Kapitel 1 |
II. Der kapitalistische Militarismus
Der Militarismus ist nichts spezifisch Kapitalistisches. Er ist vielmehr allen Klassengesellschaftsordnungen, von denen die kapitalistische die letzte ist, eigen und wesentlich. Freilich entwickelt der Kapitalismus ebenso wie jede andere Klassengesellschaftsordnung seine besondere Sorte Militarismus (1); denn der Militarismus ist seinem Wesen nach Mittel zum Zweck oder zu mehreren Zwecken, die je nach der Art der Gesellschaftsordnung verschieden und je nach ihrer Verschiedenheit auf verschieden gearteten Wegen zu erreichen sind. Das tritt nicht nur im Heerwesen zutage, sondern auch im übrigen Inhdes Militarismus, der sich aus der Erfüllung seiner Aufgaben ergibt.
Der kapitalistischen Entwicklungsstufe entspricht am besten das Heer der allgemeinen Wehrpflicht, das aber, obwohl ein Heer aus dem Volke, kein Heer des Volkes, sondern ein Heer gegen das Volk ist, oder mehr und mehr dazu umgearbeitet wird.
Es tritt bald als stehendes Heer auf, bald als Miliz. Das stehende Heer, das aber auch keine Erscheinung nur des Kapitalismus ist (1), erscheint als seine entwickeltste, ja seine normale Form; das wird unten gezeigt werden.
Die Armee der kapitalistischen Gesellschaftsordnung erfüllt ebenso wie die Armee der anderen Klassengesellschaftsordnungen einen doppelten Zweck.
Sie ist zuvörderst eine nationale Einrichtung, bestimmt zum Angriff nach außen oder zum Schutz gegen eine Gefährdung von außen, kurzum bestimmt für internationale Verwicklungen oder, um ein militärisches Schlagwort zu gebrauchen, gegen den äußeren Feind.
Diese Funktion der Armee ist auch durch die neuere Entwicklung keineswegs beseitigt. Für den Kapitalismus ist der Krieg in der Tat, um Moltkes Worte zu gebrauchen, "ein Glied in Gottes Weltordnung" (1) . Allerdings besteht innerhalb Europas selbst wenigstens die Tendenz zur Beseitigung gewisser Kriegsursachen und sinkt trotz Elsaß-Lothringen und der Sorgen um das französische Trifolium Clemenceau, Pichon, Picquart, trotz der orientalischen Frage, trotz des Panislamismus und trotz der sich eben in Rußland vollziehenden Umwälzung die Wahrscheinlichkeit eines aus Europa selbst herausbrechenden Krieges mehr und mehr. Dafür sind jedoch neue, höchst gefährliche Reibungsflächen entstanden infolge der von den sogenannten Kulturstaaten verfolgten kommerziellen und politischen Expansionsbestrebungen (2), die uns auch die orientalische Frage und den Panislamismus in erster Linie beschert haben, infolge der Weltpolitik, der Kolonialpolitik im besonderen, die - wie selbst ein Bülow am 14. November 1906 im Deutschen Reichstage rückhaltlos anerkannte (3) - ungezählte Konfliktsmöglichkeiten in sich birgt (4) und die gleichzeitig zwei andere Formen des Militarismus immer energischer in den Vordergrund drängt: den Marinismus und den Kolonialmilitarismus. Wir Deutschen können ein Lied von dieser Entwicklung singen!
2 Der Wert des gesamten auswärtigen Handels der Welt ist nach Hübners Tabellen von 75 224 Millionen im Jahre 1891 auf fast 109 000 Millionen im Jahre 1905 gestiegen.
3 "Was heutzutage unsere Situation kompliziert und erschwert, das sind unsere überseeischen Bestrebungen und Interessen."
4 Moltkes Anschauungen hierzu waren höchst abenteuerlich. Die Zeit der Kabinettskriege ist nach ihm zwar vorüber, dafür hält er aber die Parteiführer für frevelmütige, gefährliche Kriegsprovokanten. Die Parteiführer und - die Börse! Freilich hat er auch hie und da tiefere Einsicht. ("Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten", Bd. 111,1 ff., 126, 135, 158.)
Der Marinismus, der Flottenmilitarismus, ist das echte Geschwister des Landmilitarismus und trägt alle abstoßenden und bösartigen Züge dieses letzteren. Er ist in noch höherem Maße als gegenwärtig der Landmilitarismus nicht nur Folge, sondern auch Ursache internationaler Gefahren, der Gefahr eines Weltkrieges.
Wenn uns gute Leute und Betrüger glauben machen wollen, zum Beispiel die Spannung zwischen Deutschland und England (1) sei nur et welchen Mißverständnissen, Hetzereien böswilliger Zeitungsschreiber, prahlerischen Redensarten schlechter Musikanten der Diplomatie zu verdanken, so wissen wir es besser. Wir wissen, daß diese Spannung eine notwendige Folge der sich verschärfenden wirtschaftlichen Konkurrenz Englands und Deutschlands auf dem Weltmarkte ist, also eine direkte Folge der zügellosen kapitalistischen Entwicklung und internationalen Konkurrenz. Der Spanisch-Amerikanische Krieg um Kuba, der Abessinische Krieg Italiens, der Transvaalkrieg Englands, der Chinesisch-Japanische Krieg, das chinesische Abenteuer der Großmächte, der Russisch-Japanische Krieg, sie alle, wenn auch noch so mannigfaltig in ihren besonderen Ursachen und Bedingungen, haben doch den einen großen gemeinschaftlichen Grundzug des Expansionskrieges. Und wenn wir uns der englisch-russischen Spannung in Tibet, Persien und Afghanistan, der japanisch-amerikanischen Unstimmigkeiten aus dem Winter 1906 und schließlich des Marokkokonfliktes glorreichen Angedenkens mit der französisch-spanischen Kooperation vom Dezember 1906 (2) erinnern, so erkennen wir, daß die kapitalistische Expansions- und Kolonialpolitik unter das Gebäude des Weltfriedens zahlreiche Minen gelegt hat, deren Zündschnüren in den verschiedensten Händen liegen und die gar leicht und unerwartet auffliegen können. (3) Gewiß mag eine Zeit kommen, wo die Aufteilung der Welt so weit fortgeschritten ist, daß man an eine Vertrustung des überhaupt möglichen Kolonialbesitzes unter die Kolonialstaaten, sozusagen an eine Ausschaltung der Kolonialkonkurrenz zwischen den Staaten denken kann, wie sie für die private Konkurrenz zwischen kapitalistischen Unternehmern in den Kartellen und Trusts in gewissem Umfange erfolgt ist. Aber das hat noch gute Weile und kann schon allein durch die wirtschaftliche und nationale Erhebung Chinas ins Unabsehbare weit hinausgeschoben werden.
