Unser Kampf | | | I. 2. | | | Inhalt | | | I. 4. | | | Rosa Luxemburg |
Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Einführung in die Nationalökonomie«, S. 535-557.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|535| Man erzählt uns von den Bedürfnissen eines Volkes, von der Befriedigung dieser Bedürfnisse in einer zusammenhängenden Wirtschaft und auf diese Weise von der Wirtschaft eines Volkes. Die Nationalökonomie soll die Wissenschaft sein, die uns das Wesen dieser Volkswirtschaft erklärt, das heißt die Gesetze, nach denen ein Volk seinen Reichtum durch die Arbeit schafft, vermehrt, an die einzelnen verteilt, verbraucht und von neuem schafft. Es soll also das Wirtschaftsleben eines ganzen Volkes sein, was den Gegenstand der Untersuchung bildet, im Gegensatz zur Privatwirtschaft oder Einzelwirtschaft, was diese letztere immer bedeuten mag. So trägt auch in scheinbarer Bestätigung dieser Auffassung das 1776 erschienene epochemachende Werk des Engländers Adam Smith, den man den Vater der Nationalökonomie nennt, den Titel »Der Reichtum der Nationen« [1].
Gibt es aber, so müssen wir vor allem fragen, in Wirklichkeit so etwas wie die Wirtschaft eines Volkes? Führen denn die Völker jedes einen besonderen Haushalt, ein geschlossenes wirtschaftliches Leben für sich? Die Ausdrücke »Volkswirtschaft«, »Nationalökonomie« werden besonders in Deutschland mit Vorliebe gebraucht, so richten wir denn unsere Blicke auf Deutschland.
Durch die Hände deutscher Arbeiter und Arbeiterinnen werden alljährlich in der Landwirtschaft und Industrie ungeheure Mengen von allerlei Gebrauchsgütern produziert. Wird dies alles aber etwa zum Eigen- |536| gebrauch der im Deutschen Reich wohnenden Bevölkerung hergestellt? Wir wissen, daß ein enormer und mit jedem Jahr wachsender Teil der deutschen Produkte nach anderen Ländern und Weltteilen, für andere Völker ausgeführt wird. Die deutschen Eisenwaren gehen nach verschiedenen benachbarten Ländern in Europa, ferner nach Südamerika, nach Australien; Leder und Lederwaren gehen aus Deutschland nach allen europäischen Staaten; Glassachen, Zucker, Handschuhe wandern nach England; Pelzfelle nach Frankreich, England, Österreich-Ungarn; der Farbstoff Alizarin nach England, nach den Vereinigten Staaten, nach Indien; Thomasschlacken, die als Düngemittel dienen, nach den Niederlanden, nach Österreich-Ungarn; Koks nach Frankreich; Steinkohle nach Österreich, Belgien, nach den Niederlanden, der Schweiz; elektrische Kabel nach England, Schweden, Belgien; Spielzeug nach den Vereinigten Staaten; deutsches Bier, Indigo sowie Anilin und andere Teerfarbstoffe, deutsche Arzneien, Zellulose, Goldwaren, Strümpfe, baumwollene und wollene Stoffe und Kleider, deutsche Eisenbahnschienen werden fast nach sämtlichen handeltreibenden Ländern der Welt verschickt.
Aber auch umgekehrt ist das deutsche Volk auf Schritt und Tritt bei der Arbeit wie im täglichen Verbrauch auf Erzeugnisse fremder Länder und Völker angewiesen. Wir essen Brot aus russischem Getreide und Fleisch von ungarischem, dänischem, russischem Vieh; der Reis, den wir verzehren, stammt aus Ostindien und aus Nordamerika; der Tabak aus Niederländisch-Indien und aus Brasilien; wir beziehen Kakaobohnen aus Westafrika, Pfeffer aus Indien; Schweineschmalz aus den Vereinigten Staaten; Tee aus China; Obst aus Italien, Spanien und aus den Vereinigten Staaten; Kaffee aus Brasilien, Zentralamerika und Niederländisch-Indien; Fleischextrakt aus Uruguay; Eier aus Rußland, Ungarn und Bulgarien; Zigarren von der Insel Kuba; Taschenuhren aus der Schweiz; Schaumweine aus Frankreich; Rindshäute aus Argentinien; Bettfedern aus China; Seide aus Italien und Frankreich; Flachs und Hanf aus Rußland; Baumwolle aus den Vereinigten Staaten, aus Indien, Ägypten; feine Wolle aus England; Jute aus Indien; Malz aus Österreich-Ungarn; Leinsaat aus Argentinien; gewisse Sorten Steinkohle aus England; Braunkohle aus Österreich; Salpeter aus Chile; Quebrachoholz zum Gerben aus Argentinien; Nutz- und Bauholz aus Rußland; Korkholz aus Portugal; Kupfer aus den Vereinigten Staaten; Zinn aus Niederländisch-Indien; Zink aus Australien; Aluminium aus Österreich-Ungarn und Kanada; Asbest aus Kanada; Asphund Marmor aus Italien; Pflastersteine aus Schweden; Blei aus Belgien, den Vereinigten Staaten, Australien; Graphit von Cey- |537| lon; phosphorsalzigen Kalk aus Amerika und aus Algerien; Jod aus Chile ... [2]
Vom einfachsten Nahrungsmittel des täglichen Gebrauches bis zu den ausgesuchtesten Gegenständen des Luxus und den notwendigen Stoffen und Werkzeugen stammt das meiste direkt oder indirekt, ganz oder in irgendeinem Bestandteil aus fremden Ländern, ist Produkt fremder Volksarbeit. Wir lassen somit, um in Deutschland leben und arbeiten zu können, fast sämtliche Länder, Völker, Weltteile für uns arbeiten und arbeiten unsererseits für alle Länder.
Um uns den enormen Umfang dieses Austausches zu vergegenwärtigen, werfen wir einen Blick auf die offizielle Statistik der Einfuhr und Ausfuhr. Nach dem »Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich« 1914 gestaltete sich der Gesamteigenhandel (das heißt ohne die nur über Deutschland zur Durchfuhr gelangenden fremden Waren) wie folgt:
Deutschland hat im Jahre 1913 eingeführt:
an Rohstoffen |
für 5.262 Millionen M |
an halbfertigen Waren |
für 1.246 Millionen M |
an fertigen Waren |
für 1.776 Millionen M |
an Nahrungs- und Genußmitteln |
für 3.063 Millionen M |
an lebenden Tieren |
für 289 Millionen M |
im ganzen [3] |
für 11.638 Millionen M |
oder beinahe für 12 Milliarden Mark.
In demselben Jahre hat Deutschland ausgeführt:
an Rohstoffen |
für 1.720 Millionen M |
an halbfertigen Waren |
für 1.159 Millionen M |
an fertigen Waren |
für 6.642 Millionen M |
an Nahrungs- und Genußmitteln |
für 1.362 Millionen M |
an lebenden Tieren |
für 7 Millionen M |
im ganzen [3] |
für 10.891 Millionen M |
oder beinahe für 11 Milliarden Mark. Zusammen beläuft sich der jährliche Außenhandel Deutschlands somit auf mehr als 22 Milliarden.
Dasselbe aber, was in Deutschland, ist in größerem oder geringerem Maße auch in den anderen modernen Ländern der Fall, das heißt gerade |538| in jenen, mit deren Wirtschaftsleben sich die Nationalökonomie ausschließlich befaßt. Alle diese Länder produzieren füreinander, zum Teil auch für die entlegensten Weltteile, lassen sich aber auch ihrerseits auf Schritt und Tritt Erzeugnisse sämtlicher Weltteile bei Konsumtion wie bei Produktion zunutze kommen.
Wie soll man angesichts eines so enorm entwickelten gegenseitigen Austausches die Grenzen zwischen der »Wirtschaft« eines Volkes und der eines anderen ziehen, von ebenso vielen »Volkswirtschaften« sprechen, als wären es ökonomisch ganz für sich zu betrachtende Gebiete?
