Unser Kampf | | | 9. Kapitel | | | Inhalt | | | 11. Kapitel | | | Rosa Luxemburg |
Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Die Akkumulation des Kapitals«, S. 138-155.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|138| Die ersten starken Zweifel an der Gottähnlichkeit der kapitalistischen Ordnung stiegen in der bürgerlichen Nationalökonomie unter dem unmittelbaren Eindruck der ersten Krisen in England im Jahre 1815 und 1818/19 auf. Noch waren die Umstände, die zu diesen Krisen geführt hatten, eigentlich äußerer, scheinbar zufälliger Natur. Zum Teil war dies die Napoleonische Kontinentalsperre, die England künstlich von seinen europäischen Absatzmärkten für eine Zeitlang abgeschnitten und inzwischen in kurzer Zeit eine bedeutende Entwicklung der eigenen Industrie auf einigen Gebieten in den kontinentalen Staaten begünstigt hatte; zum Teil war es die materielle Erschöpfung des Kontinents durch die lange Kriegsperiode, was nach der Aufhebung der Kontinentalsperre den erwarteten Absatz für englische Produkte verringerte. Diese ersten Krisen genügten jedoch, um den Zeitgenossen die Kehrseite der Medaille der besten aller Gesellschaftsformen in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit vor die Augen zu führen. Überfüllte Märkte, Magazine voll Waren, die keine Abnehmer fanden, zahlreiche Bankrotte, andererseits ein schreiendes Elend der Arbeitermassen - alles das stieg zum erstenmal vor den Augen der Theoretiker auf, die in allen Tonarten die harmonischen Schönheiten des bürgerlichen laissez faire gepriesen und verkündet hatten. Alle zeitgenössischen Handelsnachrichten, Zeitschriften, Erzählungen der Reisen- |139| den berichteten über Verluste der englischen Warenhändler. In Italien, Deutschland, Rußland, in Brasilien schlugen die Engländer ihre Warenvorräte einem Verlust von 1/4 bis 3/4 los. 1818 beklagte man sich am Kap der Guten Hoffnung, daß alle Läden mit europäischen Waren angefüllt waren, die man zu niedrigeren Preisen als in Europa anbot, ohne sie loswerden zu können. Aus Kalkutta ertönten ähnliche Klagen. Ganze Warenladungen kamen aus Neuholland |Australien| nach England zurück. In den Vereinigten Staaten gab es nach dem Reisebericht eines Zeitgenossen »von einem Ende dieses ungeheuren und so wohlhabenden Festlandes bis zum anderen keine Stadt, keinen Marktflecken, in dem die Menge der zum Verkaufe ausliegenden Waren die Mittel der Käufer nicht bedeutend überstiege, obgleich die Verkäufer sich bemühten, durch sehr lange Kredite und zahlreiche Arten von Zahlungserleichterungen, durch Abzahlungen und Annahme von Waren an Zahlungs Statt die Kunden anzulocken«.
Gleichzeitig ertönte in England der Verzweiflungsschrei der Arbeiter. In der »Edinburgh Review« vom Mai 1820 ist die Adresse der Strumpfwirker von Nottingham angeführt, die folgende Worte enthält: »Bei einer vierzehn- bis sechzehnstündigen täglichen Arbeit verdienen wir nur vier bis sieben Schilling die Woche, von welchem Verdienst wir unsere Frauen und Kinder ernähren müssen. Wir stellen ferner fest, daß, trotzdem wir Brot und Wasser oder Kartoffeln mit Salz an Stelle der gesünderen Nahrung haben setzen müssen, welche ehemals stets reichlich auf den englischen Tischen zu sehen war, wir nach der ermüdenden Arbeit eines ganzen Tages häufig gezwungen gewesen sind, unsere Kinder hungrig zu Bett zu schicken um ihr Schreien nach Brot nicht zu hören. Wir erklären auf das feierlichste, daß wir während der letzten achtzehn Monate kaum je das Gefühl der Sättigung gehabt haben.«(1)
|140| Fast gleichzeitig erhoben dann ihre Stimme zu einer wuchtigen Anklage gegen die kapitalistische Gesellschaft Owen in England und Sismondi in Frankreich. Während Owen jedoch, als praktischer Engländer und als Bürger des ersten Industriestaates, sich zum Wortführer einer großzügigen sozialen Reform machte, verlief sich der schweizerische Kleinbürger in breite Anklagen gegen die Unvollkommenheiten der bestehenden Gesellschaftsordnung und gegen die klassische Ökonomie. Doch dadurch gerade hat Sismondi der bürgerlichen Ökonomie viel härtere Nüsse zu knacken gegeben als Owen, dessen fruchtbare praktische Wirksamkeit sich direkt an das Proletariat wendete.
Daß es England und namentlich die erste englische Krise war, wovon Sismondi zu seiner sozialen Kritik Anstoß erhielt, schildert er uns selbst ausführlich in der Vorrede zur 2. Auflage seiner »Nouveaux principes d'économie politique ou de la richesse dans ses rapports avec la population«. (Die erste Auflage ist 1819, die zweite acht Jahre später erschienen.)
»In England war es, wo ich diese Aufgabe gelöst habe. England hat die berühmtesten Volkswirte hervorgebracht. Ihre Lehren werden dort heute noch mit einer verdoppelten Wärme vorgetragen ... Der allgemeine Wettbewerb oder der Wunsch, immer mehr zu produzieren und zu immer billigerem Preise, ist seit langer Zeit das in England maßgebende System. Ich habe dieses System als gefährlich angegriffen, dies System, das Englands Industrie die ungeheuerlichsten Fortschritte hat machen lassen, aber das in seinem Verlauf die Arbeiter in ein erschreckendes Elend gestürzt hat. Neben diese Zuckungen des Reichtums habe ich geglaubt mich stellen zu sollen, um meine Ausführungen noch einmal zu überlegen und sie mit den Tatsachen zu vergleichen.
