Aristokrat seine metallene Stimme, zuerst ausführlich seine Argumente gegen den Umsturz der alten Gesetze des Landes geltend machend, dann an die glücklichen Zeiten erinnernd, welche England unter der ausschließlichen Herrschaft seiner Klasse erlebte, und hierauf zu dem neuesten Abschnitt der englischen Geschichte übergehend, die er bis in die kleinsten Details hinunter mit allen der Industrie und der Entwicklung der Mittelklasse entsprungenen Leiden zu schildern suchte.

Tiefe Stille lag über der ganzen Versammlung; da ging der Redner zu dem zweiten Teile seines Vortrags über, durch den er seine Zuhörer zur Rückkehr in den alten Zustand und zum Festhalten an das noch Bestehende bewegen wollte - und seine Stunde hatte geschlagen.

Die Schilderung der Wahrheit ließ man sich gefallen; aber der lockenden Stimme eines Aristokraten zu folgen - nimmermehr! Und ein Sturm des Unwillens erhob sich. Auch der letzte, der unwissendste Arbeiter war darüber klar, daß man nicht zurück, sondern vorwärts müsse.

Die Stimme eines einzigen entschlossenen Mannes, der seine Überzeugung, seine Existenz, den Ruhm seines ganzen Geschlechtes zu verteidigen entschlossen war, und der tausendstimmige Lärm einer tobenden Volksmenge erhoben jetzt das wunderlichste Duett, was ich je in meinem Leben gehört habe, ein Duett, welches bald dem Brausen eines Orkans, bald dem höhnischen Gelächter der Hölle und bald dem Jubel eines Haufens fröhlicher Kinder glich. Je mehr der Redner sich anstrengte, seine Worte bis zu den Ohren der Versammlung gelangen zu lassen, desto beleidigender suchte die Masse jede Silbe zu übertönen. Für ganze Minuten lang vernahm man auch nicht einen Laut des Sprechenden; nur an seinen wilden Gestikulationen sah man, daß er ununterbrochen in seiner Rede fortfuhr.

Stunden waren schon verstrichen, und immer noch hatten Tausende den einen nicht ermüden können; es war, als wenn sich alle Beredsamkeit der Welt in diesen einen, letzten Aristokraten geflüchtet hätte. Die Sonne war untergegangen, immer dunkler wurde es über der tobenden Menge, und eine entsetzliche Schwüle schien selbst die Zunge des Lebendigsten zu lähmen - nur dem unglücklichen Ferrand wollte die Stimme nicht versagen. Da machte man den Versuch, ihn mit Gewvon der Tribüne zu vertreiben; ein entsetzliches Drängen begann; dem Redner entschlüpften einige den Chartisten geltende ziemlich unhöfliche Worte - jetzt sollte und mußte er das Schlachtfeld räumen.

Die Freunde, welche Herrn Ferrand auf der Tribüne umgaben, hielten den ersten Sturm aus, während der Redner selbst unbekümmert auf die Plattform donnerte und in seinem Zornergusse fortfuhr. Da folgte die zweite Attacke und ein solcher Lärm aller Lungen, aller Hände und Füße, daß ich nicht anders meinte, als daß Boden und Wände sofort ineinanderbrechen müßten. Die Wut des Redners und der Unwille der Versammlung hatten ihren Gipfel erreicht, ich fürchtete das Schlimmste - da versagte dem Sprechenden glücklicherweise endlich die Kraft; triefend von Schweiß, bleich wie der Tod, gelähmt an allen Gliedern stürzte der Arme zusammen - es war aus; einige der Nächststehenden schoben ihn durch das Fenster hinaus ins Freie. Dies war das letzte Meeting, welches vor der Abschaffung der Korngesetze außerhalb des Parlamentes gegen die verhaßtesten aller englischen Institutionen gehalten wurde.

Die Protektionisten gaben sich verloren. Das Volk wollte den Untergang der Aristokratie, damit es hinfort einzig und allein mit der Mittelklasse zu tun habe.

Wahrhaft dramatisch war der Schluß dieser größesten aller modernen Agitationen. Den Chartisten wurde dadurch Gelegenheit gegeben, ihren politischen Takt zu zeigen und den Beweis zu liefern, daß die Bemühungen eines O'Connor nicht an ihnen verloren waren.

Der Moment der Abschaffung der Korngesetze geht schon so sehr in unsere Tage hinein, daß wir dieser flüchtigen Skizze wenig mehr hinzuzufügen haben. Erzählen wir indes noch zum Schluß das Resultat der letzten allgemeinen Parlamentswahl. Um so weniger dürfen wir dies vergessen, da wir die Chatisten bei diesem Erreignis sich in ihrer ganzen Reinheit erheben und mit einem glänzenden Siege ihre gewonnene Macht dokumentieren sahen.

Vorher muß ich indes sowohl aus persönlichen Gründen als auch, wenn ich so sagen darf, der historischen Gerechtigkeit wegen meine Leser noch auf einige Männer aufmerksam machen, welche seit einer Reihe von Jahren mit seltener Aufopferung und mit wahrhaft gigantischem Fleiß den wilden O'Connor in seiner Arbeit, der Emanzipation des englischen Volkes, unterstützt haben. Es sind dies die Mitglieder des Chartisten-Komitees und außer den Herren Clark und Doyle namenthch die unermüdlichen George Julian Harney, Ernest Jones und Philip McGrath.

Harney, die Seele des "Nonhern Star", Ernest Jones, der Demosthenes seiner Partei und McGrath, der den Arbeitern teuerste Agitator.