2 Frankreich hat im Jahre 1906 aus Anlaß des Marokkostreites weit über 100 Millionen zur militärischen Sicherung seiner Ostgrenzen aufgewendet!
3 Über den angeblichen, nicht recht geklärten Plan des Hamburger Reedereiabgeordneten Semler, Fernando Po a la Jameson zu kapern, vgl. die Debatten der Budgetkommission vom Anfang Dezember 1906.
So erscheinen denn alle die angeblichen Abrüstungspläne vorläufig nur als Narretei, Schaumschlägerei und Übertölpelungsversuche. Die Hauptautorschaft des Zaren an der Haager Komödie stempelt sie durchweg.
Gerade in unseren Tagen ist die Seifenblase der angeblichen englischen Abrüstung lächerlich zerplatzt: Der Kriegsminister Haldane, der angebliche Förderer solcher Absichten, hat sich in scharfen Worten als Gegner jeder Minderung der aktiven Wehrmacht bekannt und geradezu als militaristischer Treiber entpuppt und betätigt (1), während gleichzeitig die englisch-französische Militärkonvention am Horizont aufgeht. Und zur nämlichen Stunde, wo die zweite "Friedenskonferenz" vorbereitet wird, steigert Schweden seine Flotte, wuchern in Amerika (2) und Japan die Militärbudgets immer höher ins Kraut, betont das Ministerium Clemenceau in Frankreich unter einer 208 Millionen-Mehrforderung (3) die Notwendigkeit einer starken Armee und Marine, wird von den "Hamburger Nachrichten" als Quintessenz der Stimmung in den herrschenden
Klassen Deutschlands der Glaube an die alleinselig-machende militärische Rüstung geschildert und das deutsche Volk von der Regierung mit militärischen Mehrforderungen (4) beglückt, nach denen selbst unsere Liberalen mit allen Zehn Fingern ausgreifen. (5) Man kann daran die Naivität ermessen, die der französische Senator d'Estournelles de Constant, ein Mitglied des Haager Gerichtshofes, in seinem jüngsten Aufsatz über die Beschränkung der Rüstungen (6) entwickelt. In der Tat: Für diesen politischen Phantasten macht nicht nur eine Schwalbe den Sommer der Abrüstung, ihm genügt schon ein Sperling. Herzerquickend fast mutet demgegenüber die ehrliche Brutalität an, mit der die Konferenzgroßmächte die Staedschen Vorschläge abfallen lassen und sich sträuben, die Abrüstungsfrage auch nur auf die Tagesordnung der zweiten Konferenz zu setzen.
2 Vgl. "Folgerungen" und das "manuel du soldat" des vorliegenden Bandes und die Botschaft Roosevelts vom 4. Dezember 1906.
3 Durch den Marokkokonflikt hauptsächlich begründet.
4 24 3/4 Millionen für die Marine, 51 Millionen für das Landheer, 7 Millionen Zinsen, Summa: eine Steigerung um etwa 83 Millionen Mark gegen den Etat von 1906/1907! Rosige Aussichten auf weitere "uferlose" Flottenrüstungen macht ein offenbar inspirierter Artikel im "Reichsboten" vom 21. Dezember 1906. Und dazu die riesigen kolonialen Kriegsausgaben (Chinaexpedition 454 Millionen, Südwestafrikanischer Aufstand bisher 490 Millionen, Ostafrikanischer Aufstand 2 Millionen usw.), über deren Einforderung es soeben, am 13. Dezember 1906, zum Konflikt und zur Reichstagsauflösung gekommen ist.
5 Vgl. zum Beispiel "Berliner Tageblatt" vom 27. Oktober 1906. Vor allem der berüchtigte Antrag Ablaß vom 13. Dezember 1906 und die liberale Wahlparole zum 25. Januar 1907.
6 "La Revue" vom 1. Oktober 1906. Die "tatsächlich erzielten Erfolge" der Abrüstungsbewegung, von denen die Redaktion der "Revue" orakelt, sind deren tiefes Geheimnis.