Nun, der zunehmende internationale Warenaustausch ist freilich keine Entdeckung, die etwa den bürgerlichen Gelehrten unbekannt wäre. Die offiziellen statistischen Erhebungen mit ihren alljährlich veröffentlichten Berichten haben die einschlägigen Tatsachen längst zum Gemeingut aller Gebildeten gemacht; der Geschäftsmann, der Industriearbeiter kennt sie überdies aus dem täglichen Leben. Die Tatsache des rapid zunehmenden Welthandels ist heute so allgemein bekannt und anerkannt, daß sie nicht mehr bestritten oder angezweifelt werden kann. Allein, wie wird diese Tatsache von den Fachgelehrten der Nationalökonomie aufgefaßt? Als rein äußerer loser Zusammenhang, als Ausfuhr des sogenannten »Überschusses« in den Erzeugnissen eines Landes über den eigenen Bedarf und als Einfuhr des zur eigenen Wirtschaft »etwa Fehlenden« - ein Zusammenhang, der sie durchaus nicht hindert, nach wie vor von der »Volkswirtschaft« und der »Volkswirtschaftslehre« zu sprechen.
So verkündet zum Beispiel Professor Bücher, nachdem er uns des langen und breiten über die heutige »Volkswirtschaft« als die höchste und letzte Entwicklungsstufe in der Reihe der geschichtlichen Wirtschaftsformen belehrt hat:
»Es ist ein Irrtum, wenn man aus der im liberalistischen Zeitalter erfolgten Erleichterung des internationalen Verkehrs schließen zu dürfen meint, die Periode der Volkswirtschaft gehe zur Neige und mache der Periode der Weltwirtschaft Platz ... Gewiß sehen wir heute in Europa eine Reihe von Staaten, welche der nationalen Selbständigkeit in ihrer Güterversorgung insofern entbehren, als sie erhebliche Mengen ihrer Nahrungs- und Genußmittel aus dem Auslande zu beziehen genötigt sind, während ihre industrielle Produktionsfähigkeit weit über das nationale Bedürfnis hinausgewachsen ist und dauernd Überschüsse liefert, die auf fremden Konsumtionsgebieten ihre Verwertung finden müssen. Aber das Nebeneinanderbestehen solcher Industrie und Rohproduktionsländer, die gegenseitig aufeinander angewiesen sind, diese 'internationale Arbeitsteilung' ist |539| nicht als Zeichen anzusehen, daß die Menschheit eine neue Stufe der Entwicklung zu erklimmen im Begriffe steht, die unter dem Namen der Weltwirtschaft den früheren Stufen gegenübergestellt werden müßte. Denn einerseits hat keine Wirtschaftsstufe volle Selbstherrlichkeit der Bedürfnisbefriedigung auf die Dauer garantiert; jede ließ gewisse Lücken bestehen, die so oder so ausgefüllt werden mußten. Andererseits hat jene sogenannte Weltwirtschaft bis jetzt wenigstens keine Erscheinungen hervortreten lassen, die von denen der Volkswirtschaft in wesentlichen Merkmalen abweichen, und es steht sehr zu bezweifeln, daß solche in absehbarer Zukunft auftreten werden.«(1)
Noch kühner ist Protessor Büchers jüngerer Kollege Sombart, der schlankweg erklärt, daß wir nicht in die Weltwirtschaft hineinwachsen, sondern gar umgekehrt uns immer mehr von ihr entfernen: »Die Kulturvölker, so behaupte ich vielmehr, sind heute (im Verhältnis zu ihrer Gesamtwirtschaft) nicht wesentlich mehr, sondern eher weniger durch Handelsbeziehungen untereinander verknüpft. Die einzelne Volkswirtschaft ist heute nicht mehr, sondern eher weniger in den Weltmarkt einbezogen als vor hundert oder fünfzig Jahren. Mindestens aber ... ist es falsch, anzunehmen, daß die internationalen Handelsbeziehungen eine verhältnismäßig wachsende Bedeutung für die moderne Volkswirtschaft gewinnen. Das Gegenteil ist richtig.« Professor Sombart ist überzeugt, daß »die einzelnen Volkswirtschaften immer vollkommenere Mikrokosmen (das heißt kleine abgeschlossene Welten - R. L.) werden und daß der innere Markt für alle Gewerbe den Weltmarkt immer mehr an Bedeutung überflügelt«.(2)
Diese funkelnde Narretei, die allen täglichen Wahrnehmungen des Wirtschaftslebens ungeniert ins Gesicht schlägt, unterstreicht aufs glücklichste jene verbissene Abneigung der Herren Zunftgelehrten gegen die Anerkennung der Weltwirtschaft als einer neuen Entwicklungsphase der menschlichen Gesellschaft - eine Abneigung, die wir uns wohl zu merken und deren verborgenen Wurzeln wir nachzugehen haben.
Weil also schon auf den »früheren Wirtschaftsstufen«, zum Beispiel zu König Nebukadnezars Zeiten, »gewisse Lücken« im Wirtschaftsleben der Menschen durch den Austausch ausgefüllt wurden, so hat der heutige Welthandel gar nichts zu besagen, und es bleibt bei der »Volkswirtschaft«. Dies die Meinung Professor Büchers.
|540| Wie bezeichnend für die Roheit der geschichtlichen Auffassung eines Gelehrten, dessen Ruhm gerade auf angeblich scharfsinnigen und tiefen wirtschaftshistorischen Einblicken beruht! Den internationalen Handel verschiedenster, durch Jahrtausende getrennter Kultur und Wirtschaftsstufen bringt er einem abgeschmackten Schema zuliebe ohne weiteres unter einen Hut. Freilich, es gibt und gab keine Gesellschaftsform ohne Austausch. Die ältesten vorgeschichtlichen Funde, die rohesten Höhlen, die der »vorsintflutlichen« Menschheit als Wohnräume dienten, die primitivsten Gräber aus der Vorzeit, sie alle sind schon Zeugen eines gewissen Austausches der Produkte zwischen weit entfernten Gegenden. Der Austausch ist so wie die Kulturgeschichte der Menschheit, er ist seit jeher ihr ständiger Begleiter und ihr mächtigster Förderer gewesen. In dieser allgemeinen und in ihrer Allgemeinheit ganz vagen Erkenntnis ertränkt nun unser Gelehrter alle Besonderheiten der Epochen, der Kulturstufen, der Wirtschaftsformen. Wie in der Nacht alle Katzen grau sind, so sind im Dunkel dieser professoralen Theorie alle himmelweit verschiedenen Gestalten des Austausches ein und dasselbe. Der primitive Austausch einer Botokudenhorde in Brasilien, die hier und da gelegentlich ihre eigenartig geflochtenen Tanzmasken gegen kunstvoll verfertigte Bogen und Pfeile einer anderen Horde austauscht; die glänzenden Warenlager Babylons, wo die Pracht der orientalischen Hofhaltung aufgestapelt war; der antike Markt Korinths, wo am Neumond orientalische Linnen, griechische Tonwaren, Papier aus Tyrus, syrische und anatolische Sklaven für die reichen Sklavenhalter feilgeboten wurden; der mittelalterliche Seehandel Venedigs, der Luxusgegenstände für die europäischen Feudalhöfe und Patrizierhäuser lieferte - und der heutige kapitalistische Welthandel, der Orient und Okzident, Nord und Süd, sämtliche Ozeane und Weltwinkel in sein Netz gespannt hat, der alles - vom täglichen Brot und Zündholz des Bettlers bis zum ausgesuchtesten Kunstgegenstand des reichen Liebhabers, vom einfachsten Bodenprodukt bis zum kompliziertesten Werkzeug, von den menschlichen Arbeitshänden, der Quelle allen Reichtums, bis zu den Mordwerkzeugen des Krieges - jahrein, jahraus in ungeheuren Massen hin und her wälzt, das alles ist unserem Professor der Nationalökonomie ein und dasselbe: bloßes »Ausfüllen« »gewisser Lücken« im selbständigen Wirtschaftsorganismus! ...[4]
Vor 50 Jahren erzählte Schulze von Delitzsch den deutschen Arbeitern, jedermann produziere heute zunächst für sich selbst die gewonnenen Produkte, aber »die er nicht für sich selbst gebrauche«, gebe er »im Austausch |541| gegen die Produkte der anderen hin«.[5] Die Antwort Lassalles auf diesen Unsinn bleibt unvergeßlich:
»Herr Schulze! Patrimonialrichter! Haben Sie denn gar keinen Begriff von der wirklichen Gestder heutigen gesellschaftlichen Arbeit? Sind Sie denn nie aus Bitterfeld und Delitzsch herausgekommen? In welchem Jahrhundert des Mittelalters leben Sie denn eigentlich noch mit allen Ihren Anschauungen? ... Haben Sie denn gar keine Ahnung davon, daß sich die heutige gesellschaftliche Arbeit gerade dadurch charakterisiert, daß jeder das produziert, was er für sich selbst nicht gebrauchen kann? Haben Sie gar keine Ahnung davon, daß dies seit der großen Industrie so sein muß, daß hierin die Form und das Wesen der heutigen Arbeit liegt und daß ohne die schärfste Festhaltung dieses Punktes keine einzige Seite unserer heutigen ökonomischen Zustände, keine einzige unserer heutigen ökonomischen Erscheinungen begriffen werden kann?