Das Studium Englands hat mich in meinen 'neuen Grundsätzen' befestigt. In diesem überraschenden Lande, das eine große Erfahrung zur Belehrung der übrigen Welt in sich zu bergen scheint, habe ich die Produktion zunehmen und die Genüsse abnehmen sehen. Die Masse der Bevölkerung scheint dort ebenso wie die Philosophen zu vergessen, daß das Anwachsen der Reichtümer nicht der Zweck der politischen Ökonomie ist, sondern das Mittel, dessen sie sich bedient, um das Glück aller zu fördern. Ich habe dieses Glück in allen Klassen gesucht, es aber nirgends finden können. Tatsächlich ist die hohe englische Aristokratie bei einem Grad des Reichtums und des Luxus angelangt, der alles übersteigt, was man bei allen übrigen Völkern zu sehen bekommt. Indessen erfreut sie sich selbst nicht der Fülle, die sie auf Kosten der anderen Klassen erworben zu haben scheint; es mangelt ihr die Sicherheit: Entbehrung macht sich in jeder |141| Familie noch mehr bemerkbar als der Überfluß ... Unter dieser betitelten und nicht betitelten Aristokratie nimmt der Handel eine hervorragende Stellung ein, seine Unternehmungen umfassen die ganze Welt, seine Angestellten bieten dem Polareise und der Hitze des Äquators Trotz, während jeder der Chefs, die sich auf der Börse versammeln, über Millionen gebietet. Zu gleicher Zeit stellen in allen Straßen Londons sowie in denen der anderen großen Städte Englands die Läden Waren zur Schau, die dem Verbrauch des Weltalls genügen würden. Bringt aber der Reichtum dem englischen Händler die Art von Glück, die er zu gewähren imstande ist? Nein, in keinem Lande sind die Bankrotte so häufig. Nirgends werden diese ungeheuren Vermögen, von denen jedes für eine öffentliche Anleihe zur Erhaltung eines Reiches oder einer Republik ausreichen würde, mit solcher Schnelligkeit in alle Winde zerstreut. Alle beklagen sich, daß die Geschäfte nicht ausreichend, daß sie schwierig und wenig einträglich sind. Vor wenigen Jahren haben zwei schreckliche Krisen einen Teil der Bankiers zugrunde gerichtet, und die Verheerung hat sich auf alle englischen Manufakturen erstreckt. Zu gleicher Zeit hat eine andere Krise die Pächter zugrunde gerichtet und hat ihre Rückwirkung den Kleinhandel fühlen lassen. Andererseits ist dieser Handel trotz seiner ungeheuren Ausdehnung nicht imstande, jungen Leuten einen Platz zu bieten; alle Stellen sind besetzt, und in den oberen Schichten der Gesellschaft wie in den niederen bietet der größre Teil vergebens seine Arbeit an, ohne einen Lohn erhalten zu können.
Hat dieser nationale Wohlstand, dessen materielle Fortschritte alle Augen blenden, hat dieser endlich zum Vorteil der Armen gedient? Nichts weniger als das. In England hat das Volk ebensowenig Behaglichkeit in der Gegenwart wie die Sicherung für die Zukunft. Keine Bauern gibt es mehr auf dem Lande; man hat sie gezwungen, Taglöhnern Platz zu machen; fast keine Handwerker mehr in den Städten oder unabhängige Kleinindustrielle, sondern nur Fabrikarbeiter. Der Industrielle (soll heißen Lohnarbeiter - R. L.), um ein Wort anzuwenden, das dieses System selbst aufgebracht hat, weiß nicht mehr, was es heißt, einen Beruf zu haben, er erhält einfach Lohn, und da dieser Lohn ihm nicht gleichmäßig zu allen Zeiten genügen kann ist er fast in jedem Jahr gezwungen, von der Börse der Armen ein Almosen zu erbitten.
Diese reiche Nation hat es für vorteilhafter befunden, alles Gold und Silber, das sie besaß, zu verkaufen, zu Anweisungen überzugehen und ihren ganzen Umlauf mittels Papier zu bewirken. Sie hat sich so freiwillig des bedeutendsten Vorteils des Zahlmittels beraubt, der Beständigkeit des |142| Preises; die Inhaber von Anweisungen auf Provinzialbanken laufen täglich Gefahr, durch häufige und gewissermaßen epidemisch auftretende Bankrotte der Bankiers zugrunde gerichtet zu werden, und der ganze Staat ist in allen seinen Vermögensbeziehungen den größten Zuckungen ausgesetzt, wenn ein feindlicher Einfall oder eine Revolution den Kredit der Nationalbank erschüttert. Die englische Nation hat es für sparsamer befunden, auf die Bodenbestellungsarten zu verzichten, die viel Handarbeit erfordern, und hat die Hälfte der Landbebauer, die seine Felder bewohnten, verabschiedet ebenso wie die Handwerker in den Städten; die Weber machen Platz den 'power looms' (Dampfwebstuhl) und erliegen heute dem Hunger; sie hat es für sparsamer befunden, alle Arbeiter auf den niedrigsten Lohn zu setzen, mit dem sie leben können, so daß die Arbeiter, die nur noch Proletarier sind, keine Furcht hegen, sich in ein noch tieferes Elend zu stützen, wenn sie immer zahlreichere Familien aufziehen; sie hat es für sparsamer befunden, die Irländer nur mit Kartoffeln zu nähren und ihnen nur Lumpen zur Kleidung zu geben, und so bringt jedes Schiff täglich Legionen Irländer, die zu billigerem Preise arbeiten als die Engländer und diese aus allen Gewerben vertreiben. Was sind also die Früchte dieses ungeheuren angehäuften Reichtums? Haben sie eine andere Wirkung gehabt, als die Sorgen, die Entbehrungen, die Gefahr eines vollständigen Untergangs allen Klassen mitzuteilen? Hat England, als es die Menschen über den Dingen vergaß, nicht den Zweck den Mitteln geopfert?« (2)
Man muß gestehen, daß dieser der kapitalistischen Gesellschaft vor bald hundert Jahren vorgehaltene Spiegel an Deutlichkeit wie an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrigläßt. Sismondi legt den Finger in alle wunden Stellen der bürgerlichen Ökonomie: Ruin des Kleingewerbes, Entvölkerung des platten Landes, Proletarisierung der Mittelschichten, Verelendung der Arbeiter, Verdrängung der Arbeiter durch Maschinerie, Arbeitslosigkeit, Gefahren des Kreditsystems, soziale Kontraste, Unsicherheit der Existenz, Krisen, Anarchie. Seine herbe und eindringliche Skepsis fiel namentlich wie ein schriller Mißton in den satten Optimismus der vulgärökonomischen Harmonieduselei, die sich bereits in England wie in Frankreich in den Personen dort MacCullochs, hier J. B. Says breitmachte und die ganze offizielle Wissenschaft beherrschte. Man kann sich leicht vorstellen. welchen tiefen und peinlichen Eindruck Äußerungen machen mußten wie die folgenden:
|143| »Der Luxus ist nur möglich, wenn man ihn mit der Arbeit eines anderen kauft, angestrengte Arbeit ohne Erholung ist nur möglich, wenn man sich nicht leichtfertigen Tand, sondern Lebensbedürfnisse verschaffen will.« (Bd. I, S.60.)
