Unser Kampf | | | IV. 7. | | | Inhalt | | | Rosa Luxemburg |
Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Einführung in die Nationalökonomie«, S. 770-778.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|770| Wir haben gesehen, wie nach der stufenweisen Auflösung aller Gesellschaftsformen mit bestimmter planmäßiger Organisation der Produktion - der urkommunistischen Gesellschaft, der Sklavenwirtschaft, der mittelalterlichen Fronwirtschaft - die Warenproduktion entstanden ist. Wir haben ferner gesehen, wie aus der einfachen Warenwirtschaft, das heißt aus der handwerksmäßigen städtischen Produktion am Ausgang des Mittelalters, ganz mechanisch, das heißt ohne Willen und Bewußtsein der Menschen, die heutige kapitalistische Wirtschaft herausgewachsen ist. Im Anfang haben wir die Frage gestellt: Wie ist die kapitalistische Wirtschaft möglich? Dies ist ja auch die Grundfrage der Nationalökonomie als Wissenschaft. Nun, die Wissenschaft gibt uns darauf ausreichende Antwort. Sie zeigt uns, daß die kapitalistische Wirtschaft, die angesichts ihrer völligen Planlosigkeit, angesichts des Fehlens jeder bewußten Organisation auf den ersten Blick ein Ding der Unmöglichkeit, ein unentwirrbsres Rätsel ist, sich trotzdem zu einem Ganzen fügt und existieren kann. Und zwar:
durch den Warenaustausch und die Geldwirtschaft, womit sie alle Einzelproduzenten wie die entlegensten Gebiete der Erde miteinander wirtschaftlich verbindet und so die Arbeitsteilung in der ganzen Welt durchsetzt;
durch die freie Konkurrenz, die den technischen Fortschritt sichert und zugleich die kleinen Produzenten beständig in Proletarier verwandelt, womit dem Kapital die käufliche Arbeitskraft zugeführt wird;
durch das kapitalistische Lohngesetz, das einerseits mechanisch dafür sorgt, daß die Lohnarbeiter sich nie aus dem Proletarierstand erheben und der Arbeit unter dem Kommando des Kapitals entrinnen, andererseits eine immer größere Anhäufung der unbezahlten Arbeit zu Kapital und damit immer größere Ansammlung und Ausdehnung der Produktionsmittel ermöglicht;
durch die industrielle Reservearmee, die der kapitalistischen Produktion jede Ausdehnungs- und Anpassungsfähigkeit an die Bedürfnisse der Gesellschaft gestattet;
durch die Ausgleichung der Profitrate, die die ständige Bewegung des Kapitals aus einem Produktionszweig in einen anderen bedingt und so das Gleichgewicht der Arbeitsteilung reguliert; endlich
|771| durch die Preisschwankungen und Krisen, die teils täglich, teils periodisch einen Ausgleich zwischen der blinden und chaotischen Produktion und den Bedürfnissen der Gesellschaft herbeiführen.
Auf diese Weise, durch die mechanische Wirkung der obigen wirtschaftlichen Gesetze, die ganz von selbst, ohne jede bewußte Einmischung der Gesellschaft entstanden sind, existiert die kapitalistische Wirtschaft. Das heißt, auf diese Weise wird es ermöglicht, daß, trotzdem jeder organisierte wirtschaftliche Zusammenhang zwischen den einzelnen Produzenten fehlt, trotz der gänzlichen Planlosigkeit in dem wirtschaftlichen Treiben der Menschen, die gesellschaftliche Produktion und ihr Kreislauf mit der Konsumtion vor sich geht, die große Masse der Gesellschaft an der Arbeit gehalten wird, die Bedürfnisse der Gesellschaft schlecht oder recht gedeckt werden und der ökonomische Fortschritt: die Entwicklung der Produktivität der menschlichen Arbeit, als die Grundlage des ganzen Kulturfortschritts gesichert ist.
