Kapitel 4 |
Das Kommunistische Manifest, dieses prophetischste Werk der Weltliteratur, befaßt sich mit dem Militarismus entsprechend seiner akzessorischen Bedeutung nicht ausdrücklich. Allerdings spricht es von den Emeuten, in die "der proletarische Kampf stellenweise ausbricht", und deutet damit die Rolle des kapitalistischen Militarismus gegenüber dem Befreiungskampf des Proletariats im Kern an. Ausführlicher erörtert es die Frage der internationalen oder besser interstaatlichen bewaffneten Konflikte und die kapitalistische Ausdehnungspolitik (Kolonialpolitik eingeschlossen). Die letztere wird als eine notwendige Folge der kapitalistischen Entwicklung betrachtet; es wird vorausgesagt, daß die nationalen Absonderungen und Gegensätze schon unter der Herrschaft der Bourgeoisie mehr und mehr verschwinden und die Herrschaft des Proletariats sie noch weiter verringern werde. In dem Programm der ersten Maßregeln unter der Diktatur des Proletariats findet sich über den Militarismus, man möchte fast sagen, konsequenterweise, nichts. Die hier bereits als vollzogen unterstellte Eroberung der politischen Macht umfaßt die "Eroberung", das heißt die Niederringung des Militarismus.
Spezielle Erörterungen über den Militarismus setzen aber sofort auf den Kongressen der Internationale ein. Diese Erörterungen erstrecken sich jedoch ausschließlich auf den "Militarismus nach außen", auf die Stellung zum Kriege. Der Lausanner Kongreß vom Jahre 1867 hatte auf seiner Tagesordnung den Punkt: "Der Genfer Friedenskongreß vom Jahre 1868". Es wurde ein Zusammenarbeiten mit dem Friedenskongreß unter der damals weder naiven noch ironischen Voraussetzung beschlossen, daß dieser das Programm der Internationale annehmen werde. Der Krieg wurde als eine Folge des Klassenkampfes bezeichnet.
Auf dem dritten Kongreß der Internationale, dem Brüsseler, von 1868, fand eine von Longuet im Namen einer Kommission vorgeschlagene Resolution einstimmig Annahme, in der als hauptsächliche und dauernde Kriegsursache der Mangel an wirtschaftlichem Gleichgewicht bezeichnet und betont wird, daß nur durch eine gesellschaftliche Reform Wandel geschaffen werden könne. Indessen wird den Arbeiterorganisationen die Macht beigemessen, durch Agitation und Aufklärung der Völker zur Verminderung der Kriege beizutragen, und eine dahin zielende unermüdliche Arbeit zur Pflicht gemacht. Für den Fall eines Krieges wird die allgemeine Arbeitsniederlegung empfohlen, wobei der Kongreß seine Überzeugung ausspricht, daß die internationale Solidarität der Arbeiterschaft aller Länder stark genug sei, ihre Hilfe in diesem Krieg der Völker gegen den Krieg zu sichern.
Nun zur "neuen Internationale"!
Die einschlägige Reaktion des Pariser Kongresses von 1889 verdient das höchste Interesse. Sie befaßt sich mit den stehenden Heeren, die sie als die "Verneinung jedes demokratischen und republikanischen Regimes", als den "militärischen Ausdruck des monarchischen oder oligarchisch-kapitalistischen Regimes", als ein "Werkzeug für reaktionäre Staatsstreiche und soziale Unterdrückungen" brandmarkt. Sie charakterisiert sie zusammen mit der offensiven Politik, deren Organ sie seien, als Folge und Ursache des Systems der Angriffskriege und der dauernden Gefahr internationaler Konflikte und verwirft sie auch militärisch-technisch sowie wegen ihrer unmittelbaren desorganisatorischen, demoralisierenden, jedem Kulturfortschritt feindlichen Eigenschaften und schließlich wegen der unerträglichen materiellen Lasten, die sie den Völkern auferlegen. Sie verlangt Beseitigung der stehenden Heere und Einführung der allgemeinen Volksbewaffnung, während der Krieg selbst als eine unvermeidliche Folge des Kapitalismus angesehen wird.