»Obgleich die Erfindung der Maschinen, die die Kräfte des Menschen vervielfacht, eine Wohltat für die Menschen ist, verwandelt die ungerechte Verteilung ihrer Wohltaten sie in Geißeln der Armen.« (Bd. I, S. XXI.)
»Der Profit des Unternehmers ist nichts als ein Raub an dem Arbeiter, er gewinnt nicht, weil sein Unternehmen viel mehr einbringt, als es kostet, sondern weil er nicht bezahlt, was es kostet, weil er dem Arbeiter einen genügenden Entgelt für seine Arbeit nicht gewährt. Eine solche Industrie ist ein gesellschaftliches Übel, sie stößt diejenigen, welche arbeiten, in das äußerste Elend, während sie nur den gewöhnlichen Kapitalprofit dem Leiter zu gewähren vorgibt.« (Bd. I, S. 71.)
»Von denen, die sich in das Nationaleinkommen teilen, erwerben die einen jedes Jahr ein neues Recht auf dasselbe durch eine neue Arbeit, die anderen haben von alters her ein dauerndes Recht durch eine frühere Arbeit erworben, welche die jährliche Arbeit lohnender gemacht hat.« (Bd. I, S.86.)
»Nichts kann verhindern, daß jede neue Erfindung in der angewandten Mechanik nicht die arbeitende Bevölkerung vermindert. Dieser Gefahr ist sie stets ausgesetzt, und die bürgerliche Gesellschaft kennt kein Mittel dagegen.« (Bd. II, S. 258.)
»Ohne Zweifel wird eine Zeit kommen, in der unsere Enkel uns als nicht minder barbarisch ansehen werden, weil wir die arbeitenden Klassen ohne Garantie gelassen haben, wie sie und wir selbst die Nationen als barbarisch ansehen, die diese selben Klassen als Sklaven behandelt haben.« (Bd. II, S. 337.)
Sismondi geht also in seiner Kritik aufs Ganze; er lehnt jede Schönfärberei und jede Ausflucht ab, die etwa die von ihm aufgezeigten Schattenseiten der kapitalistischen Bereicherung bloß als temporäre Schäden einer Übergangsperiode zu entschuldigen suchte, und er schließt seine Untersuchung mit der folgenden Bemerkung gegen Say: »Seit sieben Jahren habe ich diese Krankheit des sozialen Körpers dargelegt, sieben Jahre hat sie nicht aufgehört zuzunehmen. Ich kann in einem so fortgesetzten Leiden nicht nur Unbequemlichkeiten sehen, die stets die Übergänge begleiten, und ich glaube dadurch, daß ich auf den Ursprung des Einkommens zurückgegangen bin, gezeigt zu haben, daß die Übel, unter denen wir |144| leiden, die notwendige Folge der Fehler unserer Organisation sind, die keineswegs nahe daran sind aufzuhören.«(3)
Die Quelle aller Übel sieht Sismondi nämlich in dem Mißverhältnis zwischen der kapitalistischen Produktion und der durch sie bedingten Einkommensverteilung, und hier greift er in das uns interessierende Problem der Akkumulation ein.
Das Leitmotiv seiner Kritik gegenüber der klassischen Ökonomie ist dies: Die kapitalistische Produktion wird ermuntert zur schrankenlosen Erweiterung ohne jede Rücksicht auf die Konsumtion, diese aber ist bemessen durch das Einkommen. »Alle neueren Volkswirte«, sagt er, »haben tatsächlich anerkannt, daß das öffentliche Vermögen, insofern es nur die Zusammensetzung des Privatvermögens ist, durch dieselben Vorgänge wie das jedes Privatmannes entsteht, sich vermehrt, verteilt wird, zugrunde geht. Alle wußten gar wohl, daß bei einem Privatvermögen der Teil, der ganz besonders beachtet werden muß, das Einkommen ist, daß nach dem Einkommen der Verbrauch oder die Ausgabe sich richten muß, wenn man nicht das Kapital zerstören will. Da aber in dem öffentlichen Vermögen aus dem Kapital des einen das Einkommen des anderen wird, waren sie in Verlegenheit zu entscheiden, was Kapital ist und was Einkommen, und haben es deshalb für das einfachste gehalten, das letztere vollständig bei ihren Berechnungen beiseite zu lassen. Durch die Unterlassung der Bestimmung einer so wesentlichen Menge sind Say und Ricardo zu dem Glauben gelangt, daß der Verbrauch eine unbegrenzte Macht sei oder wenigstens daß seine Grenzen lediglich durch die Produktion bestimmt werden, während er doch tatsächlich durch das Einkommen begrenzt wird. Sie haben gemeint, daß jeder produzierte Reichtum stets Verbraucher finde, und sie haben die Produzenten zu dieser Überfüllung der Märkte ermutigt, die heute das Elend der gesitteten Welt ausmacht, anstatt daß sie die Produzenten hätten darauf hinweisen sollen, daß sie nur auf Verbraucher rechnen können, die ein Einkommen haben.«(4)
Sismondi legt seiner Auffassung also eine Lehre vom Einkommen zugrunde. Was ist Einkommen und was Kapital? - dieser Unterscheidung wendet er die größte Aufmerksamkeit zu und nennt sie »die abstrakteste und schwierigste Frage der Volkswirtschaft«. Das IV. Kapitel im Buch II ist dieser Frage gewidmet. Sismondi beginnt die Untersuchung wie üblich mit einer Robinsonade. Für den »Einzelmenschen« war die Unterscheidung zwischen Kapital und Einkommen »noch eine dunkle«, erst in der Gesell- |145| schaft wurde sie »grundstürzend«. Aber auch in der Gesellschaft wird diese Unterscheidung sehr schwierig, nämlich durch die uns bereits bekannte Fabel der bürgerlichen Ökonomie, wonach »das, was für den einen Kapital, für den anderen Einkommen wird« und umgekehrt. Sismondi übernimmt diesen Wirrwarr, den Smith angerichtet und Say zum Dogma und zum legitimen Rechtfertigungsgrund der Gedankenfaulheit und Oberflächlichkeit erhoben hatte, getreulich: »Die Natur des Kapitals und des Einkommens vermengen sich in unserem Geiste fortwährend; wir sehen das, was für den einen Einkommen ist, zum Kapital für den anderen werden und denselben Gegenstand, während er aus einer Hand in die andere geht, nach und nach die verschiedensten Bezeichnungen annehmen, während sein Wert, der sich von dem verzehrten Gegenstande ablöst, eine übersinnliche Menge scheint, welche der eine verausgabt und der andere austauscht, welche bei dem einen mit dem Gegenstand selbst untergeht und sich bei dem anderen wieder erneut und so lange andauert wie der Umlauf.