Der dritte Sprößling des Kapitalismus auf militärischem Gebiete, der Kolonialmilitarismus, verdient noch einige Worte. Die Kolonialarmee, das heißt das stehende Kolonialheer, nicht die jetzt angeblich auch für Deutsch-Südwestafrika "geplante" Kolonialmiliz (1), noch weniger die ganz differente Miliz der fast selbständigen englischen Kolonien, spielt für England eine außerordentlich große Rolle; ihre Bedeutung wächst auch für die übrigen Kulturstaaten. Während sie für England außer der Aufgabe einer Unterdrückung oder Inschachhaltung des kolonialen "inneren Feindes", nämlich der Eingeborenen der Kolonien, die Aufgabe eines Machtmittels gegen den äußeren Kolonialfeind, zum Beispiel Rußland, erfüllt, fällt ihr, oft unter der Firma "Schutztruppe" oder "Fremdenlegion" (2), bei den übrigen Kolonialstaaten, besonders Amerika und Deutschland (3), fast ausschließlich die erste Aufgabe zu, die Aufgabe, die unglückseligen Eingeborenen zur Fron für den Kapitalismus in die Bagnos zu treiben und, wenn sie ihr Vaterland gegen die fremden Eroberer und Blutsauger schützen wollen, erbarmungslos zusammenzuschießen, niederzusäbeln und auszuhungern. Die Kolonialarmee, die sich vielfach aus dem Abhub der europäischen Bevölkerung zusammensetzt (4), ist das bestialischste, abscheulichste aller Werkzeuge unserer kapitalistischen Staaten. Es gibt kaum ein Verbrechen, das der Kolonialmilitarismus und der in ihm geradezu gezüchtete Tropenkoller nicht gezeitigt hätten. (5) Die Tippelskirch, Woermann, Podbielski, die Leist, Wehlan, Peters, Arenberg und Genossen sind des auch für Deutschland Zeugen und Beweise. Sie sind die Früchte, an denen man das Wesen der Kolonialpolitik erkennt, jener Kolonialpolitik, die unter der Vorspiegelung (6), Christentum und Zivilisation zu verbreiten oder die nationale Ehre zu wahren, zum Profit der kapitalistischen Kolonialinteressen mit frommem Augenaufschlag wuchert und betrügt, Wehrlose mordet und notzüchtigt, den Besitz Wehrloser sengt und brennt, Hab und Gut Wehrloser raubt und plündert, Christentum und Zivilisation höhnt und schändet. (7) Vor Indien und Tongking, dem Kongostaat, Deutsch-Südwestafrika und den Philippinen erbleichen die Sterne selbst eines Cortez, selbst eines Pizarro.
2 Frankreich hat seit dem 31. Dezember 1900 eine förmliche Kolonialarmee, mit der die bösesten Erfahrungen gemacht sind: Vgl. "Hamburgischer Correspondent" Nr. 621 vom 7. Dezember 1906, auch Fußnote 3 und die Fußnote im Abschnitt "Soldatenerziehung" des vorliegenden Dokuments. In Deutschland wird geschäftig an ihrer Herstellung gearbeitet. Es geht im Geschwindschritt auf sie zu.
3 Dessen koloniale Ausgaben selbst nach Dernburgs Denkschrift vom Oktober 1906, trotz aller darin praktizierten Bilanzverschleierung, weit überwiegend militärischer Art sind.
4 Vgl. Peroz, "France et Japon en Indochine"; Famin, "L'armée coloniale"; E. Reolus in "Patriotisme et colonisation"; Däumig, "Schlachtopfer des Militarismus". In "Die Neue Zeit", XVIII. Jahrgang (1899/1900), 2.Bd., S. 365, über die Bataillons d'Afrique S. 369. Ferner für Deutschland selbst Abg. Roeren am 3. Dezember 1906 im Reichstag.
5 Auch das Disziplinarwesen nimmt hier eine besonders zugespitzte Form der Bestialität an. Über Frankreichs Fremdenlegion und die Bataillons d'Afrique vgl. Däumig, "Schlachtopfer des Militarismus"; über die Abschaffung des "Biribi" Reform Picquart und die Fußnote im Abschnitt "Soldatenerziehung" des vorliegenden Dokuments.
6 Dieser heuchlerische und zugleich schamhafte Schleier wird jetzt mit allem wünschenswerten Zynismus abgeworfen: vgl. den Artikel von G. B. in der Monatsschrift "Die deutschen Kolonien" (Oktober 1906) und von Strantz auf dem alldeutschen Verbandstag (September 1906): "Wir wollen in den Kolonien nicht die Leute zu Christen machen, sondern sie sollen für uns arbeiten. Dieser Humanitätsdusel ist geradezu lächerlich. Die deutsche Sentimentalität hat uns einen Mann wie Peters geraubt." Weiter Heinrich Hartert in "Der Tag" vom 21. Dezember 1906: Es sei "Pflicht der Mission, sich ... den gegebenen Verhältnissen anzupassen"; sie hat sich aber "vielfach dem Kaufmann direkt lästig gemacht". Hier liegt der kolonialpolitische Hauptstreitpunkt zwischen Zentrum und Regierung, aus dem allein sich der im Dezember 1906 von dem "Kaufmann" Dernburg entfesselte wütende Kampf gegen die sogenannte Nebenregierung des Zentrums versteht. - Auch hier gilt fürs Ausland die göttliche "Antwort Alexanders". Für Amerika predigt die "Kreuz-Zeitung" vom 29. September 1906: "Die einfache Ausrottung ganzer Indianerstämme ist so inhuman und unchristlich, daß sie unter keinen Umständen verteidigt werden kann - zumal es sich für die Amerikaner keineswegs um ein to be or not to be handelt." Wo es sich darum handelt - nach Auffassung der Kolonialchristen! -, darf also auch der Bekenner der Nächstenliebe "ganze Stämme ausrotten"!
7 Vgl. die denkwürdigen Verhandlungen des Deutschen Reichstags vom 28. November bis zum 4. Dezember 1906, in denen die Eiterbeule aufgestochen wurde.
Wenn oben die Funktion des Militarismus gegen den äußeren Feind als eine nationale bezeichnet ist, so ist damit nicht gesagt, daß es eine Funktion sei, die den Interessen, der Wohlfahrt und dem Willen der kapitalistisch regierten und ausgebeuteten Völker entspricht. Das Proletariat der gesamten Welt hat von jener Politik, die den Militarismus nach außen notwendig macht, keinen Nutzen zu erwarten, seine Interessen widersprechen ihr sogar auf das allerschärfste. Jene Politik dient mittelbar oder unmittelbar den Ausbeutungsinteressen der herrschenden Klassen des Kapitalismus. Sie sucht der regellos-wilden Produktion und der sinnlos-mörderischen Konkurrenz des Kapitalismus mit mehr oder weniger Geschick über die Welt hinaus den Weg zu bereiten, indem sie alle kulturellen Pflichten gegen die minder entwickelten Völkerschaften niedertrampelt; und sie erreicht doch im Grunde genommen nichts, als eine wahnsinnige Gefährdung des ganzen Bestandes unserer Kultur durch die Heraufbeschwörung weltkriegerischer Verwicklungen.