Nach Ihnen produziert also Herr Leonor Reichenheim auf Wüste-Giersdorf zunächst das Baumwollgarn, das er für sich gebraucht. Den Überschuß desselben, den ihm seine Töchter nicht mehr zu Strümpfen und Nachtjacken verarbeiten können, tauscht er aus.
Herr Borsig produziert zunächst Maschinen für seinen Familienbedarf. Die überschüssigen Maschinen verkauft er dann.
Die Trauermodenmagazine arbeiten zunächst vorsorglich für die Todesfälle in der eigenen Familie. Was dann, indem diese zu spärlich ausfallen, an Trauerstoffen noch übrigbleibt, tauschen sie aus.
Herr Wolff, der Eigentümer des hiesigen Telegraphenbüros, läßt zunächst die Depeschen zu seiner eigenen Belehrung und Vergnügen kommen. Was dann, nachdem er sich hinreichend an ihnen gesättigt, noch übrigbleibt, tauscht er mit den Börsenwölfen und Zeitungsredaktionen aus, die ihm dagegen mit ihren überschüssigen Zeitungskorrespondenzen und Aktien aufwarten! ...
Also: Das ist eben der unterscheidende, scharf festzuhaltende Charakter der Arbeit in früheren Gesellschaftsperioden, daß man damals zunächst für den eigenen Bedarf produzierte und den Überschuß abgab, das heißt vorherrschend Naturalwirtschaft trieb.
Und das ist wieder der unterscheidende Charakter, die spezifische Bestimmtheit der Arbeit in der modernen Gesellschaft, daß jeder nur produziert, was er durchaus nicht braucht, das heißt, daß jeder Tauschwerte produziert wie früher vorherrschend Nutzwerte.
|542| Und begreifen Sie nicht, Herr Schulze, daß dies die notwendige und immer mehr um sich greifende 'Form und Art der Arbeitsverrichtung' ist in einer Gesellschaft, in welcher sich die Teilung der Arbeit so weit entwickelt hat wie in der modernen Gesellschaft?« [6]
Was Lassalle hier Schulzen von dem kapitalistischen Privatbetrieb klarzumachen sucht, trifft heute mit jedem Tage mehr auf die Wirtschaftsweise so stark entwickelter kapitalistischer Länder zu wie England, Deutschland, Belgien, die Vereinigten Staaten, in deren Fußtapfen die übrigen Länder, eines nach dem anderen, treten. Und die Irreführung der Arbeiter durch den fortschrittlichen Patrimonialrichter aus Bitterfeld war nur viel naiver, aber nicht gröber als die tendenziöse Polemik eines Bücher oder eines Sombart heute gegen den Begriff der Weltwirtschaft.
Ein deutscher Professor liebt als pünktlicher Beamter in seinem Ressort die Ordnung. Der Ordnung zuliebe pflegt er auch die Welt hübsch sauber in die Schubfächer eines wissenschaftlichen Schemas einzuschachteln. Und genau wie er seine Bücher auf den Regalen aufstellt, so hat er auch die verschiedenen Länder auf zwei Regale verteilt: hier Länder, die Industrieprodukte herstellen und davon »einen Überschuß« haben; dort Länder, die Landbau und Viehzucht treiben und deren Rohprodukte jenen anderen Ländern mangeln. Daraus entsteht und darauf beruht der internationale Handel.
Deutschland ist eines der industriellsten Länder der Welt. Nach dem Schema müßte es den regsten Austausch mit einem agrarischen Großstaat wie Rußland führen. Wie kommt es nun, daß Deutschlands wichtigste Partner im Handel die beiden anderen industriellsten Länder: die Vereinigten Staaten von Amerika und England, sind? Der Austausch Deutschlands mit den Vereinigen Staaten belief sich nämlich 1913 auf 2,4 Milliarden Mark, mit England auf 2,3 Milliarden; Rußland kommt erst an dritter Stelle in Betracht. Und speziell was die Ausfuhr betrifft, so ist gerade der erste Industriestaat der Welt der größte Abnehmer für die deutsche Industrie: mit 1,4 Milliarden Mark Jahreseinfuhr aus Deutschland steht England an der Spitze und läßt alle anderen Staaten weit hinter sich. Das britische Reich mit seinen Kolonien aber nimmt ein ganzes Fünftel der gesamten deutschen Ausfuhr auf. Was sagt das professorale Schema zu diesem merkwürdigen Phänomen?
Hie Industriestaat - dort Agrarstaat, dies ist das starre Gerippe der |543| weltwirtschaftlichen Beziehungen, mit dem Professor Bücher und die meisten seiner Kollegen operieren. Nun, Deutschland war in den sechziger Jahren ein Agrarstaat; es führte einen Überschuß an landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus und mußte sich mit den nötigsten Industriewaren von England versehen lassen. Seitdem hat es sich selbst in einen Industriestaat und in den mächtigsten Rivalen Englands verwandelt. Die Vereinigten Staaten machen dasselbe, was Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, in einer noch kürzeren Frist durch; sie sind gerade jetzt mitten im Wandel begriffen. Noch sind sie neben Rußland, Kanada, Australien und Rumänien das größte Weizenland der Welt, und noch waren nach der letzten Zählung (freilich aus dem Jahre 1900) ganze 36 Prozent ihrer Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Zugleich aber schreitet die Industrie der Union mit beispielloser Geschwindigkeit vorwärts, so daß sie neben der englischen und der deutschen als gefährliche Nebenbuhlerin auftritt. Und wir geben einer hohen nationalökonomischen Fakultät die Preisaufgabe, zu definieren, ob die Vereinigten Staaten im Schema des Professors Bücher in der Rubrik Agrarstaat oder in der Rubrik Industriestaat unterzubringen seien. Rußland folgt langsam auf derselben Bahn und wird - sobald es die Fesseln einer veralteten Staatsform abgestreift hat - dank der ungeheuren Bevölkerung und dem unerschöpflichen Naturreichtum mit Siebenmeilenstiefeln das Versäumte nachholen, um vielleicht noch vor unseren Augen, die wir heute leben, als mächtiger Industriestaat Deutschland, England und der amerikanischen Union an die Seite zu treten, wo nicht sie zu überflügeln. Die Welt ist also nicht ein starres Gerippe, wie die Weisheit eines Professors, sondern sie bewegt sich, lebt, verändert sich. Der polare Gegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft, aus dem der internationale Austausch allein entspringen soll, ist also selbst ein fließendes Element; er wird immer weiter aus dem Kreis der modernen Kulturwelt an ihre Peripherie verdrängt. Was geschieht aber mittlerweile mit dem Handel innerhalb dieses Kulturkreises? Nach der Bücherschen Theorie müßte er immer mehr zusammenschrumpfen. Anstatt dessen wird er - o Wunder! - gerade zwischen den Industrieländern immer gewaltiger.
Nichts ist so lehrreich wie das Bild, das uns die Entwicklung unseres modernen Wirtschaftsgebietes in dem letzten Vierteljahrhundert bietet. Trotzdem wir seit den achtziger Jahren in allen Industrieländern und Großstaaten in Europa wie in Amerika wahre Orgien der Schutzzöllnerei, das heißt der gegenseitigen künstlichen Absperrung der »Volkswirtschaften«, erleben, ist die Entwicklung des Welthandels im gleichen Zeitraum |544| nicht bloß nicht zum Stillstand gekommen: sie ist in eine rasende Karriere verfallen. Wie dabei gerade die zunehmende Industrialisierung und der Welthandel Hand in Hand gehen, dies kann ein Blinder an den drei führenden Ländern: England, Deutschland und den Vereinigten Staaten, ablesen.