« Nach dieser vielversprechenden Einleitung stürzt er sich in das schwierige Problem und erklärt: Aller Reichtum ist das Produkt der Arbeit. Das Einkommen ist ein Teil des Reichtums, folglich muß es denselben Ursprung haben. Es sei indessen »üblich«, drei Arten des Einkommens anzuerkennen, welche man Rente, Gewinn und Lohn nennt und die drei verschiedenen Quellen entstammen: »... der Erde, dem angesammelten Kapital und der Arbeit.« Was den ersten Satz betrifft, so ist er natürlich schief; unter Reichtum versteht man im gesellschaftlichen Sinne die Summe nützlicher Gegenstände, Gebrauchswerte, diese sind aber nicht bloß Produkte der Arbeit, sondern auch der Natur, die dazu Stoff liefert und die menschliche Arbeit durch ihre Kräfte unterstützt. Das Einkommen hingegen bedeutet einen Wertbegriff, den Umfang der Verfügung des oder der einzelnen über einen Teil des Reichtums oder des gesellschaftlichen Gesamtprodukts. Da Sismondi das gesellschaftliche Einkommen für einen Teil des gesellschaftlichen Reichtums erklärt, könnte man annehmen, er verstehe unter Einkommen der Gesellschaft ihren tatsächlichen jährlichen Konsumtionsfonds. Der übrige nicht konsumierte Teil des Reichtums wäre alsdann das gesellschaftliche Kapital, und wir näherten uns so wenigstens in schwachen Umrissen der gesuchten Unterscheidung von Kapital und Einkommen au gesellschaftlicher Basis. Allein schon im nächsten Augenblick akzeptiert Sismondi die »übliche« Unterscheidung von drei Einkommensarten, deren eine nur aus dem »angesammelten Kapital« stammt, während bei den anderen neben das Kapital noch »die Erde« und »die Arbeit« treten. Der Kapitalbegriff verschwimmt dabei sofort wieder |146| ins Nebelhafte. Doch folgen wir Sismondi weiter. Er bemüht sich, die drei Arten des Einkommens, die eine antagonistische Gesellschaftsbasis verraten, in ihrer Entstehung zu erklären. Ganz richtig nimmt er zum Ausgangspunkt eine gewisse Höhe der Produktivität der Arbeit: »Dank den Fortschritten des Gewerbefleißes und der Wissenschaft, welche dem Menschen alle Naturkräfte unterworfen haben, kann jeder Arbeiter jeden Tag mehr und mehr herstellen, als er zur Verzehrung bedarf.« Nachdem er aber so richtig die Produktivität der Arbeit als die unumgängliche Voraussetzung und die geschichtliche Grundlage der Ausbeutung hervorgehoben hat, gibt er für die tatsächliche Entstehung der Ausbeutung eine typische Erklärung im Sinne der bürgerlichen Ökonomie: »Aber zu der gleichen Zeit, in der seine (des Arbeiters) Arbeit Reichtum schafft, würde der Reichtum, wenn er ihn genießen sollte, ihn wenig geschickt zur Arbeit machen; so bleibt der Reichtum fast nie in der Hand desjenigen, welcher seine Hände zu seinem Lebensunterhzu gebrauchen genötigt ist.« Nachdem er so die Ausbeutung und den Klassengegensatz ganz in Übereinstimmung mit den Ricardianern und Malthusianern zum unentbehrlichen Stachel der Produktion gemacht hat, kommt er auf den wirklichen Grund der Ausbeutung: die Trennung der Arbeitskraft von den Produktionsmitteln..
»Im allgemeinen hat der Arbeiter das Eigentum an dem Grund und Boden nicht festhalten können; der Boden hat indessen eine Produktivkraft, welche die menschliche Arbeit sich begnügt hat nach den Bedürfnissen des Menschen zu regeln. Derjenige, der den Boden besitzt, auf dem die Arbeit sich vollzieht, behält sich als Belohnung für die Vorteile, welche dieser Produktivkraft verdankt werden, einen Teil in den Früchten der Arbeit vor, an deren Erzeugung sein Grund und Boden mitgewirkt hat.« Dies ist die Rente. Weiter:
»Der Arbeiter hat in dem jetzigen Zustande der Zivilisation das Eigentum an einem genügenden Vorrat von Gegenständen der Verzehrung sich nicht bewahren können, deren er während der Ausführung seiner Arbeit bis zu dem Zeitpunkte, zu welchem er einen Käufer für sie findet, bedarf. Er besitzt nicht mehr die Rohstoffe, welche oft von weit her bezogen werden müssen und welche er zur Ausführung seiner Arbeit bedarf. Noch weniger besitzt er die kostbaren Maschinen, welche seine Arbeit erleichtert und unendlich produktiver gemacht haben. Der Reiche, welcher diese Nahrungsmittel, diese Rohstoffe, diese Maschinen besitzt, kann sich selbst der Arbeit enthalten, da er ja in gewissem Sinne Herr der Arbeit dessen ist, dem er die Mittel zur Arbeit liefert. Als Entgelt für die Vorteile, |147| welche er dem Arbeiter zur Verfügung gestellt hat, nimmt er für sich vorweg den größten Teil der Früchte der Arbeit.« Dies ist der Kapitalgewinn. Das, was von dem Reichtum nach der zweimaligen Abschöpfung durch den Grundbesitzer und den Kapitalisten übrigbleibt, ist Arbeitslohn, Einkommen des Arbeiters. Und Sismondi fügt hinzu: »Er verzehrt es, ohne daß es sich erneuert.« Sismondi stellt hier beim Lohn - ebenso wie bei der Rente - das Sich-nicht-wieder-Erneuern als das Merkmal des Einkommens - im Unterschied vom Kapital auf. Dies ist jedoch nur in bezug auf die Rente und den konsumierten Teil des Kapitalgewinns richtig; der als Lohn verzehrte Teil des gesellschaftlichen Produkts hingegen erneuert sich wohl: in der Arbeitskraft des Lohnarbeiters - für ihn selbst als die Ware, die er stets von neuem auf den Markt bringen kann, um von ihrem Verkauf zu leben, und für die Gesellschaft als die sachliche Gestdes variablen Kapitals, die bei der jährlichen Gesamtreproduktion stets wiedererscheinen muß, wenn die Reproduktion nicht ein Defizit erleiden soll.