Auch das Proletariat begrüßt den gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung unserer Tage. Es weiß aber, daß sich dieser wirtschaftliche Aufschwung auch ohne den gewappneten Arm, ohne Militarismus und Marinismus, ohne den Dreizack in unserer Faust und ohne die Bestialitäten unserer Kolonialwirtschaft friedlich entfalten könnte, sofern ihm vernünftig geleitete Gemeinwesen unter internationaler Verständigung und in Übereinstimmung mit den Kulturpflichten und Kulturinteressen dienen würden. Es weiß, daß unsere Weltpolitik zu einem großen Teil eine Politik der gewaltsamen und plumpen Bekämpfung und Verwirrung der inneren sozialen und politischen Schwierigkeiten ist, vor denen sich die herrschenden Klassen sehen, kurzum eine Politik bonapartistischer Täuschungs- und Irreführungsversuche. Es weiß, daß die Arbeiterfeinde ihre Suppe mit Vorliebe am Feuer des beschränkten Chauvinismus kochen, daß schon die von Bismarck skrupellos erzeugte Kriegsangst des Jahres 1887 der gemeingefährlichsten Reaktion gar trefflich Vorspann leistete und daß ein jüngst (1) enthülltes sauberes Plänchen hochgestellter Persönlichkeiten dahin ging, im trüben kriegerischer Hurrastimmung dem deutschen Volk "nach Heimkehr eines siegreichen Heeres" das Reichstagswahlrecht wegzufischen. Es weiß, daß der Vorteil des wirtschaftlichen Aufschwunges, um dessen Ausnützung sich jene Politik bemüht, und daß im besonderen aller Vorteil unserer Kolonialpolitik nur der Unternehmerklasse, dem Kapitalismus, dem Erbfeind des Proletariats, in die weiten Taschen rinnt. Es weiß, daß die Kriege, die die herrschenden Klassen für sich führen, gerade ihm die unerhörtesten Opfer an Gut und Blut (2) auferlegen, für die es nach vollbrachter Arbeit mit jämmerlichen Invalidenpensionen, Veteranenbeihilfen, Leierkästen und Fußtritten aller Art regaliert wird. Es weiß, daß sich bei jedem Krieg ein Schlammvulkan hunnischer Roheit und Gemeinheit über die beteiligten Völker ergießt und die Kultur auf Jahre hinaus rebarbarisiert. (3) Es weiß, daß das Vaterland, für das es sich schlagen soll, nicht sein Vaterland ist, daß es für das Proletariat jedes Landes nur einen wirklichen Feind gibt: die Kapitalistenklasse, die das Proletariat unterdrückt und ausbeutet; daß das Proletariat jedes Landes durch sein eigenstes Interesse eng verknüpft ist mit dem Proletariat jedes anderen Landes; daß gegenüber den gemeinsamen Interessen des internationalen Proletariats alle nationalen Interessen zurücktreten und der internationalen Koalition des Ausbeutertums und der Knechtschaft die internationale Koalition der Ausgebeuteten, der Geknechteten gegenübergestellt werden muß. Es weiß, daß das Proletariat, sofern es in einem Kriege verwendet werden sollte, zum Kampfe gegen seine eigenen Brüder und Klassengenossen geführt würde und damit zum Kampfe gegen seine eigenen Interessen.
2 Die Opfer der Kriege von 1799 bis 1904 (außer dem Russisch-Japanischen) an Menschenleben werden auf etwa 15 Millionen veranschlagt.
3 Vgl. Fußnote des vorliegenden Dokuments und Moltke, "Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten", Bd.II, S. 288. Danach soll der Krieg die Sittlichkeit und Tüchtigkeit bis aufs äußerste steigern, besonders die moralische Energie fördern.
Das klassenbewußte Proletariat steht daher jener internationalen Aufgabe der Armee wie der gesamten kapitalistischen Ausdehnungspolitik nicht nur kühl bis ans Herz hinan, sondern in ernster und zielbewußter Feindschaft gegenüber. Es hat die vornehmste Aufgabe, den Militarismus auch in dieser Funktion bis aufs Messer zu bekämpfen, und es wird sich dieser seiner Aufgabe in immer stärkerem Maße bewußt - das zeigen die internationalen Kongresse, das zeigt der Austausch von Solidaritätskundgebungen zwischen deutschen und französischen Sozialisten beim Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges, der spanischen und amerikanischen Sozialisten beim Ausbruch des kubanischen Krieges, der russischen und japanischen Sozialisten beim Ausbruch des ostasiatischen Krieges von 1904 und der 1905 für den Fall eines schwedisch-norwegischen Krieges von den schwedischen Sozialdemokraten gefaßte Generalstreiksbeschluß, das hat weiter die parlamentarische Stellungnahme der deutschen Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten von 1870 und zum Marokkokonflikt kundgetan, das beweist auch die Haltung des klassenbewußten Proletariats gegenüber der russischen Intervention.
Der Militarismus ist aber nicht nur Wehr und Waffe gegen den äußeren Feind, seiner harrt eine zweite Aufgabe (1), die mit der schärferen Zuspitzung der Klassengegensätze und mit dem Anwachsen des proletarischen Klassenbewußtseins immer näher in den Vordergrund rückt, die äußere Form des Militarismus und seinen inneren Charakter mehr und mehr bestimmend: die Aufgabe des Schutzes der herrschenden Gesellschaftsordnung, einer Stütze des Kapitalismus und aller Reaktion gegenüber dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse. Hier zeigt er sich als ein reines Werkzeug des Klassenkampfes, als Werkzeug in den Händen der herrschenden Klassen, dazu bestimmt, im Verein mit Polizei und Justiz, Schule und Kirche die Entwicklung des Klassenbewußtseins zu hemmen und darüber hinaus einer Minderheit, koste es, was es wolle, selbst gegen den aufgeklärten Willen der Mehrheit des Volkes die Herrschaft im Staat und die Ausbeutungsfreiheit zu sichern.