Dies sind aber die Grundbedingungen der Existenz jeder menschlichen Gesellschaft, und solange eine geschichtlich entstandene Wirtschaftsform diesen Bedingungen Genüge tut, kann sie ihrerseits bestehen, ist sie eine historische Notwendigkeit.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind aber keine starren, unbeweglichen Formen. Wir haben gesehen, wie sie im Laufe der Zeiten vielfache Veränderungen aufwiesen, wie sie einem ewigen Wechsel unterworfen sind, in dem sich eben der menschliche Kulturfortschritt, die Entwicklung Bahn bricht. Auf die langen Jahrtausende der urkommunistischen Wirtschaft, die die menschliche Gesellschaft von den ersten Anfängen des noch halbtierischen Daseins zu einer hohen Entwicklungsstufe der Kultur geleiten, zur Ausbildung der Sprache und der Religion, zur Viehzucht und zum Ackerbau, zur seßhaften Lebensweise und zur Dorfbildung, folgt die allmähliche Zersetzung des Urkommunismus, folgt die Ausbildung der antiken Sklaverei, die ihrerseits große neue Fortschritte im gesellschaftlichen Leben mit sich bringt, um wiederum mit dem Verfall der antiken Welt zu enden. Aus der kommunistischen Gesellschaft der Germanen in Mitteleuropa erwächst auf den Trümmern der antiken Welt eine neue Form - die Fronwirtschaft, auf der der mittelalterliche Feudalismus basierte.
Wieder nimmt die Entwicklung ihren ununterbrochenen Fortgang: Im Schoße der feudalen Gesellschaft des Mittelalters entstehen in den Städten Keime einer ganz neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsform, es bilden sich das Zunfthandwerk, die Warenproduktion und ein regelmäßiger Handel |772| heraus, die schließlich die feudale Frongesellschaft zersetzen; sie bricht zusammen, um der kapitalistischen Produktion Platz zu machen, die aus der handwerksmäßigen Warenproduktion dank dem Welthandel, der Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien emporgewachsen ist.
Die kapitalistische Produktionsweise ist ihrerseits schon von vornherein, aus der ganzen enormen Perspektive des historischen Fortschritts betrachtet, keine unabänderliche und für ewige Zeiten bestehende, sondern sie ist ebenso eine bloße Übergangsphase, eine Staffel in der kolossalen Leiter der menschlichen Kulturentwicklung wie jede der vorhergehenden gesellschaftlichen Formen. Und tatsächlich führt die Entwicklung des Kapitalismus selbst bei näherem Zusehen zu seinem eigenen Untergang und über ihn hinaus. Haben wir bis jetzt die Zusammenhänge untersucht, die die kapitalistische Wirtschaft möglich machen, so ist es jetzt an der Zeit, diejenigen kennenzulernen, die sie unmöglich machen. Dazu brauchen wir die eigenen inneren Gesetze der Kapitalsherrschaft nur in ihrer weiteren Wirkung zu verfolgen. Sie sind es selbst, die sich auf einer gewissen Höhe der Entwicklung gegen alle die Grundbedingungen kehren, ohne die die menschliche Gesellschaft nicht bestehen kann. Was die kapitalistische Produktionsweise vor allen früheren besonders auszeichnet, ist, daß sie das innere Bestreben hat, sich mechanisch auf die ganze Erdkugel auszudehnen und jede andere, ältere Gesellschaftsordnung zu verdrängen. In den Zeiten des Urkommunismus war die ganze der historischen Forschung zugängliche Welt gleichfalls mit kommunistischen Wirtschaften bedeckt. Allein zwischen den einzelnen kommunistischen Gemeinden und Stämmen bestanden gar keine oder nur zwischen den benachbarten Gemeinden schwache Beziehungen. Jede solche Gemeinde oder jeder Stamm lebte für sich ein geschlossenes Leben, und wenn wir auch zum Beispiel solche auffallenden Tatsachen finden, daß die mittelalterliche germanische kommunistische Gemeinde und die altperuanische in Südamerika fast gleichnamig waren, indem jene »Mark«, diese »marca« hieß, so ist uns dieser Umstand bis jetzt noch ein unaufgeklärtes Rätsel, wo nicht ein bloßer Zufall. Auch zur Zeit der Verbreitung der antiken Sklaverei finden wir bloß größere oder geringere Ähnlichkeit in der Organisation und den Verhältnissen der einzelnen Sklavenwirtschaften und Sklavenstaaten des Altertums, nicht aber eine Gemeinsamkeit des wirtschaftlichen Lebens zwischen ihnen. Desgleichen wiederholte sich die Geschichte des Zunfthandwerks und seiner Befreiung mit mehr oder weniger Übereinstimmung in den meisten Städten des mittelalterlichen Italiens, Deutschlands, Frankreichs, Hol- |773| lands, Englands usw.; es war dies aber meist die Geschichte jeder Stadt für sich.
