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Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Einführung in die Nationalökonomie«, S. 757-762.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie

IV. Lohnarbeit - 5.


|757| Wir haben bis jetzt untersucht, welche Lebenshaltung die kapitalistische Warenwirtschaft der Arbeiterklasse und ihren verschiedenen Schichten sichert. Aber wir wissen noch nichts Genaues vom Verhältnis dieser Lebenshaltung der Arbeiter zum gesellschaftlichen Reichtum im ganzen. Denn die Arbeiter können zum Beispiel in einem Falle mehr Lebensmittel, reichlichere Nahrung, bessere Kleidung als früher haben, wenn aber der Reichtum der anderen Klassen noch viel schneller gewachsen ist, so ist der Anteil der Arbeiter am gesellschaftlichen Produkt kleiner geworden. Die |758| Lebenshaltung der Arbeiter an sich, absolut genommen, kann also steigen, während ihr Anteil, relativ zu anderen Klassen genommen, sinken kann. Die Lebenshaltung jedes Menschen und jeder Klasse kann aber nur dann richtig beurteilt werden, wenn man sie an den Verhältnissen der gegebenen Zeit und der anderen Schichten derselben Gesellschaft einschätzt. Der Fürst eines primitiven, halbwilden oder barbarischen Negerstammes in Afrika hat eine niedrigere Lebenshaltung, das heißt einfachere Wohnung, schlechtere Kleidung, rohere Nahrung, als ein durchschnittlicher Fabrikarbeiter in Deutschland. Aber dieser Fürst lebt doch im Vergleich mit den Mitteln und Anforderungen seines Stammes »fürstlich«, wenn der Fabrikarbeiter in Deutschland, verglichen mit dem Luxus der reichen Bourgeoisie und den Bedürfnissen der heutigen Zeit, recht armselig lebt. Um also die Stellung der Arbeiter in der heutigen Gesellschaft richtig zu beurteilen, ist es notwendig, nicht nur den absoluten Lohn, das heißt die Größe des Arbeitslohnes an sich, sondern auch den relativen Lohn, das heißt den Anteil, den der Lohn des Arbeiters am ganzen Produkt seiner Arbeit ausmacht, zu untersuchen. Wir haben in unserem Beispiel früher angenommen, der Arbeiter müsse bei elfstündigem Arbeitstag die ersten sechs Stunden seinen Lohn, das heißt seine Lebensmittel, abarbeiten und dann fünf Stunden umsonst für den Kapitalisten Mehrwert schaffen. In diesem Beispiel haben wir also vorausgesetzt, daß die Herstellung von Lebensmitteln für den Arbeiter sechs Stunden Arbeit kostet. Wir haben auch gesehen, daß der Kapitalist mit allen Mitteln die Lebenshaltung des Arbeiters herabzudrücken sucht, um möglichst die unbezahlte Arbeit, den Mehrwert, zu vergrößern. Nehmen wir aber an, die Lebenshaltung des Arbeiters ändere sich nicht, das heißt, er sei in der Lage, sich immer die selbe Menge Nahrung, Kleidung, Wäsche, Möbel etc. zu verschaffen. Nehmen wir also an, der Lohn gehe absolut genommen nicht herunter. Wenn jedoch die Herstellung aller dieser Lebensmittel durch Fortschritte in der Produktion billiger geworden ist und jetzt zum Beispiel weniger Zeit erfordert, so wird jetzt der Arbeiter kürzere Zeit brauchen, um seinen Lohn abzuarbeiten. Nehmen wir an, die Menge Nahrung, Kleidung, Möbel usw., die der Arbeiter täglich braucht, erfordere nun nicht mehr sechs Stunden Arbeit, sondern nur noch fünf. Dann wird der Arbeiter bei seinem elfstündigen Arbeitstag nicht sechs, sondern bloß fünf Stunden für die Ersetzung seines Lohnes arbeiten, und es bleiben ihm ganze sechs Stunden für die unbezahlte Arbeit, zur Schaffung des Mehrwerts für den Kapitalisten. Der Anteil des Arbeiters an seinem Produkt ist um ein Sechstel geringer geworden, der Anteil des Kapitalisten um ein Fünftel |759| gewachsen. Dabei ist aber der absolute Lohn gar nicht gesunken. Ja es kann sogar vorkommen, daß die Lebenshaltung der Arbeiter erhöht wird, das heißt, die absoluten Löhne steigen, sagen wir um 10 Prozent, und zwar nicht bloß die Geldlöhne, sondern auch die reellen Lebensmittel der Arbeiter. Wenn aber die Produktivität der Arbeit in derselben Zeit oder bald darauf um 15 Prozent steigt, dann ist der Anteil der Arbeiter am Produkt, das heißt ihr relativer Lohn, tatsächlich gesunken, trotzdem der absolute Lohn gestiegen ist. Der Anteil des Arbeiters am Produkt hängt also von der Produktivität der Arbeit ab. Mit je weniger Arbeit seine Lebensmittel hergestellt werden, um so geringer sein relativer Lohn. Werden die Hemden, die er trägt, die Stiefel, die Mützen durch Fortschritte der Fabrikation mit weniger Arbeit hergestellt als früher, so mag er sich dieselbe Menge Hemden, Stiefel und Mützen mit seinem Lohn verschaffen können, er bekommt gleichwohl jetzt einen geringeren Teil des gesellschaftlichen Reichtums, der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Aber in den täglichen Gebrauch des Arbeiters gehen in gewissen Mengen alle möglichen Produkte und Rohstoffe ein. Denn nicht bloß die Hemdenfabrikation verbilligt die Lebenshaltung des Arbeiters, sondern auch die Baumwollfabrikation, die für die Hemden Stoff liefert, und die Maschinenindustrie, die die Nähmaschinen liefert, und die Garnindustrie, die das Garn verschafft. Ebenso verbilligen die Lebensmittel des Arbeiters nicht bloß die Fortschritte in der Bäckerei, sondern auch die amerikanische Landwirtschaft, die das Getreide massenhaft liefert, und die Fortschritte im Eisenbahn und Dampfschiffverkehr, die das Getreide von Amerika nach Europa schaffen usw. So führt jeder Fortschritt der Industrie, jede Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeit dazu, daß der Lebensunterhder Arbeiter immer weniger Arbeit kostet. Der Arbeiter muß also einen immer geringeren Teil seines Arbeitstages für die Ersetzung seines Lohnes verwenden, und immer größer wird der Teil, worin er unbezahlte Arbeit, Mehrwert für den Kapitalisten schafft.

