Im Konzentrationslager Ravensbrück habe ich von weiblichen Mitgefangenen erfahren, daß mein Mann, Julius Fucik, Redakteur bei Rude Pravo und Tvorba, von einem Nazi-Gericht in Berlin am 25. August 1943 zum Tode verurteilt worden war.
Fragen nach seinem weiteren Schicksal prallten an der hohen Mauer um das Lager ab.
Nach der Niederlage Hitler-Deutschlands im Mai 1945 wurden aus dessen Kerkern und Konzentrationslagern die Gefangenen befreit, die von den Faschisten nicht mehr hatten zu Tode gefoltert oder totgeschlagen werden können. Ich hatte das Glück, zu den Befreiten zu gehören.
Ich bin in mein befreites Vaterland zurückgekehrt. Ich habe nach den Spuren meines Mannes gesucht. So wie Tausende und Abertausende andere ihre Männer, Frauen, Kinder, Väter, Mütter suchten und noch immer suchen, die von den deutschen Okkupanten in eine ihrer zahllosen Folterkammern verschleppt worden waren.
Ich erfuhr, daß Julius Fucik vierzehn Tage nach seiner Verurteilung - am 8. September 1943 - in Berlin hingerichtet worden war.
Ich erfuhr auch, daß Julius Fucik im Gefängnis Pankrác geschrieben hatte. Dies war meinem Mann vom Aufseher A. Kolinski ermög1icht worden, der ihm Papier und Bleistift in die Zelle gebracht und die beschriebenen Blätter dann, eines nach dem anderen, aus dem Gefängnis geschmuggelt hatte.
Es kam zu einem Zusammentreffen mit diesem Aufseher. Nach und nach trug ich das sämtliche Material aus Julius Fuciks Pankrácer Gefängniszeit zusammen. Die beschriebenen und numerierten Blätter, die an verschiedenen Orten bei verschiedenen Leuten verborgen gewesen sind, habe ich geordnet und lege sie nun dem Leser vor. Es ist das letzte Werk von Julius Fucik.
Prag, September 1945, Gusta Fucikova
Wenn man vor zehn Jahren im Cafe Flora in Vinohrady mit einem Geldstück klopfte oder »Herr Ober, zahlen!« rief, tauchte plötzlich ein großer, hagerer Mann in Schwarz auf, der sich schnell und lautlos wie eine Eidechse zwischen den Stühlen hindurchwand und die Rechnung vorlegte. Er hatte flinke und leise Bewegungen und scharfe Raubtieraugen, die alles wahrnahmen. Man brauchte seinen Wunsch gar nicht auszusprechen, von sich aus wies er die Kellner an: »Tisch drei, einen großen Weißen ohne«, »Linkes Fenster, Kuchen und Lidove noviny!« Er war den Gästen ein guter Ober und dem übrigen Personal ein guter Kollege.
Damals allerdings kannte ich ihn noch nicht. Ich lernte ihn erst viel später kennen, bei Jelineks, als er statt eines Bleistifts eine Pistole in der Hand hielt und auf mich deutete:
» ... der da interessiert mich am meisten.«
Ehrlich gesagt, das Interesse beruhte auf Gegenseitigkeit. Er besitzt natürliche Intelligenz und hat den anderen eines voraus: Menschenkenntnis. Bei der Kriminalpolizei hätte er darum zweifellos Erfolg gehabt. Kleine Diebe oder Mörder, deklassiert und isoliert, hätten wahrscheinlich nicht gezögert, ihm ihre Seele zu öffnen, weil es ihnen einzig darum geht, die eigene Haut zu retten. Aber solche "rette dich um jeden Preis"-Typen bekommt die politische Polizei nur selten in die Hände. Hier mißt sich Polizeiklugheit nicht allein mit der Klugheit der Beute. Sie mißt sich mit einer weit größeren Kraft: mit einer Überzeugung, mit der Weisheit der Organisation, der der Einzelne angehört. Und damit können es weder Scharfsinn noch Schläge aufnehmen.