Die kapitalistische Produktion dehnt sich auf sämtliche Länder aus, indem sie sie alle nicht bloß gleichartig wirtschaftlich gestaltet, sondern sie zu einer einzigen großen kapitalistischen Weltwirtschaft verbindet.
Im Innern jedes europäischen industriellen Landes verdrängt die kapitalistische Produktion unaufhörlich die kleingewerbliche, handwerksmäßige und die kleine bäuerliche. Gleichzeitig zieht sie alle rückständigen europäischen Länder und alle Länder in Amerika, Asien, Afrika, Australien in die Weltwirtschaft herein. Das geht auf zwei Wegen vor sich: durch den Welthandel und durch die Kolonialeroberungen. Beide begannen Hand in Hand schon seit der Entdeckung Amerikas am Ausgang des 15. Jahrhunderts, dehnten sich im Laufe der folgenden Jahrhunderte weiter aus, nahmen aber besonders im 19. Jahrhundert den größten Aufschwung und dehnen sich immer weiter aus. Beide - Welthandel wie Kolonialeroberungen - wirken Hand in Hand in folgender Weise. Zuerst bringen sie die kapitalistischen Industrieländer Europas in Berührung mit allerlei Gesellschaftsformen anderer Weltteile, die auf älteren Kultur- und Wirtschaftsstufen stehen: bäuerlichen, Sklavenwirtschaften, feudalen Fronwirtschaften, vorwiegend aber mit urkommunistischen. Durch den Handel, in den diese Wirtschaften hineingezogen werden, werden sie rasch zersetzt und zerrüttet. Durch die Gründung der kolonialen Handelsgesellschaften auf fremdem Boden oder durch direkte Eroberung kommen der Grund und Boden, die wichtigste Grundlage der Produktion, sowie auch die Viehherden, wo solche vorhanden sind, in die Hände europäischer Staaten oder der Handelsgesellschaften. Dadurch werden die naturwüchsigen Gesellschaftsverhältnisse und die Wirtschaftsweise der Eingeborenen überall vernichtet, ganze Völker werden zum Teil ausgerottet, zum übrigen Teil aber proletarisiert und in dieser oder jener Form als Sklaven oder Lohnarbeiter unter das Kommando des Industrie und Handelskapitals gestellt. Die Geschichte der jahrzehntelangen Kolonialkriege, die sich durch das ganze 19. Jahrhundert zieht: Aufstände gegen Frankreich, Italien, England und Deutschland in Afrika, gegen Frankreich, England, Holland und die Vereinigten Staaten in Asien, gegen Spanien und Frankreich in Amerika - das ist der lange und zähe Widerstand der alten eingeborenen Gesellschaften gegen ihre Ausrottung und Proletarisierung durch das moderne Kapital, ein Kampf, in dem das Kapital schließlich überall als Sieger hervorgeht.
In erster Linie bedeutet dies eine ungeheure Ausdehnung des Herr- |774| schaftsbereichs des Kapitals, eine Ausbildung des Weltmarkts und der Weltwirtschaft, in der sämtliche bewohnten Länder der Erdkugel gegenseitig füreinander Produzenten und Abnehmer von Produkten sind, einander in die Hand arbeiten, Beteiligte einer und derselben erdumspannenden Wirtschaft sind.