Doch so weit, so gut. Wir haben bis jetzt nur zwei Tatsachen erfahren: Die Produktivität der Arbeit erlaubt die Ausbeutung der Arbeitenden durch Nichtarbeitende. die Trennung der Arbeitenden von den Produktionsmitteln macht die Ausbeutung der Arbeitenden zur tatsächlichen Grundlage der Teilung des Einkommens. Was jedoch Einkommen, was Kapital ist, wissen wir noch immer nicht, und Sismondi geht daran, es aufzuklären. Wie es Leute gibt, die nur tanzen können, wenn sie von der Ofenecke aus anfangen, so muß Sismondi immer wieder von seinem Robinson den Anlauf nehmen. »In den Augen des Einzelmenschen ... war aller Reichtum nichts anderes als ein Vorrat, aufgesammelt für den Augenblick des Bedürfnisses. Indessen unterschied auch er schon zwei Dinge bei dieser Aufbewahrung; einen Teil, welchen er aufbewahrte, um ihn später für seinen unmittelbaren oder nahezu unmittelbaren Gebrauch zu verwenden, und einen anderen, den er bestimmt hatte zur Verwendung für eine neue Produktion. So sollte ein Teil seines Getreides ihn bis zur künftigen Ernte ernähren, ein anderer Teil, welchen er zur Aussaat bestimmt hatte, sollte im folgenden Jahre Frucht tragen. Die Bildung der Gesellschaft und die Einführung des Tausches gestattete fast bis ins unendliche die Vermehrung dieser Aussaat, dieses fruchtbringenden Teils des angesammelten Reichtums: Dies heißt man Kapital.«
Dies heißt man nur Galimathias. Nach Analogie der Aussaat identifiziert hier Sismondi Produktionsmittel mit Kapital, was in zweifacher Hinsicht falsch ist. Erstens sind die Produktionsmittel nicht an sich, son- |148| dern nur unter ganz bestimmten historischen Verhältnissen Kapital, zweitens ist der Begriff des Kapitals mit Produktionsmitteln nicht erschöpft. In der kapitalistischen Gesellschaft - alles andere, was Sismondi außer acht gelassen, vorausgesetzt - sind Produktionsmittel nur ein Teil des Kapitals, nämlich konstantes Kapital.
Was Sismondi hier aus dem Konzept gebracht hat, ist offenbar der Versuch, den Begriff des Kapitals mit sachlichen Gesichtspunkten der gesellschaftlichen Reproduktion in Zusammenhang zu bringen. Solange er oben den Einzelkapitalisten im Auge hatte, zählte er als Bestandteile des Kapitals neben Produktionsmitteln auch die Lebensmittel des Arbeiters auf - was wiederum vom sachlichen Standpunkte der Reproduktion des Einzelkapitals schief ist. Sobald er dann den Versuch macht, die sachlichen Grundlagen der gesellschaftlichen Reproduktion ins Auge zu fassen und den Anlauf zur richtigen Unterscheidung zwischen Konsummitteln und Produktionsmitteln macht, zerrinnt ihm der Begriff des Kapitals unter den Händen.
Sismondi fühlt aber selbst, daß mit Produktionsmitteln allein weder Produktion noch Ausbeutung vonstatten gehen kann, ja, er hat das richtige Empfinden, daß der Schwerpunkt des Ausbeutungsverhältnisses gerade im Austausch mit der lebendigen Arbeitskraft liegt. Und nachdem er soeben das Kapital ganz auf konstantes Kapital reduziert hatte, reduziert er es im nächsten Augenblick ganz auf variables:
»Der Landbebauer, der alles Getreide zurückgelegt hatte, dessen er bis zur nächsten Ernte zu bedürfen glaubte, sah ein, daß es für ihn vorteilhafter wäre, den Überschuß seines Getreides dazu zu benutzen, um andere Menschen, die für ihn die Erde bearbeiteten und neues Getreide entstehen ließen, zu ernähren; ferner die, welche seinen Flachs spinnen und seine Wolle weben« usw. »Bei dieser Tätigkeit tauschte der Landbebauer einen Teil seines Einkommens gegen Kapital ein (so in der entsetzlichen Übersetzung des Herrn Prager; in Wirklichkeit muß es heißen: verwandelte einen Teil seines Einkommens in Kapital - R. L.), und so ist in der Tat der Vorgang, wie neues Kapital sich bildet.(5) Das Korn, was er geerntet hatte über das hinaus, dessen er bei seiner eigenen Arbeit zur Ernährung bedurfte, und über das hinaus, was er aussäen mußte, um seinen Betrieb auf der alten Höhe zu erhalten, bildete einen Reichtum, welchen er fortgeben, verschwenden, im Müßiggang verbrauchen konnte, ohne da- |149| durch ärmer zu werden, es war ein Einkommen, aber wenn er es nutzte zur Erhaltung von Neues schaffenden Arbeitern oder es eintauschte gegen Arbeit oder gegen die Früchte von Arbeit seiner Handarbeiter, seiner Weber, seiner Bergleute, wurde es zu einem dauernden Werte, der sich vermehrte und nicht untergehen konnte: Es wurde zum Kapital.«
Hier läuft viel Krauses mit Richtigem kunterbunt durcheinander. Zur Erhaltung der Produktion auf alter Höhe, d.h. zur einfachen Reproduktion, scheint noch konstantes Kapital nötig zu sein, wenn dieses konstante Kapital seltsamerweise auch nur auf zirkulierendes (Aussaat) reduziert, die Reproduktion des fixen hingegen ganz vernachlässigt ist. Zur Erweiterung jedoch der Reproduktion, zur Akkumulation, ist auch das zirkulierende Kapital scheinbar überflüssig: Der ganze kapitalisierte Teil des Mehrwerts wird in Löhne für neue Arbeiter verwandelt, die offenbar in der Luft arbeiten, ohne jegliche Produktionsmittel. Dieselbe Ansicht formuliert Sismondi noch deutlicher an einer anderen Stelle: »Der Reiche sorgt also für das Wohl des Armen, wenn er an seinem Einkommen Ersparnisse macht und sie seinem Kapital hinzufügt, denn indem er selbst die Teilung der jährlichen Produktion vornimmt, bewahrt er alles das, was er Einkommen nennt. auf, um es selbst zu verbrauchen, dagegen überläßt er alles das, was er Kapital nennt, dem Armen als Einkommen.« (l.c., Bd. I, S. 84.) Zugleich aber hebt Sismondi das Geheimnis der Plusmacherei und den Geburtsakt des Kapitals treffend hervor: Mehrwert entsteht aus dem Austausch von Kapital gegen Arbeit, aus dem variablen Kapital, Kapital entsteht aus der Akkumulation des Mehrwertes.