Eine eigene starke Überzeugung hätte man bei »meinem Kommissar« nicht entdecken können. Auch bei den übrigen nicht. Und sollte es sie bei dem einen oder anderen gegeben haben, war sie mit Dummheit gepaart, nicht mit Klugheit, nicht mit Kenntnis der Ideen und nicht mit Menschenkenntnis. Hatten sie insgesamt trotzdem Erfolg, dann deshalb, weil der Kampf zu lange und auf kleinem Terrain geführt wurde, unter unendlich schwereren Bedingungen als je zuvor in einer anderen Illegalität. Die russischen Bolschewiki haben gesagt, ein guter Arbeiter sei, wer es zwei Jahre in der Illegalität aushalte. Aber war ihnen in Moskau der Boden unter den Füßen zu heiß geworden, so konnten sie noch nach Petersburg verschwinden und aus Petersburg nach Odessa, sie konnten in Millionenstädten untertauchen, wo niemand sie kannte. Hier gab es nur Prag; Prag, wo einen die Hälfte der Leute kennt und wo man eine ganze Meute von Provokateuren zu konzentrieren versuchte. Und dennoch haben wir Jahre ausgehalten, dennoch gibt es Genossen, die, von der Gestapo unentdeckt, bereits das fünfte Jahr überleben. Das wurde möglich, weil wir viel gelernt haben. Es ist aber auch deshalb möglich, weil der Feind zwar mächtig und grausam ist, aber nichts anderes fertig bringt als zu zerstören.
Es sind drei in der Abteilung II-A I, die den Ruf der härtesten Gegner des Kommunismus geniessen und das schwarzweißrote Band für Tapferkeit im Krieg gegen den inneren Feind besitzen: Friedrich, Zander und »mein Kommissar«, Josef Böhm. Über Hitlers Nationalsozialismus sprechen sie wenig. Sie kämpfen nicht für die politische Idee. Sie kämpfen für sich selbst. Jeder auf seine Weise.
Zander - ein winziger Mann von großer Galligkeit - versteht wohl am meisten von Polizeimethoden, und noch mehr von Geldgeschäften. Er war für einige Monate von Prag nach Berlin versetzt worden, hatte jedoch auf der Rückkehr bestanden. Der Dienst in der Reichshauptstadt gihm als Degradierung - und als finanzielle Einbuße. Ein Kolonialbeamter in Afrika oder in Prag ist ein mächtiger Herr und hat mehr Gelegenheit, sein Bankkonto aufzustocken. Er untersucht fleißig, setzt die Verhöre gern während des Mittagessens fort, um seinen Fleiß zu zeigen. Und er hat es nötig, ihn zu zeigen, damit man nicht sieht, daß er nebenamtlich noch fleißiger ist. Wehe dem, der in seine Hände gerät; aber doppelt wehe dem, der zudem ein Sparbuch oder Wertpapiere besitzt, er muß innerhalb kürzester Zeit sterben, denn Sparbbücher und Wertpapiere sind Zanders Leidenstaft. Man hält ihn für den fähigsten Beamten - in diesem Punkt. Darin unterscheidet er sich von seinem tschechischen Helfer und Dolmetscher Smolz, der ein Gentleman-Räuber ist: der fordert nicht das Leben, wenn er das Geld bekommt.
Friedrich - ein hochgewachsener, magerer, brünetter Typ mit bösen Augen und bösem Lächeln. Er war irgendwann im Jahre 1937 als Gestapo-Agent in die Republik gekommen, um die deutschen Genossen in der Emigration erledigen zu helfen. Denn seine Passion waren Tote. Für ihn gab es keine Unschuldigen. Wer die Schwelle zu seinem Büro überschreitet ist schuldig. Er liebt es, den Frauen zu sagen, daß ihr Mann im Konzentrationslager gestorben oder hingerichtet worden ist. Er liebt es, sieben kleine Urnen aus der Schublade zu holen und sie den Verhafteten zu zeigen:
Diese sieben habe ich mit eigenen Händen totgeschlagen. Du wirst der achte sein. (Inzwischen sind es acht, weil er auch Jan Zizka erschlagen hat).
Er blättert auch gerne in alten Protokollen, und wenn er dabei auf die Toten stößt, sagt er sich mit Befriedigung: "Erledigt! Erledigt!" Und er liebt es zu foltern, vor allem Frauen.
Seine Liebe zum Luxus ist nur noch eine Art Hilfsmotor in seiner Pofizeiarbeit. Eine gut eingerichtete Wohnung oder ein Stoffgeschäft beschleunigen lediglich deinen Tod, mehr nicht.
Sein tschechischer Helfer, Nergr, ist etwa einen halben Kopf kleiner. Sonst besteht zwischen den beiden kein Unterschied.