Aber der ständige, unaufhörliche Fortschritt der Technik ist eine Notwendigkeit, eine Lebensbedingung für die Kapitalisten. Die Konkurrenz zwischen den einzelnen Unternehmern zwingt jeden von ihnen dazu, seine Produkte möglichst billig, das heißt mir möglichster Ersparnis der menschlichen Arbeit, herzustellen. Und hat irgendein Kapitalist in seiner Fabrik ein neues, verbessertes Verfahren eingeführt, so zwingt dieselbe Konkurrenz alle anderen Unternehmer derselben Branche, gleichfalls die Technik zu verbessern, um sich nicht aus dem Felde, das heißt vom Warenmarkt schlagen zu lassen. Dies drückt sich nach außen hin sichtbar [aus] in der |760| allgemeinen Einführung des Maschinenbetriebs an Stelle des Handbetriebes und der immer rascheren Einführung neuer, verbesserter Maschinen an Stelle der alten. Technische Erfindungen auf allen Gebieten der Produktion sind das tägliche Brot geworden. So ist die technische Umwälzung der gesamten Industrie, sowohl in der eigentlichen Produktion wie in den Verkehrsmitteln, eine unaufhörliche Erscheinung, ein Lebensgesetz der kapitalistischen Warenproduktion. Und jeder Fortschritt in der Produktivität der Arbeit äußert sich in der Verringerung der Menge Arbeit, die zur Erhaltung des Arbeiters nötig ist. Das heißt: Die kapitalistische Produktion kann keinen Schritt vorwärts machen, ohne den Anteil der Arbeiter am gesellschaftlichen Produkt zu verringern. Mit jeder neuen Erfindung der Technik, mit jeder Verbesserung der Maschinen, mit jeder neuen Anwendung von Dampf und Elektrizität in der Produktion und im Verkehr wird der Anteil des Arbeiters am Produkt kleiner und der Anteil der Kapitalisten größer. Der relative Lohn fällt immer tiefer und tiefer, unaufhaltsam und ununterbrochen, der Mehrwert, das heißt der unbezahlte, aus dem Arbeiter erpreßte Reichtum der Kapitalisten, wächst ebenso unaufhaltsam und ständig immer höher und höher.