Bei alledem sind wir jedoch in der Unterscheidung von Kapital und Einkommen nicht viel vorwärtsgekommen. Sismondi macht jetzt den Versuch, die verschiedenen Elemente der Produktion und des Einkommens in entsprechenden Portionen des gesellschaftlichen Gesamtprodukts darzustellen: »Der Unternehmer ebenso wie der Landbebauer verwendet nicht seinen ganzen produktiven Reichtum auf die Aussaat; einen Teil verwendet er auf Gebäude, auf Maschinen, auf Werkzeuge, welche die Arbeit leichter und fruchttragender machen; ebenso wie ein Teil des Reichtums des Landbebauers den dauernden Arbeiten zufließt, welche den Boden fruchtbarer machen. So sehen wir die verschiedenen Arten des Reichtums entstehen und sich nach und nach trennen. Ein Teil des Reichtums, den die Gesellschaft aufgehäuft hat, wird von jedem seiner Inhaber dazu verwandt, die Arbeit lohnender zu machen dadurch, daß er nach und nach aufgezehrt wird, ferner dazu, den blinden Naturkräften die Arbeit des Menschen zu übertragen; dies nennt man das feststehende Kapi- |150| tal und versteht darunter den Neubruch, die Kanäle zur Bewässerung, die Fabriken und die Maschinen jeder Art. Ein anderer Teil des Reichtums ist dazu bestimmt, verzehrt zu werden, um sich in dem Werk, welches er geschaffen hat, zu erneuern, ohne Aufhören seine Gestzu wechseln, dabei aber seinen Wert zu bewahren; dieser Teil, den man das umlaufende Kapital nennt, begreift in sich die Aussaat, die zur Verarbeitung bestimmten Rohstoffe und die Löhne. Ein dritter Teil des Reichtums endlich löst sich von diesem zweiten ab: der Wert, um den das fertige Werk die darauf gemachten Vorschüsse übersteigt. Dieser Wert, welchen man das Einkommen von dem Kapital genannt hat, ist dazu bestimmt, ohne Wiedererzeugung verzehrt zu werden.«
Nachdem so mit Mühe die Einteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts nach den inkommensurablen Kategorien: fixes Kapital, zirkulierendes Kapital und Mehrwert, versucht worden ist, zeigt sich im nächsten Moment, daß Sismondi, wenn er vom fixen Kapital spricht, eigentlich konstantes, und wenn er vom zirkulierenden spricht, variables meint, denn »alles, was geschaffen ist«, ist zur menschlichen Konsumtion bestimmt, aber das fixe Kapital wird nur »indirekt« verzehrt, das zirkulierende Kapital hingegen »dient dem Fonds, welcher zur Ernährung des Arbeiters bestimmt ist in Form des Lohnes«. Wir wären so einigermaßen wieder der Einteilung des Gesamtprodukts in konstantes Kapital (Produktionsmittel), variables Kapital (Lebensmittel der Arbeiter) und Mehrwert (Lebensmittel der Kapitalisten) nähergerückt. Immerhin aber läßt sich bis jetzt den Aufklärungen Sismondis über diesen von ihm selbst als grundlegend bezeichneten Gegenstand keine besondere Klarheit nachrühmen, und man merkt in diesem Wirrwarr jedenfalls keinen Fortschritt über die Smithschen »Gedankenböcke« hinaus.
Sismondi fühlt das selbst und versucht mit einem Seufzer, daß »diese Bewegung des Reichtums vollständig abstrakt sei und eine so gespannte Aufmerksamkeit zu seinem Verständnis verlange«, nun das Problem »in der einfachsten aller Behandlungen« klarzulegen. Wir begeben uns also wieder in die Ofenecke, d.h. zu Robinson, nur daß Robinson jetzt Pater familias und Pionier der Kolonialpolitik ist.
»Ein einsamer Farmer in einer entfernten Kolonie am Saum der Wüste hat in einem Jahre hundert Sack Getreide geerntet: Kein Markt ist in der Nahe, wohin er sie bringen kann; auf alle Fälle muß dieses Getreide binnen Jahresfrist verzehrt werden, wenn es Wert für den Farmer haben soll; aber dieser kann mit seiner ganzen Familie nicht mehr als dreißig Sack verzehren; dies wird sein Aufwand sein, der Tausch seines Einkom- |151| mens, diese dreißig Sack erzeugen sich für niemand wieder. Er wird dann Arbeiter heranziehen, er wird sie Wälder ausroden, Sümpfe in seiner Nachbarschaft trockenlegen und einen Teil der Wüste unter Kultur legen lassen. Diese Arbeiter werden weitere dreißig Sack Getreide aufessen; für sie wird dies ein Aufwand sein, sie sind imstande, diesen Aufwand zu machen als Preis ihres Einkommens, will sagen ihrer Arbeit; für den Farmer wird es ein Tausch sein, er wird diese dreißig Sack in fixes Kapital verwandelt haben. (Hier verwandelt Sismondi variables Kapital gar in fixes! Er will sagen: Für diese dreißig Sack, die sie als Lohn kriegten, stellen die Arbeiter Produktionsmittel her, die der Farmer zur Erweiterung seines fixen Kapitals wird verwenden können - R. L.) Es bleiben ihm nun noch vierzig Sack; diese wird er in diesem Jahre aussäen anstatt der zwanzig, die er im vorigen Jahre gesät hat, dies wird sein Umlaufkapital sein, welches er verdoppelt hat. So sind die hundert Sack verzehrt worden, aber von diesen hundert sind siebzig für ihn sicher angelegt worden, welche erheblich vermehrt wiedererscheinen, die einen in der nächsten Ernte, die anderen in den darauffolgenden Ernten. Die Vereinzelung des Farmers, den wir als Beispiel gewählt haben, läßt uns die Schranken einer solchen Tätigkeit noch besser erkennen. Wenn er in diesem Jahre nur sechzig Sack von den hundert, die er geerntet, hat verzehren können, wer wird im folgenden Jahre die zweihundert Sack essen, welche durch die Vermehrung seiner Aussaat gewonnen worden sind? Man wird sagen: seine Familie, welche sich vermehrt hat. Gewiß, aber die menschlichen Generationen vermehren sich nicht so schnell wie die Unterhaltsmittel. Wenn unser Farmer genug Arme hätte, um jedes Jahr die eben erwähnte Tätigkeit zu verdoppeln, würde sich seine Getreideernte jedes Jahr verdoppeln, während sich seine Familie höchstens alle fünfundzwanzig Jahre verdoppeln könnte.«