Böhm, mein Kommissar, hat weder eine Leidenschaft für Geld noch für Tote, obwohl sich in seinem Verzeichnis kaum weniger befinden als bei den zwei anderen. Er ist ein Abenteurer mit dem starken Verlangen, jemand zu sein. Er hat ebenfalls schon lange für die Gestspo gearbeitet. Er war Kellner im Napoleon-Salon und war bei den vertraulichen Besprechungen Berans. Böhm hat nachgetragen was Beran Hitler nicht selbst gesagt hat. Aber was bedeutet das schon angesichts der Mög1ichkeit Menschen zu jagen, Herr zu sein über Leben und Tod, über Schicksale ganzer Familien zu entscheiden!
Es mußte nicht immer so taurig enden, um ihn zu befriedigen. Aber wenn er nicht anders hervor treten konnte, trieb er es auch noch schlimmer. Denn was sind Schönheit und Leben verglichen mit dem Ruhm eines Herostrates ?
Er hat selbst das vielleicht größte Netz von Provokateuren geschaffen. Ein Jäger mit einer großen Meute von Jagdhunden. Und er jagte. Oft nur aus Lust am Jagen. Verhöre - das ist ihm meist langweiliges Handwerk. Die Hauptsache ist ihm das Verhaften. Und dann die Menschen vor sich zu sehen, die auf seine Entscheidung warten. Einmal hat er rund zweihundert Prager Straßenbahner verhaftet, Fahrer und Schaffner von Bussen und O-Bussen, die er auf ihren Strecken jagte, indem er den Betrieb unterbrach und eine Panik im Verkehr auslöste. Da war er g1ücklich. Dann hat er hundertfünfzig wieder freigelassen, zufrieden, daß man in hundertfünfzig Familien von ihm als einem guten Menschen sprechen würde.
Er hatte regelmäßig langwierige Fälle, aber keine wichtigen. Ich, den er durch Zufall erjagt hatte, bildete eine Ausnahme.
»Du bist mein größter Fall«, sagte er oft aufrichtig zu mir, und er war stolz darauf, daß ich unter die größten Fälle überhaupt eingereiht worden war. Das hat mir wohl das Leben verlängert.
Wir logen einander gewaltig an, unaufhörlich, aber gewählt. Ich wußte es immer, er nur manchmal. War eine Lüge einmal offenkundig, übergingen wir sie wie in stillschweigender Verabredung. Ich glaube, es lag ihm nicht so sehr am Ermitteln der Wahrheit als vielmehr daran, daß auf »seinem großen Fall« kein Schatten zurückblieb.
Knüppel und Eisen hielt er nicht für die einzigen Verhörmittel. Er redete eher gut zu oder drohte, je nachdem, wie er »seinen« Mann einschätzte. Er hat mich nie gefoltert, außer in der ersten Nacht. Aber wenn es ihm gerade paßte, hat er mich zu diesem Zweck den anderen überlassen.
Er war entschieden interessanter und komplizierter als alle anderen. Er hatte eine reichere Vorstellungskraft und verstand sie zu nutzen. Wir fuhren zu vorgeblichen Treffs nach Bramik. Dort saßen wir dann in einer Gartenwirtschaft und blickten auf die vorbeiziehenden Leute.
»Wir haben dich verhaftet«, sagte er zu mir, »und schau: hat sich etwas verändert? Die Leute geben sich wie früher, sie lachen oder haben ihre Sorgen, wie sie sie früher hatten, das Leben geht weiter, als hätte es dich nie gegeben. Und sicher sind unter ihnen auch Leser von dir - glaubst du, daß sie deinetwegen eine einzige Runzel zusätzlich kriegen?«
Ein andermal setzte er mich nach einem ganztägigen Verhör ins Auto und fuhr mit mir durchs abendliche Prag auf den Hradschin, durch die Nerudagasse:
»Ich weiß, daß du Prag liebst. Willst du denn nie mehr dahin zurückkehren? Wie schön es ist! Und es wird schön sein, auch wenn du nicht mehr sein wirst...« Er spielte die Rolle des Versuchers gut. Der Sommerabend hatte über Prag schon die Nähe des Herbstes angedeutet, die Stadt ist bläulich und beschlagen wie eine reifende Rebe und berauschend wie Wein, ich hätte sie bis zum Weltende anschauen mögen . . . Aber ich unterbrach ihn:
». . . und wird noch schöner sein, wenn ihr nicht mehr hier sein werdet.«
Er lachte kurz, nicht böse, eher traurig und sagte:
»Du bist ein Zyniker.«
Auf diesen Abend kam er oft zurück: »Wenn wir nicht mehr hier sein werden... Du glaubst also noch nicht an unseren Sieg?«
Er fragte es, weil er selbst nicht mehr daran glaubte. Und er hörte aufmerksam zu, als ich von der Kraft und Unbesiegbarkeit der Sowjetunion sprach. Das war übrigens eines meiner letzten »Verhöre«.