So steht der moderne Militarismus vor uns, der nicht mehr und nicht weniger sein will als die Quadratur des Zirkels, der das Volk gegen das Volk selbst bewaffnet, der den Arbeiter, indem er eine Altersklassenscheidung mit allen Mitteln künstlich in unsere soziale Gliederung hineinzutreiben sucht, zum Unterdrücker und Feind, zum Mörder seiner eigenen Klassengenossen und Freunde, seiner Eltern, Geschwister und Kinder, seiner eigenen Vergangenheit und Zukunft zu machen sich vermißt, der gleichzeitig demokratisch und despotisch, aufgeklärt und mechanisch sein will, gleichzeitig volkstümlich und volksfeindlich.
Allerdings soll nicht vergessen werden, daß sich der Militarismus auch gegen den inneren nationalen, selbst religiösen (1) "Feind" - in Deutschland zum Beispiel gegen die Polen (2), Elsässer und Dänen - richtet und auch bei Konflikten innerhalb der nichtproletarischen Klassen (3) Verwendung finden kann, daß er eine sehr vielgestaltige und wandlungsfähige Erscheinung (4) ist und daß der preußisch-deutsche Militarismus durch die besonderen halbabsolutistischen, feudal-bürokratischen Verhältnisse Deutschlands zu einer ganz besonderen Blüte gediehen ist. Dieser preußisch-deutsche Militarismus trägt alle schlechten und gefährlichen Eigenschaften irgendeiner Form des kapitalistischen Militarismus an sich, so daß er sich am besten als Paradigma zur Darstellung des Militarismus in seinem gegenwärtigen Zustand, in seinen Formen, seinen Mitteln und seinen Wirkungen eignet. Wie uns angeblich noch keiner - um mit Bismarck zu reden - den preußischen Leutnant nachgemacht hat, so hat uns in der Tat noch keiner den preußisch-deutschen Militarismus ganz nachzumachen vermocht, der da nicht nur ein Staat im Staate, sondern geradezu ein Staat über dem Staate geworden ist.
2 Vgl. die oberschlesischen Wahlkrawalle von 1903.
3 Vgl. Fuchsmühl.
4 Näheres Wehrhaftmachung nach Schweizer Muster und Schwächung des Militarismus im vorliegenden Bandes.
Betrachten wir zunächst die Heeresverfassung einiger anderer Länder. Hierbei müssen außer der eigentlichen Armee auch Gendarmerie und Polizei, die vielfach nur den Charakter besonderer, für den Alltagsdienst gegenüber dem inneren Feind präparierter militärischer Organisationen haben und gerade in ihrer Gewalttätigkeit und Roheit das militärische Ursprungsetikett tragen, von unserer Betrachtung getroffen werden.
Eigentümliche Formen der Heeresverfassung finden wir zum Beispiel in England und Amerika, in der Schweiz und in Belgien.
Großbritannien hat ein Söldnerheer ("reguläre Armee") und eine Miliz nebst der berittenen Yeomanry; außerdem sogenannte Volunteers (Freiwillige), eine sich freiwillig ergänzende, im großen und ganzen unbesoldete Truppe, 1905 245 000 an der Zahl. Das stehende Heer einschließlich der Miliz - bei der Stellvertretung zulässig ist - bezifferte sich 1905 auf rund 444 000 Mann, wovon indessen nur rund 162 000 in England selbst garnisonierten. Für Irland ist weiter ein militärisch organisiertes Polizeikorps eingerichtet (rund 12 000 Mann). Das stehende Heer wird zum großen Teil außerhalb des Mutterlandes, besonders in Indien, wo sich die Armee von fast 230 000 Mann (1) zu zwei Dritteln aus Eingeborenen zusammensetzt, verwendet. Die Kolonien besitzen in der Regel eigne Milizen und Freiwilligenkorps. Das Verhältnis zwischen dem mutterländischen und dem kolonialen Militarismus Großbritanniens wird gekennzeichnet durch das Militärbudget, das zum Beispiel 1897 für das Mutterland rund 560 Millionen, für Indien rund 510 Millionen Mark betrug. Hinzu kommt die immense Flotte mit fast 200 000 Mann Besatzung und Marinetruppen.
Das Heerwesen der Vereinigten Staaten von Amerika ist eine Mischung von stehendem Heer und Miliz. Das durch Werbung (1) ergänzte, verfassungsmäßig auf ein Maximum von 100 000 Mann begrenzte stehende Heer beziffert sich in Friedenszeiten nach dem Sollbestand 1905 auf etwa 61 000 Mann (am 15. Oktober 1906 einschließlich der Philippiner Scouts 67 253 Mann), darunter 3 800 Offiziere, die meist aus der Militärakademie von Westpoint hervorgehen. Zur Miliz zählten im gleichen Jahre zirka 111 000 Mann. Die Miliz ist ziemlich demokratisch organisiert. Sie untersteht in Friedenszeiten dem Gouverneur und ist in ihrer Bewaffnung und Ausbildung nicht auf der Höhe. Daneben spielt die vielfach militärisch organisierte Polizeitruppe eine hervorragende Rolle. - Ganz eigenartig ist eine weitere Einrichtung, die, formell genommen, nicht hierher gehört, aber nach der Funktion, die sie ausübt, nicht unbeachtet bleiben kann. In allen kapitalistischen Ländern finden sich "schwarze Banden" des Unternehmertums, sei es auch nur, daß das Unternehmertum Streikbrecher bewaffnet (das ist in der Schweiz und in Frankreich zum Beispiel nichts Seltenes, und für Deutschland sei auf die letztjährigen Werftarbeiterstreiks in Hamburg und auf die Nürnberger Vorgänge im Jahre 1906 verwiesen). Dem amerikanischen Unternehmertum aber steht in den bewaffneten Pinkertondetektivs eine solche schwarze Bande von Primaqualität stets zur Verfügung. Wenn schließlich auf die etwa 30 000 Mann hingewiesen sei, die die Marine im Jahre 1905 zählte, so sieht man, daß auch die Vereinigten Staaten eine Blütenlese der wichtigsten Formen der bewaffneten Staatsmacht bieten.