Diese Resolution ist in der Charakteristik des Militarismus die erschöpfendste von allen bisher gefaßten.
Die Vorgänge vom Brüsseler Kongreß (1891) waren bedeutsam. Hier kam ausschließlich die Kriegsfrage, der internationale Militarismus, zur Verhandlung. Die Resolution Nieuwenhuis', die den Krieg als das Resultat des internationalen Willens des Kapitalismus und als ein Mittel bezeichnete, die Macht der revolutionären Bewegung zu brechen, und die den Sozialisten aller Länder zur Pflicht machte, jeden Krieg mit dem Generalstreik zu beantworten, wurde abgelehnt. Annahme fand eine Resolution Vaillant-Liebknecht, die den Militarismus als notwendige Konsequenz des Kapitalismus und den Völkerfrieden als ein ausschließlich durch Herstellung der internationalen sozialistischen Gesellschaftsordnung erreichbares Ziel ansieht und die Arbeiterschaft aufruft, durch unermüdliche Agitation gegen die Barbarei des Krieges und die sie begünstigenden Allianzen zu protestieren und durch Ausbildung der internationalen Organisationen des Proletariats den Triumph des Sozialismus zu beschleunigen: Diese Kampfmethode wird als die einzig zur Beschwörung der Weltkriegskatastrophe geeignete proklamiert.
Der Züricher Kongreß von 1893 bestätigte die Brüsseler Resolution und nannte als Kampfmittel gegen den Militarismus: Verweigerung der Militärkredite, unablässigen Protest gegen die stehenden Heere, unermüdliche Agitation für die Abrüstung, Unterstützung aller Vereinigungen, die den Weltfrieden erstreben.
Der Londoner Kongreß von 1896 erörterte wiederum beide Seiten des Militarismus. Als Hauptkriegsursache kennzeichnete er die wirtschaftlichen Gegensätze, in die die herrschenden Klassen der verschiedenen Länder durch die kapitalistische Produktionsweise zueinander gedrängt werden (1); die Kriege sind ihm Aktionen der herrschenden Klassen in ihrem Interesse und auf Kosten der Arbeiterschaft; der Kampf gegen die militärische Unterdrückung wird der Arbeiterklasse als ein Teil des Kampfes gegen die Ausbeutung zur Pflicht gemacht; die Eroberung der politischen Macht zur Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise und zu dem Zwecke, den Regierungen die Machtmittel der kapitalistischen Klasse, die Werkzeuge zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, aus den Händen zu entwinden (2), wird als Ziel gesetzt. Die stehenden Heere steigern nach ihm die Kriegsgefahr und dienen der brutalen Unterdrückung der Arbeiterschaft. Die nächsten Forderungen sind wiederum: Beseitigung der stehenden Heere und Einführung der Volksbewaffnung, daneben aber internationale Schiedsgerichte und Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk. Die Arbeiterschaft vermag indessen, so schließt die Resolution, auch hier ihr Ziel nur zu erreichen, wenn sie einen entscheidenden Einfluß auf die Gesetzgebung gewonnen und sich zum internationalen Sozialismus zusammengeschlossen hat.
2 Das letztere ist nicht eigentlich der Zweck der Eroberung der politischen Macht, sondern das Wesen dieser Eroberung selbst; die organisatorische Sicherung des Eroberten in den Händen des Proletariats freilich gehört zu den Aufgaben der Diktatur des Proletariats.