An der Tür der gegenüberliegenden Zelle hängen Hosenträger. Ganz gewöhnliche Herrenhosenträger. Ein Instrument, das ich nie gemocht hatte. Nun aber blicke ich mit Freude darauf, jedesmal wenn jemand unsere Zellentür öffnet: ich sehe darin ein Stück Hoffnung.
Wenn man verhaftet wird, wird man, sagen wir totgeschlagen, vorher jedoch nimmt man dir Krawatte, den Gürtel oder die Hosenträger ab, damit du dich nicht aufhängen kannst (obwohl man sich sehr gut mit einem Leintuch aufhängen kann). Diese gefährlichen Werkzeuge lagern dann in der Gefängniskanzlei, bis eine unbekannte Schicksalsgöttin bei der Gestapo entscheidet, daß du woanders hin geschickt werden sollst: zur Arbeit ins Konzentrationslager oder zur Hinrichtung. Dann wirst du gerufen, erhälst sie mit amtlicher Geste ausgehändigt, doch in die Zelle darfst du sie nicht mitnehmen. Du mußt sie draußen neben die Tür oder übers Geländer davor hängen, und dort hängen sie bis zum Abgang deines Transports als sichtbares Zeichen, daß einer der Zellenbewohner für die unfreiwillige Reise vorgesehen ist.
Die Hosenträger gegenüber waren gerade an dem Tag aufgetaucht, da ich erfuhr, welches Schicksal man Gusta bestimmt hatte. Der Kamerad gegenüber fuhr auch zur Arbeit, mit demselben Transport wie sie. Der Transport ist noch nicht weg. Man hatte ihn plötzlich aufgeschoben, weil angeblich der Zielort durch die Bombardierungen zerstört worden ist. (Noch eine schöne Aussicht). Wann er abgehen wird, weiß keiner. Vielleicht heute Abend, vielleicht morgen, vielleicht in einer Woche oder in vierzehn Tagen. Die Hosenträger gegenüber hängen noch immer da. Und ich weiß, wenn ich sie sehe, ist Gusta noch in Prag. Deshalb betrachtete ich sie froh und liebevoll wie jemanden, der ihr hilft. Sie gewinnt einen Tag, zwei, drei ... wer weiß, vielleicht rettet gerade dieser Tag ihr Leben.
In diesem Zustand leben wir hier alle. Heute, vor einem Monat, vor einem Jahr, immer nur dem Morgen zugewandt, in dem unsere Hoffnung liegt. - Dein Schicksal ist besiegelt, übermorgen wirst du erschossen - ach, was kann morgen nicht alles geschehen! Nur Morgen erleben, morgen kann sich alles ändern, es ist alles so ungewiß. Andrerseits, wer weiß, was morgen passiert. Und Morgen vergeht, Tausende fallen, für Tausende gibt es keinen nächsten Tag mehr, aber die Lebenden leben weiter mit der unveränderlichen Hoffnung: Morgen, wer weiß, was morgen geschehen wird ...
Daraus entstehen die phantastischsten Gerüchte. Jede Woche flammte ein neuer Termin für dasKriegsende auf, weitergegeben von Ohr zu Ohr, und jeder nahm ihn mit offenem Mund auf, jede Woche flüsterte sich Pankrác selbst eine neue Sensation zu, die man nur zu gern glaubte. Falsche Hoffnungen, die den Charakter nicht stärken, sondern schwächten; Optimismus darf nicht durch Lüge genährt werden, sondern durch die Wahrheit, durch klares Sehen des unzweifelbaren Sieges. Das Grundlegende ist, im Innersten sicher zu sein, daß eben dieser Tag der entscheidende sein kann, und daß der Tag, den du gewinnst, dich über die Grenze trägt, die das Leben, das du nicht aufgeben willst, vom Tod trennt, der dir droht.
Das Leben des Menschen hat so wenige Tage. Und dennoch, hier wünschst du, daß sie schnell vorüber gehen, schneller, so schnell wie möglich. Die Zeit, die vergeht, die kaum wahrnembare Zeit, die dich immer bluten ließ, hier ist sie dein Freund. Wie eigenartig das ist! Das Morgen wird zum Gestern, das Übermorgen zum Heute. Und wieder ist ein Tag vergangen.
Die Hosenträger hängen noch immer neben der gegenüberliegenden Zellentür.