Kohle und Eisen sind die Seele der modernen Industrie. Nun stieg von 1885 bis 1910 die Kohlengewinnung:
in England |
von 162 auf 269 Millionen Tonnen |
in Deutschland |
von 74 auf 222 Millionen Tonnen |
in den Vereinigten Staaten |
von 101 auf 455 Millionen Tonnen |
Die Roheisengewinnung stieg in derselben Zeit:
in England |
von 7,5 auf 10,2 Millionen Tonnen |
in Deutschland |
von 3,7 auf 14,8 Millionen Tonnen |
in den Vereinigten Staaten |
von 4,1 auf 27,7 Millionen Tonnen |
Gleichzeitig stieg der jährliche Außenhandel (Einfuhr und Ausfuhr) von 1885 bis 1912:
in England |
von 13 auf 27,4 Milliarden Mark |
in Deutschland |
von 6,2 auf 21,3 Milliarden Mark |
in den Vereinigten Staaten |
von 5,5 auf 16,2 Milliarden Mark |
Nimmt man aber den gesamten Außenhandel (Einfuhr und Ausfuhr) aller wichtigeren Länder der Erde in der jüngsten Zeit, so ist er von 105 Milliarden Mark im Jahre 1904 auf 165 Milliarden Mark im Jahre 1912 gestiegen. Das bedeutet ein Wachstum um 57 Prozent binnen 8 Jahren! In der Tat ein so atemraubendes Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung, wie davon die ganze bisherige Weltgeschichte kein annäherndes Beispiel zu bieten hat! »Die Toten reiten schnelle.«[7] Die kapitalistische »Volkswirtschaft« scheint Eile zu haben, die Grenzen ihrer Existenzfähigkeit zu erschöpfen, die Gnadenfrist ihrer Daseinsberechtigung abzukürzen. Was sagt aber zu alledem das Schema von »gewissen Lücken« und von dem schwerfälligen Tanz zwischen Industriestaat und Agrarstaat?
Doch es gibt im modernen Wirtschaftsleben solcher Rätsel noch mehr.
Betrachten wir etwas aufmerksamer die Tabellen der deutschen Einfuhr und Ausfuhr, statt uns mit Gesamtsummen der ausgetauschten Warenwerte oder nur mit ihren großen allgemeinen Kategorien zu begnügen, lassen wir zur Probe die wichtigsten Warengattungen des deutschen Handels vor uns Revue passieren.
|545| Es wurden im Jahre 1913
nach Deutschland eingeführt: | aus Deutschland ausgeführt: | |||
Millionen Mark | Millionen Mark | |||
Baumwolle, roh | für 607 | Maschinen aller Art | für 680 | |
Weizen | für 417 | Eisenwaren | für 652 | |
Schafwolle, roh | für 413 | Steinkohlen | für 516 | |
Gerste | für 390 | Baumwollwaren | für 446 | |
Kupfer, roh | für 335 | Wollwaren | für 271 | |
Rindshäute | für 322 | Papier u. Papierwaren | für 263 | |
Eisenerze | für 227 | Felle zu Pelzwerk | für 225 | |
Steinkohlen | für 204 | Eisen in Stäben | für 205 | |
Eier | für 194 | Seidenwaren | für 202 | |
Felle zu Pelzwerk | für 188 | Koks | für 147 | |
Chilesalpeter | für 172 | Anilin und andere | ||
Rohseide | für 158 | Teerfabrikate | für 142 | |
Kautschuk | für 147 | Kleider | für 132 | |
Nadelholz, gesägt | für 135 | Kupferwaren | für 130 | |
Baumwollgarn | für 116 | Oberleder | für 114 | |
Wollgarn | für 108 | Lederwaren | für 114 | |
Nadelholz, roh | für 97 | Spielzeug | für 103 | |
Kalbfelle | für 95 | Eisenblech | für 102 | |
Jute | für 94 | Wollgarn | für 91 | |
Maschinen aller Art | für 80 | Eiserne Röhren | für 84 | |
Lamm-, Schaf- und | Rindshäute | für 81 | ||
Ziegenfelle | für 73 | Eisendraht | für 76 | |
Baumwollwaren | für 72 | Eisenbahnschienen etc. | für 73 | |
Braunkohlen | für 69 | Roheisen | für 65 | |
Wolle, gekämmt | für 61 | Baumwollgarn | für 61 | |
Wollwaren | für 43 | Kautschukwaren | für 57 |
Zwei Tatsachen springen hier auch dem oberflächlichsten Beobachter sofort in die Augen. Die erste ist, daß ein und dieselbe Warengattung mehrfach in beiden Rubriken, wenn auch mit verschiedenen Beträgen, figuriert. Deutschland setzt für enorme Summen Maschinen im Auslande ab, es bezieht aber gleichzeitig für die ansehnliche Summe von 80 Millionen Mark im Jahre Maschinen aus dem Auslande. Ebenso werden Steinkohlen aus Deutschland ausgeführt und zugleich ausländische Steinkohlen nach Deutschland eingeführt, Dasselbe bezieht sich auf Baumwollwaren, Woll- |546| garne und Wollwaren, dasselbe auf Rindshäute und Pelzfelle und noch auf viele andere Waren, die nicht in der Tabelle aufgezählt sind. Vom Standpunkte des kahlen Gegensatzes zwischen Industrie und Landwirtschaft, der unserem Professor der Nationalökonomie wie Aladins Zauberlampe alle Geheimnisse des modernen Welthandels beleuchten hilft, ist diese merkwürdige Duplizität ganz unbegreiflich, ja sie wirkt wie eine vollendete Absurdität. Wie denn nun? Hat Deutschland an Maschinen einen »Überschuß über den eigenen Bedarf« oder hat es darin umgekehrt »gewisse Lücken«? Und an Steinkohle und an Baumwollwaren? Und an Rindshäuten? Und an hundert anderen Dingen! Oder wie sollte eine »Volkswirtschaft« gleichzeitig und an denselben Produkten ständig etwaigen »Überschuß« und »gewisse Lücken« aufweisen können? Aladins Lampe flackert unsicher. Offenbar ist die beobachtete Tatsache nur zu erklären, wenn wir annehmen, daß zwischen Deutschland und den anderen Ländern kompliziertere, tiefgreifende wirtschaftliche Zusammenhänge bestehen, eine weitverzweigte, ins einzelne gehende Arbeitsteilung, die gewisse Sorten derselben Produkte in Deutschland für das Ausland, andere Sorten im Auslande für Deutschland herstellen läßt, ein tägliches Hinüber und Herüber schafft und einzelne Länder nur als organische Teile eines größeren Ganzen erscheinen läßt.
Jedermann muß ferner schon beim ersten Blick auf die Tabelle von der Tatsache frappiert sein, daß Einfuhr und Ausfuhr hier nicht als zwei getrennte, etwa hier durch »Lücken« der eigenen Wirtschaft, dort durch ihre »Überschüsse« erklärliche Erscheinungen auftreten, daß sie vielmehr miteinander ursächlich verkettet sind. Die enorme Baumwolleinfuhr Deutschlands ist ganz augenscheinlich nicht durch den eigenen Bedarf der Bevölkerung bemessen, vielmehr soll sie von vornherein die große Ausfuhr von Baumwollstoffen und Kleidern aus Deutschland ermöglichen. Ebenso der Zusammenhang zwischen der Einfuhr von Wolle und der Ausfuhr von Wollwaren, desgleichen zwischen der enormen Einfuhr fremder Erze und der enormen Ausfuhr von Eisenwaren in jeglicher Gestalt, und so auf Schritt und Tritt. Deutschland führt also ein, um ausführen zu können. Es schafft sich künstlich »gewisse Lücken«, um diese Lücken hintennach in ebenso viele »Überschüsse« zu verwandeln. Der deutsche »Mikrokosmos« erscheint so von vornherein in allen seinen Maßstäben als ein Splitter eines größeren Ganzen, als eine Werkstatt der Welt.