Wir sehen auch hier wieder einen schlagenden Unterschied zwischen der kapitalistischen Warenproduktion und allen früheren Wirtschaftsformen der Gesellschaft. In der primitiven kommunistischen Gesellschaft wird, wie wir wissen, das Produkt direkt nach der Produktion zwischen alle Arbeitenden, das heißt alle Mitglieder, denn es gibt noch so gut wie keine Nichtarbeiter, gleichmäßig verteilt. Unter den Hörigkeitsverhältnissen ist nicht Gleichheit, sondern Ausbeutung der Arbeitenden durch Nichtarbeitende maßgebend. Aber es wird nicht der Anteil des Arbeitenden, des Fronbauern, an der Frucht seiner Arbeit bestimmt, sondern es wird, umgekehrt, der Anteil des Ausbeuters, des Fronherrn, genau fixiert als bestimmte Fronden und Abgaben, die er vom Bauern zu bekommen hat. Was danach übrigbleibt an Arbeitszeit und an Produkt, ist Anteil des Bauern, so daß dieser in normalen Verhältnissen, vor der äußersten Ausartung der Leibeigenschaft, in gewissem Umfang die Möglichkeit hat, durch Anspannen seiner Arbeitskräfte seinen eigenen Anteil zu vergrößern. Freilich wird dieser Anteil des Bauern durch die wachsenden Forderungen des Adels und der Geistlichkeit an Abgaben und Fronden mit dem Fortgang des Mittelalters immer geringer. Aber es sind stets bestimmte, wenn auch noch so willkürlich festgesetzte Normen, sichtbare, von Menschen - und seien diese Menschen auch Unmenschen - festgesetzte Normen, die den Anteil des Fronbauern wie seines feudalen Aussaugers am |761| Produkt bestimmen. Deshalb sieht und fühlt der mittelalterliche Fronbauer und der Leibeigene ganz genau, wenn ihm größere Lasten auferlegt und sein eigener Anteil verkümmert wird. Und daher ist ein Kampf gegen diese Verringerung des Anteils möglich, und er bricht auch tatsächlich, wo dies nur äußerlich möglich, als ein offener Kampf des ausgebeuteten Bauern gegen die Verkürzung seines Anteils an seinem Arbeitsprodukt aus. Unter bestimmten Bedingungen wird dieser Kampf auch von Erfolg gekrönt: Die Freiheit des städtischen Bürgertums ist nicht anders entstanden als dadurch, daß sich die anfänglich hörigen Handwerker allmählich von den mannigfachen Fronden, Kurmeden, Besthaupt, Gewandrecht und wie die tausend Schröpfmittel der Feudalzeit hießen, eines nach dem anderen entledigten, bis sie sich den Rest - die politischen Rechte - im offenen Kampf eroberten.