Die andere Seite ist aber die fortschreitende Verelendung immer weiterer Kreise der Menschheit auf dem Erdrund und fortschreitende Unsicherheit ihrer Existenz. Indem an Stelle alter kommunistischer, bäuerlicher oder der Fronverhältnisse mit ihren beschränkten Produktivkräften und geringem Wohlstand, aber festen und gesicherten Existenzbedingungen für alle die kapitalistischen Kolonialverhältnisse, Proletarisierung und Lohnsklaverei treten, zieht für alle betroffenen Völker in Amerika, Asien, Afrika, Australien nacktes Elend, ungewohnte und unerträgliche Arbeitslast und obendrein völlige Unsicherheit der Existenz herauf. Nachdem das fruchtbare und reiche Brasilien für Bedürfnisse des europäischen und nordamerikanischen Kapitalismus in eine riesige Öde und eintönige Kaffeeplantage, ganze Massen der Eingeborenen aber in proletarisierte Lohnsklaven auf den Plantagen verwandelt worden sind, werden diese Lohnsklaven obendrein durch eine rein kapitalistische Erscheinung: die sogenannte »Kaffeekrise«, plötzlich für längere Zeit der Arbeitslosigkeit und dem nackten Hunger preisgegeben. Das reiche und enorme Indien wurde durch die englische Kolonialpolitik nach jahrzehntelangem verzweifeltem Widerstand der Herrschaft des Kapitals unterworfen, und seitdem sind Hungersnot wie Hungertyphus, die Millionen auf einmal dahinraffen, periodische Gäste in der Gegend des Gangesflusses. Im Innern Afrikas sind durch die englische und deutsche Kolonialpolitik binnen der letzten 20 Jahre ganze Völkerschaften zum Teil in Lohnsklaven verwandelt, zum Teil ausgehungert, ihre Knochen in alle Gegenden zerstreut worden. Die verzweifelten Aufstände und die Hungerepidemien in dem Riesenreich China [1] sind die Folgen der Zermalmung der alten bäuerlichen und handwerksmäßigen Wirtschaft dieses Landes durch den Einzug des europäischen Kapitals. Der Einzug des europäischen Kapitalismus nach den Vereinigten Staaten wurde begleitet erst durch die Ausrottung der eingeborenen amerikanischen Indianer und den Raub ihrer Ländereien durch die eingewanderten Engländer, dann durch die Errichtung anfangs |775| des 19. Jahrhunderts einer kapitalistischen Rohproduktion für die englische Industrie, dann durch Versklavung von vier Millionen Afrikanegern, die von europäischen Sklavenhändlern nach Amerika verkauft wurden, um als Arbeitskraft auf den Baumwoll-, Zucker- und Tabakplantagen unter das Kommando des Kapitals gestellt zu werden.
So gerät ein Weltteil nach dem anderen und in jedem Weltteil ein Landstrich nach dem anderen, eine Rasse nach der anderen unentrinnbar unter die Herrschaft des Kapitals, damit aber verfallen immer neue ungezählte Millionen der Proletarisierung, der Versklavung, der Unsicherheit der Existenz, kurz der Verelendung.[2] Die Errichtung der kapitalistischen Weltwirtschaft zieht auf der anderen Seite nach sich Verbreitung immer größeren Elends, einer unleidlichen Arbeitslast und einer wachsenden Unsicherheit der Existenz auf dem ganzen Erdenrund, der die Anhäufung des Kapitals in wenigen Händen entspricht. Die kapitalistische Weltwirtschaft bedeutet immer mehr die Anspannung der ganzen Menschheit zur schweren Arbeit unter zahllosen Entbehrungen und Leiden, unter physischer und geistiger Degeneration zum Zwecke der Kapitalanhäufung. Wir haben gesehen: Die kapitalistische Produktionsweise hat das Eigentümliche, daß für sie die menschliche Konsumtion, die in jeder früheren Wirtschaftsform Zweck war, nur ein Mittel ist, das dem eigentlichen Zweck dient: der Anhäufung von kapitalistischem Profit. Das Selbstwachstum des Kapitals erscheint als Anfang und Ende, als Selbstzweck und Sinn der ganzen Produktion. Das Hirnverbrannte dieser Verhältnisse kommt aber in dem Maße erst zum Vorschein, wie sich die kapitalistische Produktion zur Weltproduktion auswächst. Hier, auf dem Maßstabe der Weltwirtschaft, erreicht das Absurde der kapitalistischen Wirtschaft seinen richtigen Ausdruck in dem Bilde einer ganzen Menschheit, die unter furchtbaren Leiden im Joche einer von ihr selbst unbewußt geschaffenen blinden Gesellschaftsmacht, des Kapitals, stöhnt. Der Grundzweck jeder gesellschaftlichen Produktionsform: die Erhaltung der Gesellschaft durch die Arbeit, die Befriedigung ihrer Bedürfnisse, erscheint erst hier völlig auf den Kopf gestellt, indem die Produktion nicht um der Menschen, sondern um des Profits willen auf der ganzen Erdkugel zum Gesetz und die Unterkonsumtion, ständige Unsicherheit der Konsumtion und zeitweise direkte Nichtkonsumtion der enormen Mehrheit der Menschen zur Regel werden.