In der Schweiz bestand bis vor kurzem ein wirkliches Volksheer, eine allgemeine Volksbewaffnung. Jeder waffenfähige Schweizer Bürger hatte Gewehr und Munition ständig im Hause. Das war die Armee der Demokratie, von der Gaston Moch in seinem bekannten Buch handelt. Da die Schweiz unter einer gleichen internationalen Bürgschaft steht wie Belgien, war es natürlich, daß der "Militarismus nach außen" hier einen besonders milden Charakter annehmen und bewahren konnte, zu welchem Erfolge noch zahlreiche andre Umstände mitgewirkt haben. Mit der Zuspitzung der Klassengegensätze veränderte sich aber der "Militarismus nach innen". Das Herrschaftsbedürfnis des kapitalistischen Bürgertums empfand es zunehmend als eine Erschwerung seiner Ausbeutungs- und Unterdrückungsfreiheit, sogar als eine Gefährdung seiner Existenz, daß das Proletariat Waffen und Munition in Händen hatte. So begann man im September 1899, das Volk zu entwaffnen, indem man ihm die Patronen entzog, während man zugleich in immer schärferer Weise nach dem Vorbilde der großen Militärstaaten die vorhandenen militaristischen Ansätze auszubauen sich bemühte. Der jeweils aktive Teil der Armee wurde mit allen in jenen Militärstaaten üblichen Mitteln in ein gefügiges Klasseninstrument umzudrillen versucht, so daß sich auch in der vielgerühmten Schweizer Miliz mehr und mehr die abschreckendsten Züge herausgebildet haben, die alle stehenden Heere zu einer Kulturschmach gemacht haben. Der am 21. Dezember 1906 vom Nationalrat zum Militärreorganisationsgesetz gefaßte Beschluß über die Verwendung von Soldaten bei Streiks ändert daran nichts. (1)
Der Bedarf Belgiens an Soldaten für das stehende Heer ist infolge seiner Neutralität erheblich geringer (etwa die Hälfte) als der "Vorrat" an Soldatenmaterial. So tritt zu dem System der allgemeinen Wehrpflicht das System der Auslosung und schließlich das besonders tief in den Charakter der Armee einschneidende System des Loskaufs, der Stellvertretung. Naturgemäß sind nur die Wohlhabenden imstande, Ersatzmänner zu stellen, und ebenso naturgemäß machen sie davon ausgiebigsten Gebrauch. Wenn dieses früher viel verbreitete System der Ersatzgestellung zunächst politisch nicht besonders bedeutungsvoll sein mochte, so hat es in dem stark proletarisierten Belgien mit seinem sehr großen Prozentsatz von Arbeitern unter den Wehrpflichtigen und Ausgelosten zu einem für die herrschende Klasse äußerst bedenklichen Ergebnis geführt. Die durch und durch proletarisierte Armee unterlag, soweit sie nicht schon an und für sich aus klassenbewußten und zu allem entschlossenen Proletariern bestand, der antimilitaristischen Propaganda so rapide, daß sie seit Jahren als Waffe der herrschenden Klasse gegen den inneren Feind kaum mehr in Betracht kommt und nicht mehr angewandt wird. Man wußte sich aber wohl zu helfen. Es bestand seit altersher die Einrichtung der sogenannten Bürgergarde. Zur Bürgergarde gehören diejenigen, die eine gute Nummer gezogen, und diejenigen, die sich losgekauft haben, aber nur insoweit, als sie sich Uniform und Waffe selbst anschaffen können, eine Bedingung (eine Art Zensus), durch die die ärmere Bevölkerung von ihr nahezu ausgeschlossen ist. Sie war früher nichts als eine große Maskerade, ihre Mitglieder waren meist liberal und die Organisation demokratisch. Die Bürgergardisten hatten ihre Waffen zu Haus, wählten ihre Offiziere selbst usw. Mit der zunehmenden Unzuverlässigkeit des stehenden Heeres begann hier ein Wandel. Die Verwaltung und Leitung der Bürgergarde wurde aus den Händen der Gemeinden in die Hände der Regierung gelegt, die demokratischen Einrichtungen wurden aufgehoben, die Waffen den einzelnen weggenommen und in die Lagerhäuser der Militärverwaltung verschlossen. Ein ziemlich strammer Militärdienst wurde eingeführt und die Ausbildung der Bürgergardisten den schlimmsten der früheren Offiziere des stehenden Heeres übertragen. Die Altersklasse von 20 bis 30 Jahren hat nicht weniger als dreimal in der Woche abends und alle 14 Tage einen halben Sonntag zu üben; und wenn früher in bezug auf die Teilnahme an diesen Übungen ein an unsre "Stadtsoldaten von Anno dazumal" erinnernder Schlendrian herrschte, so wird jetzt immer schärfer kontrolliert und die Pünktlichkeit durch Strafen erzwungen. Bemerkenswert ist, daß diese Neuorganisation der Bürgergarde nur in Gemeinden von über 20 000 Einwohnern stattgefunden hat, während im übrigen die Bürgergarde ein lächerlicher Schatten geblieben ist. Auch diese Tatsache brennt der Bürgergarde ihre Zweckbestimmung auf die Stirn, eine besondere Schutztruppe der Regierung zu sein im Kampfe gegen den "inneren Feind". Das stehende Heer beziffert sich nach dem Bestand von 1905, ausschließlich der Gendarmerie, auf rund 46 000 Mann, die aktive Bürgergarde auf rund 44 000 Mann, also fast genau ebenso hoch!