Doch schauen wir uns diesen »Mikrokosmos« in seiner »immer vollkommeneren« Selbstherrlichkeit einmal genauer an. Denken wir uns, daß durch irgendeine soziale und politische Katastrophe die deutsche »Volks- |547| wirtschaft« wirklich von der übrigen Welt abgeschnitten, auf sich gestellt wäre. Welches Bild böte sich da unseren Augen?
Fangen wir mit dem täglichen Brot an. Der deutsche Ackerbau weist eine doppelt so große Ertragsfähigkeit auf als in den Vereinigten Staaten; er nimmt in bezug auf seine Qualität unter den Agrarstaaten der Welt die erste Stelle ein und steht nur dem noch intensiveren Ackerbau Belgiens, Irlands und der Niederlande nach. Vor 50 Jahren gehörte Deutschland mit seiner damals noch viel rückständigeren Landwirtschaft zu den Kornkammern Europas, es ernährte andere Länder mit dem Überschuß an eigenem Brot. Heute reicht der deutsche Ackerbau trotz seiner Ertragsfähigkeit nicht entfernt hin, das eigene Volk und den eigenen Viehstand zu ernähren: Ein Sechstel der Nahrungsmittel muß vom Auslande bezogen werden. Das heißt mit anderen Worten: Sperren Sie die deutsche »Volkswirtschaft« von der Welt ab, und ein Sechstel der Bevölkerung, über 11 Millionen Deutsche, sind ihrer Lebensmittel beraubt!
Das deutsche Volk verzehrt jährlich für 220 Millionen Mark Kaffee, für 67 Millionen Kakao, für 8 Millionen Tee, für 61 Millionen Reis; es verbraucht für etwa ein Dutzend Millionen verschiedene Gewürze und für 134 Millionen Mark fremde Tabakblätter. Alle diese Erzeugnisse, ohne die der Ärmste heute sein Leben nicht fristen kann, die zu den täglichen Gewohnheiten, zu unserer Lebenshaltung gehören, werden in Deutschland gar nicht (oder, wie beim Tabakbau, nur in geringen Mengen) erzeugt, weil das deutsche Klima hierfür ungeeignet ist. Schließen Sie Deutschland dauernd von der Welt ab, und die Lebenshaltung des deutschen Volkes, die seiner heutigen Kultur entspricht, bricht zusammen.
Nach der Ernährung kommt die Kleidung in Betracht. Die Leibwäsche sowie die gesamte Kleidung der breiten Volksmassen sind heute fast ausschließlich aus Baumwolle, die Wäsche des reicheren Bürgertums aus Leinwand, die Kleider aus feiner Wolle und Seide. Baumwolle und Seide werden in Deutschland gar nicht erzeugt, ebensowenig der hochwichtige Textilstoff Jute, ebensowenig die feinste Wolle, deren Monopol in der ganzen Welt England innehat; an Hanf und Flachs hat Deutschland ein großes Defizit. Sperren Sie Deutschland dauernd von der Welt ab, entziehen Sie ihm die Rohstoffe und den Absatz im Auslande, und das deutsche Volk in allen seinen Schichten ist seiner notwendigsten Kleidung beraubt, die deutsche Textilindustrie, die heute zusammen mit der Bekleidungsindustrie 1.400.000 erwachsene und jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen ernährt, ist ruiniert.
Gehen wir weiter. Das Rückgrat der heutigen Großindustrie ist die so- |548| genannte schwere Industrie: die Maschinenproduktion und die Metallbearbeitung; das Rückgrat dieser sind aber Metallerze. Deutschland verbraucht (1913) jährlich etwa 17 Millionen Tonnen Roheisen. Seine eigene Gewinnung an Roheisen beträgt gleichfalls 17 Millionen Tonnen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, die deutsche »Volkswirtschaft« decke so ziemlich ihren Bedarf an Eisen selbst. Zur Gewinnung von Roheisen gehören aber Eisenerze, und da finden wir, daß die eigene Förderung Deutschlands nur etwa 27 Millionen Tonnen zum Werte von über 110 Millionen Mark beträgt, während 12 Millionen Tonnen höherwertige Eisenerze für mehr als 200 Millionen Mark, Erze, ohne die die deutsche Metallindustrie gar nicht auskommen könnte, aus Schweden, Frankreich und Spanien bezogen werden.
Ungefähr dasselbe Bild sehen wir in bezug auf die anderen Metalle. Bei einem Jahresverbrauch von 220.000 Tonnen Zink hat Deutschland eine Eigengewinnung von 270.000 Tonnen, von denen 100.000 Tonnen ausgeführt werden, während mehr als 50.000 Tonnen fremden Metalls den deutschen Bedarf mit decken müssen. Die benötigten Zinkerze werden wiederum nur zum Teil in Deutschland gefördert: nämlich etwa eine halbe Million Tonnen im Werte von 50 Millionen Mark. 300.000 Tonnen höherwertige Erze für 40 Millionen Mark müssen vom Auslande bezogen werden. An Blei führt Deutschland 94.000 Tonnen fertigen Metalls und 123.000 Tonnen Erze ein. Endlich was das Kupfer betrifft, so ist die deutsche Produktion bei einem Jahresverbrauch von 241.000 Tonnen mit ganzen 206.000 Tonnen auf die Einfuhr [8] vom Auslande angewiesen. Vollends wird Zinn ganz von auswärts bezogen. - Sperren Sie Deutschland dauernd von der Welt ab, und mit dieser Zufuhr der wertvollsten Metalle sowie mit dem enormen Absatz der deutschen Eisenerzeugnisse und deutscher Maschinen im Auslande schwindet die Existenzbasis der deutschen Metallbearbeitung, die 662.000 Arbeiter beschäftigt, und der Maschinenindustrie, bei der 1.130.000 Arbeiter und Arbeiterinnen ihr Brot finden. Mit der Metall und Maschinenindustrie müßte aber eine ganze Reihe anderer Gewerbezweige, die von jenen Rohstoffe und Werkzeuge beziehen, wie auch solcher, die ihnen Roh- und Hilfsstoffe liefern, namentlich also der Kohlenbergbau, wie endlich auch solcher, die für die gewaltigen Arbeiterarmeen dieser Industriezweige Lebensmittel produzieren, zusammenbrechen.
Erwähnen wir nur noch die chemische Industrie mit ihren 168.000 Arbeitern, die für die ganze Welt produziert. Erwähnen wir die Holzindu- |549| strie, die heute 450.000 Arbeiter beschäftigt, die aber ohne ausländisches Bau- und Nutzholz zum größten Teil ihren Betrieb schließen müßte. Erwähnen wir die Lederindustrie, die ohne ausländische Häute wie auch ohne den großen Absatz im Auslande mit ihren 117.000 Arbeitern auf dem Pflaster liegen würde. Erwähnen wir die Edelmetalle Gold und Silber, die das Geldmaterial und als solches die unentbehrliche Basis des ganzen heutigen Wirtschaftslebens bilden, die aber in Deutschland so gut wie gar nicht produziert werden. Stellen wir uns das alles lebendig vor, und fragen wir dann: Was ist die deutsche »Volkswirtschaft«? Das heißt, vorausgesetzt, daß Deutschland wirklich und dauernd von der übrigen Welt abgeschnitten wäre und seine Wirtschaft ganz allein führen müßte, was würde aus dem heutigen Wirtschaftsleben und somit aus der ganzen heutigen Kultur Deutschlands werden? Ein Produktionszweig würde nach dem anderen zusammenbrechen, einer den anderen in den Abgrund ziehen, eine enorme Proletariermasse ohne Beschäftigung, die ganze Bevölkerung beraubt der notwendigsten Nahrungs- und Genußmittel und der Kleidung, der Handel beraubt seiner Basis, des Edelmetallgeldes, die ganze »Volkswirtschaft« - ein Haufen von Trümmern, ein zerschmettertes Wrack! ...[9]
So sehen die »gewissen Lücken« im deutschen Wirtschaftsleben aus und so der »immer vollkommenere Mikrokosmos«, der sich selbstgefällig im blauen Äther der professoralen Theorie wiegt,
Doch halt! Und der Weltkrieg von 1914, die große Probe aufs Exempel der »Volkswirtschaft«? Hat er nicht die Bücher und Sombart aufs glänzendste gerechtfertigt? Hat er nicht der neidischen Welt gezeigt, wie vortrefflich der deutsche »Mikrokosmos« dank der strammen staatlichen Organisation und der Leistungsfähigkeit der deutschen Technik auch in hermetischer Abschließung vom Weltverkehr existenzfähig, gesund und kräftig ist? Hat nicht die Ernährung des Volkes ohne fremde Landwirtschaft vollauf ausgereicht, und ist nicht das Räderwerk der Industrie ohne Zufuhr aus dem Auslande, ohne Absatz dorthin munter in Bewegung geblieben?