Trotz der Kindlichkeit des Beispiels kommt zum Schluß die entscheidende Frage zum Vorschein: Wo ist der Absatz für den kapitalisierten Mehrwert? Die Akkumulation des Kapitals kann die Produktion der Gesellschaft ins ungemessene steigern. Wie ist es aber mit der Konsumtion der Gesellschaft? Diese ist durch das Einkommen verschiedener Art bestimmt. Der wichtige Gegenstand wird von Sismondi im V. Kapitel des zweiten Buches dargelegt: »Teilung des Nationaleinkommens unter die verschiedenen Klassen der Bürger.«
Hier macht Sismondi einen neuen Versuch, das Gesamtprodukt der Gesellschaft in Teilen darzustellen: »Unter diesem Gesichtspunkt besteht das Nationaleinkommen aus zwei Teilen: Der eine begreift die jährliche Pro- |152| duktion, dies ist der Nutzen, welcher aus dem Reichtum entsteht; der zweite ist die Fähigkeit zu arbeiten, die sich aus dem Leben selbst ergibt. Unter dem Namen Reichtum verstehen wir jetzt ebenso das Grundeigentum wie das Kapital, und unter dem Namen Nutzen begreifen wir ebenso das Nettoeinkommen, welches den Eigentümern gegeben wird, wie den Gewinn des Kapitalisten.« Also sämtliche Produktionsmittel werden als »Reichtum« aus dem »Nationaleinkommen« ausgeschieden; [welch] letzteres aber in Mehrwert und in Arbeitskraft oder richtiger deren Äquivalent - variables Kapital - zerfällt. Wir hätten hier also, wenn auch nicht deutlich genug herausgehoben, die Einteilung in konstantes Kapital, variables Kapital und Mehrwert. Im nächsten Augenblick stellt sich aber heraus, daß Sismondi unter »Nationaleinkommen« das jährliche gesellschaftliche Gesamtprodukt versteht: »Ebenso besteht die jährliche Produktion oder das Ergebnis aller Jahresarbeiten aus zwei Teilen; der eine ist der Nutzen, der sich aus dem Reichtum ergibt, der andere ist die Fähigkeit zu arbeiten, den wir dem Teil des Reichtums gleichsetzen, gegen welchen er in Tausch gegeben wird, oder den Unterhaltsmitteln der Arbeiter.« Hier wird das Gesamtprodukt der Gesellschaft dem Werte nach in zwei Teile, variables Kapital und Mehrwert. aufgelöst, das konstante Kapital verschwindet, und wir sind angelangt bei dem Smithschen Dogma, wonach der Preis aller Waren sich in v + m auflöst (oder aus v + m zusammensetzt) oder, mit anderen Worten, das Gesamtprodukt nur aus Konsummitteln (für Arbeiter und Kapitalisten) besteht.
Von hier aus tritt Sismondi an die Frage der Realisierung des Gesamtprodukts heran. Da einerseits die Summe der Einkommen in der Gesellschaft aus Löhnen und Profiten vom Kapital sowie aus Grundrente besteht, also v + m darstellt, andererseits das Gesamtprodukt der Gesellschaft sich gleichfalls dem Werte nach in v + m auflöst, so »halten sich das Nationaleinkommen und die jährliche Produktion gegenseitig die Waage« und müssen einander (an Wert) gleich sein: »Die ganze jährliche Produktion wird jährlich verzehrt, aber da dies zum Teil durch Arbeiter geschieht, welche ihre Arbeit dagegen in Tausch geben, verwandeln sie sie in (variables) Kapital und erzeugen sie aufs neue; der andere Teil wird von den Kapitalisten, welche dagegen ihr Einkommen eintauschen, verbraucht.« »Die Gesamtheit des jährlichen Einkommens ist dazu bestimmt, gegen die Gesamtheit der jährlichen Produktion eingetauscht zu werden.« Daraus konstruiert Sismondi endlich im VI. Kapitel des zweiten Buches: »Wechselseitige Bestimmung der Produktion durch die Konsumtion und der Ausgaben durch das Einkommen«, das folgende exakte Gesetz der Re- |153| produktion: »Das Einkommen des vergangenen Jahres muß die Produktion dieses Jahres bezahlen.« Wie soll nun unter solchen Voraussetzungen die kapitalistische Akkumulation stattfinden? Wenn das Gesamtprodukt von den Arbeitern und den Kapitalisten restlos verzehrt werden muß, so kommen wir offenbar aus der einfachen Reproduktion nicht heraus, und daß Problem der Akkumulation wird unlösbar. In der Tat läuft die Sismondische Theorie darauf hinaus, die Akkumulation für unmöglich zu erklären. Denn wer soll das überschüssige Produkt im Falle der Erweiterung der Reproduktion kaufen, da die gesamte gesellschaftliche Nachfrage durch die Lohnsumme der Arbeiter und durch den persönlichen Konsum der Kapitalisten dargestellt ist? Sismondi formuliert auch die objektive Unmöglichkeit der Akkumulation in folgendem Satz: »Nach allem diesem muß man sagen, daß es niemals möglich ist, die Gesamtheit der Erzeugung des Jahres (bei erweiterter Reproduktion - R. L.) gegen die Gesamtheit des vorhergehenden Jahres auszutauschen. Wenn die Erzeugung stufenweise fortschreitend wächst, muß der Austausch jedes Jahres einen kleinen Verlust verursachen, welcher zu gleicher Zeit eine Vergütung der zukünftigen Lage darstellt.« Mit anderen Worten, die Akkumulation muß jedes Jahr bei der Realisierung des Gesamtprodukts einen unabsetzbaren Überschuß in die Welt setzen. Sismondi schreckt aber vor der letzten Konsequenz zurück und rettet sich sofort »auf die mittlere Linie« durch eine wenig verständliche Ausflucht: »Wenn dieser Verlust gering ist und gut verteilt wird, so erträgt ihn jeder, ohne sich über sein Einkommen zu beklagen. Hierin gerade besteht die Wirtschaftlichkeit des Volkes, und die Reihe dieser kleinen Opfer vermehrt das Kapital und das Nationalvermögen.« Wird hingegen die Akkumulation rücksichtslos betrieben, dann wächst sich der unabsetzbare Überschuß zur öffentlichen Kalamität aus, und wir haben die Krise. So bildet die kleinbürgerliche Ausflucht der Dämpfung der Akkumulation die Lösung Sismondis. Die Polemik gegen die klassische Schule, die die unumschränkte Entfaltung der Produktivkräfte und Erweiterung der Produktion befürwortete, ist ein ständiger Kehrreim Sismondis, und der Warnung vor den fatalen Folgen des unumschränkten Dranges zur Akkumulation ist sein ganzes Werk gewidmet.