So besitzt Belgien eine Armee gegen den äußeren und eine besondere Armee gegen den inneren Feind, eine höchst raffinierte Einrichtung, die, wie die Verwendung der Bürgergarde bei den letzten Wahlrechtskämpfen und Streiks erweist, dem Kapitalistenregime Belgiens gute Dienste geleistet hat und weiter leisten wird.
Hinzu kommt für Belgien noch die Gendarmerie, die im Kriege wie bei Streiks und Unruhen einfach militärische Verwendung findet. Sie ist sehr zahlreich und über das ganze Land verstreut, von großer Beweglichkeit, kann jederzeit konzentriert, disloziert und mobilisiert werden; sie hat in Tervueren bei Brüssel für ihre fliegende Brigade eine allgemeine Kaserne und schwärmt bei Streiks und dergleichen über das ganze Land wie ein Wespenschwarm aus. Sie besteht meist aus alten Unteroffizieren, ist vorzüglich bewaffnet und gut bezahlt, kurz: Elitetruppe. Während die Bürgergarde für ihre Aufgabe im Klassenkampf einfach dadurch wie geschaffen ist, daß sie nichts andres darstellt als eine spezielle militärische Mobilisierung des kapitalistischen Bürgertums selbst, das sich seiner Interessen wohl bewußt ist, spielen die in der Gendarmerie organisierten "Hofhunde des Kapitals" ihre Rolle vorläufig noch nicht minder gut nach dem Rezept: "Wes Brot ich esse, des Lied ich singe."
Japan, das etwa auf derselben kapitalistisch-feudalen Kulturstufe steht wie Deutschland, ist in den letzten Jahren trotz seiner insularen, England ähnlichen Lage, und zwar infolge der Spannung seiner auswärtigen Situation, auch in militaristischer Beziehung zu einem wahren Gegenstück Deutschlands geworden, abgesehen nur etwa von der kriegsmäßigeren Ausbildung seiner Truppen.
Aus alledem folgt, daß sich der Umfang und der besondere organisatorische Charakter der Armee wesentlich nach der internationalen Lage, nach der Funktion der Armee gegen den äußeren Feind richtet. Die internationale Spannung, die heute in der Regel eine sehr hohe ist und - selbst in den noch nicht kapitalistischen Staaten schon wegen der Konkurrenz mit und zum Schutze gegenüber den kapitalistischen Staaten - zur Ausnutzung aller waffenfähigen Bürger sowie zur schroffsten Organisationsform, dem stehenden Heer der allgemeinen Wehrpflicht, drängt, kann durch natürliche Ursachen, wie zum Beispiel die insulare Lage Englands und - im Verhältnis zu den übrigen Großstaaten - auch der Vereinigten Staaten von Amerika, und durch künstlich-politische Ursachen, wie zum Beispiel die Neutralerklärung der Schweiz und der Niederlande, eine sehr beträchtliche Abschwächung erfahren.
Dagegen ist die Funktion des "Militarismus nach innen", gegenüber dem inneren Feind, als Werkzeug im Klassenkampf eine stets notwendige Begleiterscheinung der kapitalistischen Entwicklung, wie denn selbst Gaston Moch "die Wiederherstellung der Ordnung" als "legitime Funktion einer Volksarmee" bezeichnet. Und wenn der Militarismus in dieser seiner Funktion dennoch sehr verschiedene Formen aufweist, so erklärt sich das einfach dadurch, daß dieser Zweck bisher ein mehr nationaler, seine Erfüllung nicht so sehr durch internationale Konkurrenz geregelt ist, daß er in sehr verschiedener Art erreicht werden und daher viel mehr nationale Eigentümlichkeiten ertragen kann. Übrigens werden auch England und Amerika (wo zum Beispiel von 1896 bis 1906 das stehende Landheer von etwa 27 000 auf etwa 61 000 Mann verstärkt, die Zahl der Marinemannschaften verdoppelt, das Budget des Kriegsdepartements auf das Zweieinhalbfache, das des Marinedepartements auf mehr als das Dreifache gesteigert worden ist und für 1907 von Taft wieder zirka 100 Millionen mehr gefordert werden) immer mehr in die Bahn des europäisch-festländischen Militarismus getrieben, was sicherlich in erster Reihe durch die Veränderung der internationalen Lage und die Bedürfnisse der jingoistisch-imperialistischen Weltpolitik, in zweiter Reihe aber unverkennbar durch die Veränderung der inneren Spannung, die Steigerung der Klassenkampfgefahr veranlaßt ist. Die militaristischen Anwandlungen des englischen Kriegsministers Haldane aus dem September 1906 stehen schwerlich nur in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem energischen selbständigen Auftreten der englischen Arbeiterschaft auf der politischen Bühne. (1) Die Neigung zur Einführung einer allgemeinen Wehrhaftmachung nach Schweizer Muster, die in England trotz der für sie inszenierten gewichtigen Agitation vorläufig noch zurückgedrängt ist, für die Vereinigten Staaten aber in der Botschaft Roosevelts vom 4. Dezember 1906 bedeutsamen Ausdruck gefunden hat, ist kein Symptom des Fortschritts. Sie heißt trotz alledem eine Verstärkung des Militarismus im Vergleich zum gegenwärtigen Zustand, und sie liegt immerhin auf der abschüssigen Bahn zum stehenden Heer, das lehrt gerade die Schweiz.