Sehen wir uns die Tatsachen an.
Zunächst die Ernährung. Sie war nicht entfernt von der deutschen Landwirtschaft allein bestritten. Mehrere Millionen erwachsener männlicher Bevölkerung, zur Armee gehörig, wurden fast während der ganzen Dauer des Krieges von fremden Ländern erhalten: von Belgien, Nordfrankreich und zum Teil von Polen und Litauen. Zur Ernährung des deut- |550| schen Volkes wurde also die Fläche der eigenen »Volkswirtschaft« um das ganze Areal der okkupierten Landstriche Belgiens und Nordfrankreichs, im zweiten Kriegsjahre um den westlichen Teil des russischen Reiches vergrößert, die mit ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen in hohem Maße den Ausfall in der deutschen Zufuhr decken mußten. Das ergänzende Gegenstück dazu bildete das grauenhafte Defizit in der Ernährung der einheimischen Bevölkerung jener fremden Landstriche, die ihrerseits - wie zum Beispiel in Belgien - auf dem Wege der Wohltätigkeit von Produkten der amerikanischen Landwirtschaft erhalten wurde. Die zweite Ergänzung bildete in Deutschland die Verteuerung sämtlicher Lebensmittel um 100 bis 200 Prozent und die erschreckende Unterernährung breitester Schichten der einheimischen Bevölkerung,
Ferner das industrielle Räderwerk. Wie konnte dieses im Betrieb erhalten werden ohne die Zufuhr fremder Rohstoffe und anderer Produktionsmittel, deren ungeheuere Wichtigkeit wir kennengelernt haben? Wie konnte ein solches Wunder geschehen? Das Rätsel löst sich auf die einfachste Weise und ohne jedes Wunder. Die deutsche Industrie konnte in Tätigkeit bleiben einzig und allein deshalb, weil sie eben mit den unentbehrlichen ausländischen Rohstoffen fortlaufend gespeist wurde, und zwar bezog sie diese auf dreifachem Wege: erstens aus großen Vorräten, die Deutschland an Baumwolle, an Wolle, an Kupfer etc. in verschiedenster Gestbereits im Lande besaß und nur aus ihren Schlupfwinkeln hervorzulocken und flüssig zu machen brauchte; zweitens aus den Vorräten, die es wiederum in fremden Ländern: Belgien, Nordfrankreich, zum Teil Polen und Litauen, kraft militärischer Okkupation mit Beschlag belegte und für die eigene Industrie nutzbar machte; drittens endlich aus der fortlaufenden Zufuhr vom Auslande, die durch die Vermittlung neutraler Länder (und aus Luxemburg) auch im Laufe des ganzen Krieges nicht aufgehört hatte. Fügt man hinzu, daß die unentbehrliche Voraussetzung dieser ganzen »Kriegswirtschaft« und ihres glatten Fortganges auch noch ein enormer Vorrat ausländischen Edelmetalls war, das in den deutschen Banken aufgeschatzt lag, so erweist sich, daß die hermetische Abschließung der deutschen Industrie und des Handels von der Außenwelt eine ebensolche Legende war wie die ausreichende Ernährung der deutschen Bevölkerung durch die einheimische Landwirtschaft und daß die angebliche Selbstherrlichkeit des deutschen »Mikrokosmos« im Weltkriege somit auf zwei Ammenmärchen beruhte.
Endlich der Absatz der deutschen Industrie, den wir in so hohem Maße in allen Weltgegenden festgestellt haben. Er wurde während der Kriegs- |551| dauer durch den eigenen Kriegsbedarf des Staates ersetzt. Mit anderen Worten hatten die wichtigsten Industriezweige: Metall, Textil, Leder, chemische Industrie, eine Ummodelung erfahren und wurden in ausschließliche Lieferungsindustrien für die Armee verwandelt. Da die Kosten des Krieges von den deutschen Steuerzahlern gedeckt werden, so bedeutete diese Umwandlung der Industrie in Kriegsindustrie, daß die deutsche »Volkswirtschaft«, statt einen großen Teil ihrer Produkte ins Ausland zum Austausch zu schicken, ihn der fortlaufenden Vernichtung im Kriege preisgab, mit dem so entstehenden Verlust aber vermittelst des öffentlichen Kreditsystems die zukünftigen Ergebnisse der Wirtschaft auf Jahrzehnte hinaus belastete.
Nimmt man alles zusammen, dann ist es klar, daß das wunderbare Gedeihen des »Mikrokosmos« im Kriege nach jeder Richtung ein Experiment darstellte, von dem es nur eine Frage war, wie lange es hingezogen werden kann, ohne daß das künstliche Gebäude wie ein Kartenhaus zusammenstürzt.
Jetzt noch einen Blick auf eine merkwürdige Erscheinung. Wenn wir den auswärtigen Handel Deutschlands in seinen Gesamtzahlen betrachten, so fällt es auf, daß seine Einfuhr bedeutend größer ist als die Ausfuhr: die erstere betrug 1913 11,6, die letztere 10,9 Milliarden. Und dieses Verhältnis ist nicht etwa eine Ausnahme des genannten Jahres, sondern seit einer längeren Reihe von Jahren zu konstatieren. Dasselbe bei Großbritannien, das 1913 im Gesamteigenhandel für 13 Milliarden Mark ein- und für 10 Milliarden Mark ausführte. Ähnlich liegen die Dinge in Frankreich, in Belgien, in den Niederlanden. Wie ist eine derartige Erscheinung möglich? Will Professor Bücher uns nicht mit seiner Theorie des »Überschusses über den eigenen Bedarf« und der »gewissen Lücken« erleuchten?