Bei dem Lohnsystem existieren keine gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen oder auch nur gewaltartigen, willkürlichen Bestimmungen über den Anteil des Arbeiters an seinem Produkt. Dieser Anteil wird bestimmt durch den jeweiligen Grad der Produktivität der Arbeit, durch den Stand der Technik und nicht irgendeine Willkür der Ausbeuter, sondern der Fortschritt der Technik ist es, der den Anteil des Arbeiters unaufhörlich unbarmherzig herabdrückt. Es ist dies also eine ganz unsichtbare Macht, eine einfache mechanische Wirkung der Konkurrenz und der Warenproduktion, die dem Arbeiter eine immer größere Portion seines Produkts entreißt und eine immer kleinere übrigläßt, eine Macht, die still, unmerklich, hinter dem Rücken der Arbeiter ihre Wirkung vollzieht und gegen die deshalb der Kampf ganz unmöglich ist, Die persönliche Rolle des Ausbeuters ist noch sichtbar, wo es sich um den absoluten Lohn, das heißt die reelle Lebenshaltung handelt. Eine Lohnverringerung, die eine Herabdrückung der reellen Lebenshaltung der Arbeiter herbeiführt, ist ein sichtbares Attentat der Kapitalisten gegen die Arbeiter und wird von diesen, wo die Gewerkschaft ihre Wirkung erstreckt, in der Regel mit sofortigem Kampf beantwortet, in günstigen Fällen auch abgewehrt. Hingegen das Sinken des relativen Lohns wird anscheinend ohne die geringste persönliche Teilnahme des Kapitalisten bewirkt, und dagegen haben die Arbeiter innerhalb des Lohnsystems, das heißt auf dem Boden der Warenproduktion, gar keine Möglichkeit des Kampfes und der Abwehr. Gegen die technischen Fortschritte der Produktion, gegen Erfindungen, Maschineneinführung, gegen Dampf und Elektrizität, gegen Verbesserungen der Verkehrsmittel können die Arbeiter nicht ankämpfen. Die Wirkung aller dieser Fortschritte auf den relativen Lohn der Arbeiter ergibt sich aber ganz |762| mechanisch aus der Warenproduktion und aus dem Warencharakter der Arbeitskraft. Deshalb sind die mächtigsten Gewerkschaften ganz ohnmächtig gegen diese Tendenz des relativen Lohns zum rapiden Sinken. Der Kampf gegen das Sinken des relativen Lohns bedeutet deshalb auch den Kampf gegen den Warencharakter der Arbeitskraft, das heißt gegen die kapitalistische Produktion im ganzen. Der Kampf gegen den Fall des relativen Lohns ist also nicht mehr ein Kampf auf dem Boden der Warenwirtschaft, sondern ein revolutionärer, umstürzlerischer Anlauf gegen den Bestand dieser Wirtschaft, er ist die sozialistische Bewegung des Proletariats.

Daher die Sympathien der Kapitalistenklasse für die anfänglich grimmig bekämpften Gewerkschaften, nachdem der sozialistische Kampf begonnen und insofern sich die Gewerkschaften dem Sozialismus entgegenstellen lassen. In Frankreich waren alle Kämpfe der Arbeiter um die Erringung des Koalitionsrechts bis zu den siebziger Jahren vergeblich, und die Gewerkschaften wurden mit drakonischen Strafen verfolgt. Bald jedoch, nachdem der Kommuneaufstand die gesamte Bourgeoisie in eine wahnsinnige Angst vor dem roten Gespenst versetzt hatte, begann ein plötzlicher schroffer Umschwung der öffentlichen Meinung. Das Leiborgan des Präsidenten Gambetta, die »République Française«, und die ganze herrschende Partei der »satten Republikaner« fängt an, die Gewerkschaftsbewegung zu begönnern, ja eifrig zu propagieren. Den englischen Arbeitern wurden in den Anfängen des 19. Jahrhunderts die enthaltsamen deutschen Arbeiter als Muster vorgehalten, heute wird umgekehrt der englische Arbeiter, und zwar nicht der enthaltsame, sondern der »begehrliche«, beefsteakessende Tradeunionist, dem deutschen Arbeiter als Musterknabe zur Nachahmung empfohlen. So wahr ist es, daß der Bourgeoisie auch der erbittertste Kampf um die Erhöhung des absoluten Lohns der Arbeiter als eine harmlose Kleinigkeit erscheint gegenüber dem Attentat auf das Allerheiligste - auf das mechanische Gesetz des Kapitalismus zum ständigen Herabdrücken des relativen Arbeitslohns.


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