Die Darlegung Sismondis hat seine Unfähigkeit bewiesen, den Prozeß der Reproduktion als Ganzes zu begreifen. Von seinem mißlungenen Versuch abgesehen, die Kategorien Kapital und Einkommen gesellschaftlich auseinanderzuhalten, leidet seine Reproduktionstheorie an dem fundamentalen Irrtum, den er von Ad. Smith übernommen, nämlich an der Vorstellung, daß das jährliche Gesamtprodukt in persönlicher Konsum- |154| tion restlos auf gehe, ohne für die Erneuerung des konstanten Kapitals der Gesellschaft einen Wertteil übrigzulassen, desgleichen, daß die Akkumulation nur in der Verwandlung des kapitalisierten Mehrwerts in zuschüssiges variables Kapital bestehe. Wenn jedoch spätere Kritiker Sismondis, wie z.B. der russische Marxist Iljin (6), mit dem Hinweis auf diesen fundamentalen Schnitzer in der Wertanalyse des Gesamtprodukts die ganze Akkumulationstheorie Sismondis als hinfällig, als »Unsinn« mit einem überlegenen Lächeln abtun zu können glaubten, so bewiesen sie dadurch nur, daß sie ihrerseits das eigentliche Problem gar nicht bemerkten, um das es sich bei Sismondi handelte. Daß durch die Beachtung des Wertteils im Gesamtprodukt, der dem konstanten Kapital entspricht, das Problem der Akkumulation noch bei weitem nicht gelöst ist, bewies am besten später die eigene Analyse von Marx, der als erster jenen groben Schnitzer Ad. Smith' aufgedeckt hatte. Noch drastischer bewies dies aber ein Umstand in den Schicksalen der Sismondischen Theorie selbst. Durch seine Auffassung ist Sismondi in die schärfste Kontroverse mit den Vertretern und Verflachern der klassischen Schule geraten: mit Ricardo, Say und MacCulloch. Die beiden Seiten vertraten hier zwei entgegengesetzte Standpunkte: Sismondi die Unmöglichkeit der Akkumulation, Ricardo, Say und MacCulloch hingegen deren schrankenlose Möglichkeit. Nun standen aber in bezug auf jenen Smithschen Schnitzer beide Seiten genau auf demselben Boden: Wie Sismondi, so sahen auch seine Widersacher von dem konstanten Kapital bei der Reproduktion ab, und niemand hat die Smithsche Konfusion in bezug auf die Auflösung des Gesamtprodukts in v + m in so pretentiöser Weise zu einem unerschütterlichen Dogma gestempelt wie gerade Say.
Dieser erheiternde Umstand sollte eigentlich genügen, um zu beweisen, daß wir das Problem der Akkumulation des Kapitals noch lange nicht zu lösen imstande sind, wenn wir bloß dank Marx wissen, daß das gesellschaftliche Gesamtprodukt außer Lebensmitteln zur Konsumtion der Arbeiter und Kapitalisten (v + m) noch Produktionsmittel (c) zur Erneuerung des Verbrauchten enthalten muß und daß dementsprechend die Akkumulation nicht bloß in der Vergrößerung des variablen, sondern auch in der Vergrößerung des konstanten Kapitals besteht. Wir werden später sehen, zu welchem neuen Irrtum in bezug auf die Akkumulation diese nachdrückliche Betonung des konstanten Kapitalteils im Reproduktionsprozeß geführt hat. Hier jedoch mag die Konstatierung der Tatsache |155| genügen, daß der Smithsche Irrtum in bezug auf die Reproduktion des Gesamtkapitals nicht etwa eine spezielle Schwäche in der Position Sismondis darstellte, sondern vielmehr den gemeinsamen Boden, auf dem die erste Kontroverse um das Problem der Akkumulation ausgefochten wurde. Daraus folgt nur, daß die bürgerliche Ökonomie sich an das verwickelte Problem der Akkumulation heranwagte, ohne mit dem elementaren Problem der einfachen Reproduktion fertig geworden zu sein, wie denn die wissenschaftliche Forschung nicht bloß auf diesem Gebiete in seltsamen Zickzacklinien schreitet und häufig gleichsam die obersten Stockwerke des Gebäudes in Angriff nimmt, bevor das Fundament noch zu Ende ausgeführt ist. Es zeugt jedenfalls dafür, eine wie harte Nuß Sismondi mit seiner Kritik der Akkumulation der bürgerlichen Ökonomie zum Knacken aufgegeben hat, wenn sie trotz all der durchsichtigen Schwächen und Unbeholfenheiten seiner Deduktion mit ihm doch nicht fertig zu werden vermochte.
Fußnoten von Rosa Luxemburg
(1) Der Auszug aus diesem interessanten Dokument befindet sich in einer Besprechung der Schrift: Observations on the Injurious Consequences of the Restrictions upon Foreign Commerce. By a Member of the late Parliament, London 1820. Dieser freihändlerische Aufsatz müberhaupt die Lage der Arbeiter in England in den düstersten Farben. Er führt unter anderem folgende Tatsachen an: »The manufacturing classes in Great Britain - have been suddenly reduced from affluence and prosperity to the extreme of poverty and misery. In one of the debates in the late Session of Parliament, it was stated, that the wages of weavers of Glasgow and its vicinity, which, when higher, had averaged about 25 s. or 27 s. a week, had been reduced in 1816 to 10 s.; and in 1819 to the wretched pittance of 5 s. 6 d. or 6 s. They have not since been materially augmented.« In Lancashire schwankten die Wochenlöhne der Weber nach demselben Zeugnis zwischen 6 und 12 Schilling bei 15stündiger Arbeitszeit, während »halbverhungerte Kinder« für 2 oder 3 Shilling die Woche 12 bis 16 Stunden täglich arbeiteten. das Elend in Yorkshire war womöglich noch größer. In bezug auf die Adresse der Nottinghamer Strumpfwirker sagt der Verfasser, daß er die Verhältnisse selbst untersucht hätte und zu dem Schlusse gelangt wäre, daß die Erklärungen der Arbeiter nicht im geringsten übertrieben waren. (The Edinburgh Review, Mai 1820, S. 331 ff.) <=
(2) J. C. L. Sismonde de Sismondi: Neue Grundsätze der politischen Ökonomie. Übersetzt von Robert Prager, Berlin 1901, Bd. I, S. XIII <=
(5) »En faisant cette opération, le cultivateur changeait une partie de son revenu en un capital; et c'est en effet toujours ainsi qu'un capital nouveau se forme.« (Nouveaux principes ..., 2. Aufl., Bd. I, S. 88.) <=
(6) Wladimir Iljin: Ökonomische Studien und Artikel, Petersburg 1899. [W. I. Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik. In: Werke, Bd. 2, S. 121-264.] <=
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