Wenn die wirtschaftlichen Beziehungen der verschiedenen »Volkswirtschaften« zueinander sich darin erschöpfen, daß, wie der Professor uns belehrt, die einzelnen »Volkswirtschaften« einander, wie schon zu Zeiten Nebukadnezars, ihre jeweiligen »Überschüsse« zuwerfen, das heißt, wenn der einfache Warenaustausch die einzige Brücke über den blauen Luftraum ist, der einen dieser »Mikrokosmen« von dem anderen trennt, dann ist es klar, daß ein Land just so viel an fremden Waren einführen kann, wie es an eigenen ausführt. Ist doch das Geld bei einfachem Warenaustausch bloßer Vermittler, und wird die fremde Ware letzten Endes mit der eigenen Ware bezahlt. Wie kann eine »Volkswirtschaft« also das Kunststück fertigbringen, dauernd mehr aus der Fremde einzuführen, als |552| sie an eigenem »Überschuß« ausführt? Vielleicht wird uns der Professor spöttisch zurufen: Aber die Lösung ist die einfachste von der Welt: Das einführende Land braucht den Überschuß seiner Einfuhr über seine Ausfuhr bloß mit barem Gelde zu begleichen. Allein, mit Verlaub! Einen solchen Luxus, jahrein, jahraus in den Abgrund seines auswärtigen Handels eine beträchtliche Summe baren Geldes auf Nimmerwiedersehen zu schmeißen, könnte sich höchstens ein Land mit reichen eigenen Gold und Silbergruben leisten, was weder auf Deutschland noch auf Frankreich, weder auf Belgien noch auf die Niederlande zutrifft. Außerdem sehen wir - o Wunder! - die folgende Überraschung: Deutschland führt nicht bloß ständig mehr Waren, sondern auch mehr Geld ein als aus! So betrug im Jahre 1913 die deutsche Einfuhr an Gold und Silber 441,3 Millionen Mark, die Ausfuhr 102,8 Millionen Mark, und ungefähr dasselbe Verhältnis schon seit Jahren. Was sagt Professor Bücher mit seinen »Überschüssen« und seinen »Lücken« zu diesem Rätsel? Die Zauberlampe flackerte trübselig. In der Tat. Wir fangen an zu ahnen, daß hinter dem rätselhaften Zeichen des Welthandels wohl noch ganz andersgeartete ökonomische Verhältnisse zwischen den einzelnen »Volkswirtschaften« bestehen müssen als einfacher Warenaustausch; ständig von anderen Ländern mehr an Produkten kriegen, als man ihnen von Eigenem abgibt, könnte offenbar nur ein Land, das etwa ökonomische Forderungsrechte an jene anderen hätte. Rechte, die vom Austausch zwischen Gleichen durchaus verschieden sind. Und solche Forderungsrechte und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Ländern bestehen in der Tat auf Schritt und Tritt, obwohl professorale Theorien nichts von ihnen wissen. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis, und zwar in einfachster Form, ist das eines sogenannten Mutterlandes zu seiner Kolonie. Großbritannien zieht aus seiner größten Kolonie, Britisch-Indien, jährlich über 1 Milliarde Mark Tribut in verschiedener Form. Und wir sehen dementsprechend, daß die Warenausfuhr Indiens nur 1,2 Milliarden Mark jährlich seine Einfuhr übertrifft. Dieser »Überschuß« ist nichts anderes als der ökonomische Ausdruck der kolonialen Ausbeutung Indiens durch den englischen Kapitalismus - ob wir uns die Waren als direkt für Großbritannien bestimmt denken oder ob Indien an alle möglichen Staaten jedes Jahr für 1,2 Milliarden Mark Waren speziell zu dem Zwecke verkaufen muß, um den Tribut an seine englischen Ausbeuter zu entrichten.[10] Aber es gibt noch andere |553| wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse, die nicht durch politische Gewaltherrschaft begründet sind. Rußland führt jährlich um 1 Milliarde Mark mehr Waren aus als ein. Ist es etwa der große »Überfluß« an Bodenprodukten über die Bedürfnisse der eigenen »Volkswirtschaft«, was diesen gewaltigen Warenstrom jährlich aus dem russischen Reich wegdräniert? Aber der russische Muschik, dessen Korn in dieser Weise aus dem Lande geführt wird, krankt bekanntlich an Skorbut vor Unterernährung und verzehrt häufig Brot mit reichlicher Zutat an Baumrinde! Die massenhafte Ausfuhr seiner Brotfrucht ist eben unter Vermittlung eines zweckentsprechenden Finanz- und Steuersystems im Innern eine blanke Lebensnotwendigkeit für den russischen Staat, um dessen Verpflichtungen aus auswärtigen Anleihen nachzukommen. Rußlands staatlicher Apparat wird seit dem famosen Zusammenbruch im Krimkriege und seit seiner Modernisierung durch Reformen Alexanders II. in hohem Maße durch geliehenes Kapital aus Westeuropa, in der Hauptsache aus Frankreich, bestritten. Um auf die französischen Anleihen Zinsen zahlen zu können, muß Rußland jährlich Massen von Weizen, Holz, Flachs, Hanf, Rindern und Geflügel an England, Deutschland, die Niederlande verkaufen. Der enorme Überschuß der russischen Ausfuhr repräsentiert somit den Tribut des Schuldners an den Gläubiger, ein Verhältnis, dem auf seiten Frankreichs ein großer Überschuß an Einfuhr entspricht, der nichts anderes als die vom Leihkapital eingeheimsten Zinsen darstellt. Aber in Rußland selbst zieht sich die Kette der ökonomischen Zusammenhänge weiter. Das geliehene französische Kapital dient seit Jahrzehnten in der Hauptsache zu zwei Zwecken: Eisenbahnbau mit Staatsgarantien und Militärrüstungen. Zur Bedienung beider ist in Rußland seit den siebziger Jahren - unter dem Schutze des Hochschutzzollsystems - eine starke Großindustrie entstanden. Das Leihkapital aus dem alten kapitalistischen Lande Frankreich hat in Rußland einen jungen Kapitalismus großgezogen, der aber seinerseits nachhaltig der Unterstützung und Ergänzung durch eine bedeutende Einfuhr an Maschinen und anderen Produktionsmitteln aus technisch führenden Industrieländern, England und Deutschland, bedarf. So schlingt sich zwischen Rußland, Frankreich, Deutschland, England ein Band ökonomischer Zusammenhänge, von denen der Warenaustausch nur das letzte knappe Wort ist.
Doch ist die Mannigfaltigkeit der Zusammenhänge damit noch nicht erschöpft. Ein Land wie die Türkei oder China gibt dem professoralen |554| Schema ein neues Rätsel auf: Es hat, umgekehrt wie Rußland und ähnlich wie Deutschland und Frankreich, eine stark überwiegende Einfuhr, die in manchem Jahr nahezu das Doppelte der Ausfuhr beträgt. Wie können sich die Türkei oder China den Luxus einer so reichlichen Ausfüllung eigener »Lücken« in der »Volkswirtschaft« leisten, da diese ihre Volkswirtschaften nicht entfernt entsprechende »Überschüsse« abzugeben imstande sind? Wird dem Halbmond und dem Reiche des Zopfes etwa jahrein, jahraus von den europäischen Westmächten in christlicher Liebe ein Geschenk von mehreren 100 Millionen Mark in Gestvon allerlei nützlichen Waren gemacht? Aber jedes Kind weiß, daß sowohl die Türkei wie China vielmehr über die Ohren in den Krallen des europäischen Wuchers stecken und den englischen, deutschen, französischen Bankhäusern enorme Tribute an Zinsen zahlen müssen. Nach dem russischen Beispiel müßte sowohl die Türkei wie China also umgekehrt einen Überschuß an Ausfuhr von eigenen Landesprodukten aufweisen, um an ihre westeuropäischen Wohltäter Zinsen zahlen zu können. Allein in der Türkei wie in China ist die sogenannte »Volkswirtschaft« grundverschieden von der russischen. Die auswärtigen Anleihen werden zwar gleichfalls in der Hauptsache zu Eisenbahnbauten, Hafenanlagen sowie zu Militärrüstungen verwendet. Aber die Türkei besitzt bis jetzt so gut wie gar keine eigene Industrie und kann sie aus dem Boden einer mittelalterlichen bäuerlichen Naturalwirtschaft mit ihrem primitiven Feldbau und ihrem Zehnten nicht plötzlich stampfen. Ungefähr dasselbe in abweichenden Formen ist in China der Fall. Darum müssen nicht nur der gesamte Bedarf der Bevölkerung an Industrieerzeugnissen, sondern auch alle für die Verkehrskonstruktionen wie für die Ausrüstung von Heer und Flotte notwendigen Hilfsmittel fertig aus Westeuropa bezogen und von europäischen Unternehmern, Technikern, Ingenieuren an Ort und Stelle in Ausführung genommen werden. Ja die Anleihen sind häufig im voraus an solche Lieferungen geknüpft. China kriegt zum Beispiel von dem deutschen und österreichischen Bankkapital eine Anleihe nur unter der Bedingung, daß es gleich bei den Skoda-Werken und bei Krupp für eine bestimmte Summe Rüstungen bestellt; andere Anleihen werden von vornherein an Konzessionen zur Ausführung von Eisenbahnen geknüpft. So wandert