Ich halte es für meine Pflicht, diesen Männern vor allen andern den Zoll meines Dankes und meiner Bewunderung darzubringen, da sie, nicht geschmückt mit den Lorbeeren eines O'Connor, dennoch voll Uneigennützigkeit und ohne Eine Spur jenes falschen, Zerwürfnisse stiftenden Ehrgeizes einer Sache dienten, deren Wichtigkeit sich im Laufe der Zeit unaufhaltsam allen Völkern Europas aufdringen wird.

Harney, der glänzende Redner, der ausgezeichnete Schriftsteller, war es, der dem unter Leitung dreier Deutscher, Schapper, Bauer und Moll in London bestehenden deutschen Arbeiter-Klub zuerst als Engländer die Hand bot und dadurch unter britischen und deutschen Arbeitern jene feste Verbrüderung herbeiführte, die in der Gesellschaft der "Fraternal Democrats" ihr Zentrum gefunden.

Jones, der ehemalige Göttinger Student, war es, der an deutscher Beredsamkeit vielleicht seinesgleichen in unserm Vaterlande sucht und der als englischer Redner neben Fox, Burke oder Brougham einen würdigen Platz einnehmen wird. Jones war es, der als der Beherrscher der zwei gewaltigsten Sprachen der Jetztzeit die tiefe deutsche Wissenschaft und die Fülle britischer Tatkraft redend zu vermitteln wußte und jenen großen Versammlungen der verbrüderten Demokraten vielleicht den höchsten Reiz verlieh.

Mutig sehen wir alle diese Leute, ihren Führer O'Connor an der Spitze, in die Arena sprengen, als kaum vor einem Jahre, nach siebenjährigem Zwischenraume, sich alle Wähler Britanniens zu jenem großen Akte rüsteten, der dem Lande ein neues, volkstümlicheres Parlament geben sollte.

Auf dem Markte zu Tiverton war es, wo Harney als Antagonist Lord Palmerstons sich erhob. Wahrlich nicht der unbedeutendste Gegner!

Auf der einen Seite stand der einfache Chartist, dem Volke entsprossen und nur für das Volk wirkend. Auf der andern der berühmte Staatsmann, der gefeierte Aristokrat, der wahre Repräsentant der egoistischen, grausamen Politik Alt-Englands, vor der die Völker der halben Erde zittern.

Ein Kampf entspann sich zwischen diesen beiden Rednern, welcher vom Morgen bis in die Nacht dauerte, und wenn es dem Chartisten auch nicht gelang, die Mehrzahl der Wahlstimmen zu erhalten, so hatte er wenigstens die Genugtuung, den edlen Lord nach einer vierstündigen Verteidigung nur mit einer höchst geringen Majorität siegen zu sehen und dadurch die Gewißheit zu erlangen, daß der große Staatsmann einem wiederkehrenden Sturme nicht mehr widerstehen können wird.

Dasselbe Schauspiel entwickelte sich auf dem Markte zu Halifax zwischen dem Kanzler des Exchequer Sir Charles Wood und dem Demosthenes Ernest Jones. Wiederum kam die alte Politik nur mit einigen Stimmen in die Majorität, ein Sieg, der von einer Niederlage nicht viel verschieden war und einen solchen Schrecken durch das Land verbreitete, daß der alte Held O'Connor fast ohne Widerstand in Nottingham gewählt wurde und sich bald auf die erste Bank des Unterhauses setzen konnte.

Dieser letzte Umstand setzte dem Erfolge der Chartisten die Krone auf, und mit kaum verhaltener Wut beeilten sich sämtliche Organe der Aristokratie wie der Mittelklasse, jedes in seiner Weise, dieses Ereignis zu betrauern.

"Feargus", sagte die "Daily News" am 9. Dezember 1847, "der sich wieder in das Haus der Commons gedrängt hat:

Like a reappearing star,
Like a glory from afar,

sitzt nun auf der ersten Oppositionsbank. Rechts neben ihm Sir Robert Peel mit seinem zweideutigen Lächeln, links Sir James Graham mit seinem grimmigen Blick. An der einen Seite Lord George Bentinck mit seiner Anführermiene und an der andern Disraeli mit niedergeschlagenen Augen - da sitzt er, und er sieht aus wie der alte römische Gott Terminus, um zu zeigen, wo die eine Partei beginnt und wo die andere endet, oder wie ein Wächter, den man zwischen die Capulets und Montagues stellte, um den Frieden zu halten."

Oh, es war traurig für alle die hohen Aristokraten, den Führer der Demokratie in ihrer Mitte zu sehen; daß der Chartist Thomas Duncombe unter ihnen saß - nun, das machte nichts, man war leider daran gewöhnt! Aber O'Connor - Goddam!

Der wilde Irländer saß und sitzt aber nun einmal in ihrer Mitte, um bald mit wahrhaft entsetzlicher Genauigkeit, mit wirklich beleidigender Schärfe die Interessen der Chartisten zu verteidigen und, bald alle Leiden des grünen Erins vor den Augen des entsetzten Parlamentes heraufzerrend, die Versammelten mehr zu plagen als weiland der selige O'Connell.

Wird man seiner mahnenden Stimme gehorchen? Vielleicht ist es nötig, daß auch erst durch die Londoner Gassen der schreckliche Ruf "aux armes!" erklingt, um seinen Forderungen den richtigsten Nachdruck zu geben.



Blumenfest der Arbeiter


1848


Belgien


Letzte Änderung: 15. Jun. 2001, Adresse: /deutsch/1848/oconnor.html