Unverkennbar besitzt der Militarismus mit Rücksicht auf die große Mannigfaltigkeit der Kombinationen zwischen den Faktoren, die Maß und Art der besonderen Bedürfnisse eines Schutzes nach außen und nach innen bestimmen, eine beträchtliche Vielgestaltigkeit und Wandlungsfähigkeit, die sich am ausgeprägtesten im Heerwesen zeigt. Diese Wandlungsfähigkeit bewegt sich aber allenthalben innerhalb der Grenzen, die jene dem Militarismus unbedingt wesentliche Zweckbestimmung einer kapitalistischen Schutzwehr setzt. Die Entwicklung kann hier dennoch zeitweilig geradezu divergieren. Während zum Beispiel Frankreich unter Picquart ernstlich an eine energische Abkürzung der Übungszeit der Reserve- und Territorialtruppen (1), an die Reform des "Biribi" und die Abschaffung der militärischen Sondergerichtsbarkeit (2) geht, quittierte im Herbst 1906 der Präsident des deutschen Reichsmilitärgerichts, von Massow, seinen Dienst, weil die militärische Kommandogewalt (das preußische Kriegsministerium) durch Gesetzesinterpretationen formell und ohne Umschweife in die Unabhängigkeit der Militärgerichte eingreift (Rundschreiben vom Frühjahr 1905), eine Unabhängigkeit, die freilich schon durch die Maßregelung der Richter des Bilse-Prozesses eine eigenartige Kommentierung erfahren hatte. Diese "französischen Zugeständnisse" sind fast ausschließlich dem Antiklerikalismus zu verdanken: Der Klerikalismus hat eine wichtige Stütze in der Armee; die Regierung bedarf des Proletariats im "Kulturkampf". Diese Kombination ist natürlich weder ewig, noch auch aus einer wesentlichen, dauernden Entwicklungstendenz entsprossen; sie beruht auf einer ihrem Wesen nach vorübergehenden Konstellation und geht mit energischer Befehdung des Antimilitarismus, wie gezeigt, Hand in Hand.
2 Vgl. besonders Unterstaatssekretär Chéron in der Kammerverhandlung vom 10. Dezember 1906 und "L'Humanité" vom 11. Dezember 1906. Dazu die Fußnote im Abschnitt "Soldatenerziehung" des vorliegenden Dokuments.
Interessant ist von diesen Gesichtspunkten aus Rußland, dem die hochgradige Spannung seiner außenpolitischen Lage die allgemeine Wehrpflicht aufgezwungen hat und das sich als asiatisch-despotischer Staat einer inneren Spannung ohnegleichen gegenübersieht. Der innere Feind des Zarismus ist nicht nur das Proletariat, sondern außerdem die gewaltige Masse der Bauernschaft und des Bürgertums, ja selbst ein großer Teil des Adels. Neunundneunzig Prozent der russischen Soldaten sind ihrer Klassenlage nach dem zarischen Despotismus erzfeind. Niedere Bildung, nationale und religiöse Gegensätze, auch wirtschaftliche und soziale Interessenwidersprüche, ferner mehr oder weniger sanfter Druck durch den weitverzweigten bürokratischen Apparat sowie die ungünstige örtliche Gliederung, das ungenügend ausgebildete Verkehrswesen und anderes hemmen die Ausbildung des Klassenbewußtseins aufs äußerste. Durch ein mit allen Hunden gehetztes System der Elitetruppen, zum Beispiel der Gendarmerie und vor allem der Kosaken, die durch gute Bezahlung und anderweitige materielle Versorgung, durch weitgehende politische Privilegien, durch Einrichtung der halbsozialistischen Kosakengemeinwesen geradewegs zu einer besonderen gesellschaftlichen Klasse gestaltet und so an das herrschende Regime künstlich gefesselt sind, sucht sich der Zarismus gegenüber der Gärung, die bis tief in die Reihen der Armee gedrungen ist, eine genügende Zahl von Getreuen zu sichern. Und zu alledem, zu diesen "Hofhunden des Zarismus", treten noch hinzu die Tscherkessen (1) und sonstigen im Reich der Knute wohnenden Barbarenvölker, die unter anderen in der Ostseeprovinz-Konterrevolution wie Wolfsrudel über das Land losgelassen wurden, und alle übrigen bewaffneten Kostgänger des Zarismus, deren Zahl Legion ist, die Polizei und ihre Helfershelfer sowie - die Hooligans, die schwarzen Banden.
Aber wenn schon in den bürgerlich-kapitalistischen Staaten die Armee der allgemeinen Wehrpflicht als Waffe gegen das Proletariat ein krasser, zugleich furchtbarer und bizarrer Widerspruch in sich selbst ist, so ist das Heer der allgemeinen Wehrpflicht unter dem zarisch-despotischen Regierungssystem eine Waffe, die sich notwendig mehr und mehr mit niederschmetternder Wucht gegen den zarischen Despotismus selbst wenden muß, woraus sich gleichzeitig ergibt, daß die Erfahrungen auf dem Gebiete der antimilitaristischen Entwicklung in Rußland nur mit großer Vorsicht für die bürgerlich-kapitalistischen Staaten zu verwenden sind. Und wenn die Bemühungen der herrschenden Klassen des Kapitalismus in den bürgerlich-kapitalistischen Staaten, das Volk zum Kampfe gegen sich selbst zu kaufen, und zwar noch gar zu einem großen Teil mit den dem Volke selbst zu diesem Zwecke abgenommenen Geldmitteln, schließlich zum Scheitern verurteilt sind, so sehen wir vor unsern Augen bereits, wie die verzweifelten und jämmerlichen Versuche des Zarismus, die Revolution gewissermaßen durch Bestechung zu kaufen, in der Misere der russischen Finanzwirtschaft ein schnelles und klägliches Fiasko erleiden, und zwar trotz aller Rettungsaktionen des skrupellosen internationalen Börsenkapitals. Gewiß, die Anleihefrage ist eine wichtige Frage, mindestens für das Tempo der Revolution; aber sowenig Revolutionen gemacht werden können, sowenig oder noch weniger können sie gekauft werden (1), nicht einmal mit den Mitteln des Großkapitals der Welt.
Kapitel 1 |