das europäische Kapital nach der Türkei, nach China meist gleich schon als Waren (Militärrüstungen) oder als Industriekapital in natura in Gestvon Maschinen, Eisen usw. Diese letzteren Waren fließen hin nicht zum Austausch, sondern zur Profiterzeugung. Die Zinsen auf dieses Kapital nebst übrigen Profiten werden von den europäischen Kapitalisten im Lande |555| selbst aus dem türkischen Bauern resp. aus dem chinesischen Bauern mit Hilfe eines entsprechenden Steuersystems unter europäischer Finanzkontrolle herausgeschunden. Hinter den knappen Zahlen der überwiegenden türkischen oder chinesischen Einfuhr und der entsprechenden europäischen Ausfuhr lauert so das eigenartige Verhältnis zwischen dem reichen großkapitalistischen Westen und dem von ihm ausgesogenen armen und zurückgebliebenen Orient, der von jenem mit den modernsten und großartigsten Verkehrsanlagen und Militäreinrichtungen versehen wird - und zugleich mit dem reißenden Ruin der alten bäuerlichen »Volkswirtschaft«. Noch einen anderen Fall zeigen uns die Vereinigten Staaten. Hier übertrifft wiederum, wie in Rußland, die Ausfuhr um ein bedeutendes die Einfuhr - die letztere betrug 1913 7,4, die erstere 10,2 Milliarden Mark -; aber die Ursachen dieser Erscheinung sind von den russischen grundverschieden. Freilich verschlingt auch die amerikanische Union enorme Mengen europäischen Kapitals. Schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts saugt die Londoner Börse ganze Stöße amerikanischer Anleihepapiere und Anteilscheine auf; die Spekulation in amerikanischen Gründungen und Papieren zeigte bis in die sechziger Jahre wie ein Fieberthermometer jedesmal den nahen Ausbruch einer großen englischen Industrie und Handelskrise an. Seitdem hat der Zufluß englischen Kapitals nach den Vereinigten Staaten nicht aufgehört. Dieses Kapital wandert nach der Union zum Teil als Leihkapital an die Städte und Privatgesellschaften, meistens jedoch als Industriekapital: sei es, daß an der Londoner Börse amerikanische Eisenbahn- und Industriepapiere gekauft werden, sei es, daß englische Industriekartelle in der Union eigene Filialen gründen, um die hohe Zollmauer zu umgehen, oder daß sie durch Aufkauf der Aktien dortige Unternehmungen an sich bringen, um ihre Konkurrenz auf dem Weltmarkt loszuwerden. Die Vereinigten Staaten besitzen denn auch heute eine hochentwickelte und immer rascher fortschreitende Großindustrie, die, während ihr immerfort aus Europa Geldkapital zufließt, selbst schon in steigendem Maße Industriekapital - Maschinen, Kohle - nach Kanada, Mexiko und anderen zentral- und südamerikanischen Ländern ausführt. Die Vereinigten Staaten verbinden auf diese Weise eine enorme Ausfuhr an Rohprodukten: Baumwolle, Kupfer, Weizen, Holz, Petroleum, nach den alten kapitalistischen Ländern mit einer wachsenden industriellen Ausfuhr nach den jungen Ländern beginnender Industrialisierung. In dem großen Ausfuhrüberschuß der amerikanischen Union spiegelt sich so das eigentümliche Übergangsstadium von einem Kapital empfangenden Agrarland zum Kapital ausführenden Industrieland, die Rolle eines ver- |556| mittelnden Gliedes zwischen dem alten kapitalistischen Europa und dem jungen zurückgebliebenen amerikanischen Kontinent.
Überblickt man im ganzen diese große Auswanderung des Kapitals aus den alten Industrieländern nach den jungen und die ihr entsprechende Rückwanderung der aus jenem Kapital bezogenen Einkommen, die als Tribut der jungen Länder jährlich an die alten zurückfließen, so ergeben sich hauptsächlich drei gewaltige Ströme. England hatte nach Schätzungen aus dem Jahre 1906 schon damals in seinen Kolonien und im Auslande 54 Milliarden Mark angelegt, wovon es ein jährliches Einkommen von 2,8 Milliarden Mark als Zinsen bezog. Das Auslandskapital Frankreichs betrug um dieselbe Zeit 32 Milliarden Mark mit einer Jahreseinnahme von mindestens 1,3 Milliarden Mark. Endlich Deutschland hatte vor 10 Jahren bereits 26 Milliarden Mark im Auslande angelegt, die ihm etwa 1,24 Milliarden Mark jährlich eintrugen. Seitdem sind diese Anlagen wie Einkommen rapid gewachsen. Die großen Hauptströme verteilen sich aber zum Schluß in dünnere Nebenflüsse. Wie die Vereinigten Staaten den Kapitalismus weiter auf dem amerikanischen Kontinent verbreiten, so überträgt sogar Rußland - selbst noch ganz von französischem Kapital, von englischer und deutscher Industrie gespeist - bereits Leihkapital wie Industrieerzeugnisse auf seine asiatischen Hinterländer: nach China, Persien, Zentralasien; es beteiligt sich am Eisenbahnbau in China usw.
So entdecken wir hinter den trockenen Hieroglyphen des internationalen Handels ein ganzes Netz von wirtschaftlichen Verschlingungen, die mit dem einfachen Warenaustausch, der allein für die Professoralweisheit existiert, nichts zu tun haben.
Wir entdecken, daß die Unterscheidung des gelehrten Herrn Bücher nach Ländern der Industrieproduktion und nach Ländern der Rohproduktion, auf welches hölzerne Gerüst er den internationalen Austausch spannt, selbst nur ein rohes Produkt der professoralen Schematik ist. Parfümerie, Baumwollstoffe und Maschinen sind gleichermaßen Fabrikate. Aber die Ausfuhr der ersten aus Frankreich zeigt nur, daß Frankreich das Land der Luxusproduktion für die dünne Schicht der reichen Bourgeoisie in der ganzen Welt ist; die Ausfuhr von Baumwollstoffen aus Japan beweist, daß Japan um die Wette mit Westeuropa in ganz Ostasien die hergebrachte bäuerliche und handwerksmäßige Produktion untergräbt und durch den Warenhandel verdrängt; die Ausfuhr von Maschinen aus England, Deutschland und den Vereinigten Staaten aber zeigt, daß diese drei Länder die Großindustrie selbst nach allen Weltgegenden verpflanzen.
Wir entdecken also, daß heute eine »Ware« ausgeführt und eingeführt |557| wird, die zu König Nebukadnezars Zeiten und auch in der ganzen antiken und mittelalterlichen Geschichtsperiode unbekannt war: das Kapital. Und diese Ware dient nicht dazu, »gewisse Lücken« fremder »Volkswirtschaften« auszufüllen, sondern umgekehrt dazu, Lücken zu schaffen, Risse und Spalten im Gemäuer altertümlicher »Volkswirtschaften« zu öffnen, in sie einzudringen und, wie Sprengpulver wirkend, über kurz oder lang jene »Volkswirtschaften« in Trümmerhaufen zu verwandeln. Mit der »Ware« Kapital werden so noch merkwürdigere »Waren« immer massenhafter aus einigen alten Ländern nach der ganzen Welt getragen; moderne Verkehrsmittel und Ausrottung ganzer eingeborene Völkerschaften, Geldwirtschaft und Verschuldung des Bauerntums, Reichtum und Armur, Proletariat und Ausbeutung, Unsicherheit der Existenz und Krisen, Anarchie und Revolutionen. Die europäischen »Volkswirtschaften' strecken ihre Polypenarme nach sämtlichen Ländern und Völkern der Erde aus, um sie in einem großen Netz der kapitalistischen Ausbeutung zu erwürgen.
Fußnoten von Rosa Luxemburg
(1) [Karl Bücher:] Die Entstehung der Volkswirtschaft, [Vorträge und Versuche,] 5. Aufl. [Tübingen 1906], S. 141/142. <=
(2) W[erner] Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert, 2. Aufl., [Berlin] 1909, S. 400-420. <=
Redaktionelle Anmerkungen
[1] Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. In 2 Bänden, London 1776. <=
[3] Die Differenz um 2 bzw. 1 Million Mark bei der Addition der Zahlen ergibt sich daraus, daß R. L. bei ihrer Aufstellung die Tausender weggelassen, diese aber in der Endsumme berücksichtigt hat. <=
[5] Hermann Schulze-Delitzsch: Capitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus. Sechs Vorträge vor dem Berliner Arbeiterverein, Leipzig 1863, S. 15. <=
[6] Ferdinand Lassalle: Herr Bastiat - Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian, oder Kapital und Arbeit. In: Ferd. Lassalle's Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung hrsg. von Ed. Bernstein, Dritter Band, Berlin 1893, S. 275. <=
[7] Gottfried August Bürger: Leonore. In: Bürgers Werke in einem Band, Weimar 1962, S. 67. <=
[8] In der Quelle: Ausfuhr. <=
[10] Randnotiz R. L.: Hintergrund in Indien: die »Volkswirtschaft« der Bauerngemeinde bricht zusammen. Industrie ... Die stummen Zahlen der Ein- und Ausfuhr sprechen eine eindringliche Sprache davon. <=
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