Der Pariser Kongreß von 1900 sprach sich in einer ausführlichen Resolution über die koloniale Ausdehnungspolitik des Kapitalismus und die in ihr beruhenden internationalen Konfliktsmöglichkeiten aus, verurteilte sodann in einigen besonders barbarischen Beispielen die Politik der nationalen Unterdrückung und beschäftigte sich in spezieller Weise mit dem Kampf gegen den Militarismus. Die letzte Resolution bezieht sich auf die Beschlüsse von 1889, 1891, 1896, weist auf die internationalen und nationalen Gefahren der imperialistischen Weltpolitik hin, fordert das Proletariat zu verdoppelt energischem internationalem Kampf gegen den Militarismus und die Weltpolitik auf und schlägt als praktische Mittel hierfür vor: internationale Protestbewegungen, Verweigerung aller Militär-, Marine- und kolonialen Ausgaben und "die Erziehung und Organisation der Jugend zum Zwecke der Bekämpfung des Militarismus".
Eine Übersicht über diese Beschlüsse zeigt eine ständige Zunahme der praktisch politischen Einsicht in den auswärtigen Militarismus, eine immer mehr vertiefte und spezialisierte Erkenntnis der Kriegsursachen und Kriegsgefahren, aber auch der Bedeutung des "Militarismus nach innen". Was indessen die Mittel zur Bekämpfung des Militarismus anbelangt, so ist zwar der 1868 sicher bei weitem verfrüht gewesene Gedanke des Generalstreiks gegen den Krieg ebenso wie der des Soldatenstreiks, als eines regelmäßigen Mittels gegen den Krieg von allen späteren Kongressen verworfen, und zwar in den gegebenen Situationen mit Recht. Die anerkannten Kampfmittel indessen weisen nur geringe Fortschritte auf. Die Verweigerung der militärischen Ausgaben ist die einzige ebenso selbstverständliche wie in ihrer unmittelbaren Wirkung ohnmächtige direkte politische Machtentfaltung gegen den Militarismus, die dem Proletariat empfohlen wird. Alle andern Vorschläge bewegen sich auf dem Gebiete der Propaganda für Änderungen der Rechtslage und für künftige Aktionen, das heißt freilich - wie an anderer Stelle gezeigt - auf dem einzigen, dem Proletariat hier vorläufig meistens offenstehenden Gebiete; und auch die Verweigerung der Militärkredite wird man sich für die Regel nur als Propagandamittel dieser Art zu denken haben.
Die Hauptschwierigkeit der Frage liegt vorläufig, vor allem in Deutschland, in der Bestimmung von Art und Form der antimilitaristischen Propaganda. Daß sie dennoch in den Kongreßbeschlüssen nicht eingehender fixiert sind, hat seine Ursache in der verschiedenen äußeren und inneren Situation der einzelnen Länder und mag aus diesem Gesichtspunkt zweckmäßig, sogar notwendig erscheinen. Doch läßt sich nicht verkennen, daß die Tendenz der Beschlüsse dahin geht, ein immer verstärktes Gewicht auf die antimilitaristische Propaganda zu legen und diese Propaganda zu spezialisieren. Das zeigt der Pariser Beschluß auf das allerdeutlichste. Darin spiegelt sich zugleich das vermehrte Selbstbewußtsein des internationalen Proletariats wie auch die wachsende Überzeugung, schon innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch Entfaltung der klassenbewußten proletarischen Macht Teilerfolge gegenüber dem auswärtigen und dem inneren Militarismus zu erzielen.
Zum Schluß sei jenes Rundschreiben registriert, das das Internationale Sozialistische Büro im November 1905 auf Anregung der französischen Sektion der Internationale aus Anlaß des Marokkokonfliktes erließ. Es macht für die Antikriegsaktion selbst keine positiven Vorschläge, sondern fordert nur das Selbstverständliche und Elementarste, daß sich bei Kriegsgefahr die in dem Büro zusammengeschlossenen Parteien stets unverzüglich zur Beratung und Votierung der zur Vermeidung und Verhinderung des Krieges geeigneten Mittel in Verbindung zu setzen haben.
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