Gleichzeitig zieht die Entwicklung der Weltwirtschaft noch andere wichtige Erscheinungen nach sich, und zwar für die Kapitalproduktion selbst. Der Einzug der europäischen Kapitalsherrschaft in die außereuro- |776| päischen Länder macht, wie wir sagten, zwei Etappen durch: zuerst das Eindringen des Handels und dadurch die Hineinziehung der Eingeborenen in den Warenaustausch, zum Teil auch Verwandlung der vorgefundenen Produktionsformen der Eingeborenen in Warenproduktion, dann die Enteignung der Eingeborenen in dieser oder jener Form von ihrem Grund und Boden und damit von den Produktionsmitteln. Diese Produktionsmittel verwandeln sich in den Händen der Europäer in Kapital, während sich die Eingeborenen in Proletarier verwandeln. Den beiden ersten folgt aber in der Regel früher oder später eine dritte Etappe: die Gründung einer eigenen kapitalistischen Produktion in dem Koloniallande, sei es durch eingewanderte Europäer, sei es durch bereicherte Eingeborene. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die erst durch Engländer und andere europäische Auswanderer bevölkert wurden, nachdem die eingeborenen Rothäute in langem Kriege ausgerottet wurden, bildeten erst ein agrarisches Hinterland des kapitalistischen Europas, das Rohstoffe für die englische Industrie, wie Baumwolle und Korn, lieferte, dafür Abnehmer für allerlei Industrieprodukte aus Europa war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ersteht aber in den Vereinigten Staaten eine eigene Industrie, die nicht nur die Einfuhr aus Europa verdrängt, sondern bald in Europa selbst und in anderen Weltteilen dem europäischen Kapitalismus harte Konkurrenz bereitet. In Indien ist dem englischen Kapitalismus gleichfalls ein gefährlicher Konkurrent erstanden in der einheimischen Textil- und sonstigen Industrie. Australien ist denselben Weg der Entwicklung vom Kolonialland zum kapitalistischen Industrieland gegangen. In Japan hat sich schon auf der ersten Etappe - aus dem Anstoß des Welthandels - eine eigene Industrie entwickelt, was Japan vor der Aufteilung als europäisches Kolonialland bewahrt hat. In China kompliziert sich der Prozeß der Zerstückelung und Ausplünderung des Landes durch den europäischen Kapitalismus durch die Anstrengungen des Landes, mit Hilfe Japans eine eigene kapitalistische Produktion zur Abwehr der europäischen zu gründen, wodurch für die Bevölkerung auch verdoppelte komplizierte Leiden erfolgen. Auf diese Weise verbreitet sich nicht nur die Herrschaft und das Kommando des Kapitals über der ganzen Erde durch Schaffung eines Weltmarktes, sondern es verbreitet sich allmählich auch die kapitalistische Produktionsweise auf der ganzen Erdkugel. Damit geraten aber das Ausdehnungsbedürfnis der Produktion und ihr Ausdehnungsgebiet, das heißt die Absatzmöglichkeiten, in immer mißlicheres Verhältnis zueinander. Es ist, wie wir gesehen. das innerste Bedürfnis und Lebensgesetz der kapitalistischen Produktion, daß sie die Möglichkeit hat, nicht stabil |777| zu bleiben, sondern sich immer weiter, und zwar immer rascher auszudehnen, das heißt immer gewaltigere Warenmassen in immer größeren Betrieben mit immer besseren technischen Mitteln immer rascher zu produzieren. An sich kennt diese Ausdehnungsmöglichkeit der kapitalistischen Produktion keine Grenzen, weil der technische Fortschritt und damit auch die Produktivkräfte der Erde keine Grenzen haben. Allein dieses Ausdehnungsbedürfnis stößt auf ganz bestimmte Schranken, nämlich auf das Profitinteresse des Kapitals. Die Produktion und ihre Ausdehnung haben nur so lange Sinn, wie dabei mindestens der »übliche« Durchschnittsprofit herauskommt. Ob dies aber der Fall ist, hängt vom Markt ab, das heißt vom Verhältnis der zahlungsfähigen Nachfrage seitens der Konsumenten und der Menge der produzierten Waren sowie ihren Preisen. Das Profitinteresse des Kapitals, das auf der einen Seite eine immer raschere und immer größere Produktion erfordert, schafft sich also selbst auf Schritt und Tritt Marktschranken, die dem ungestümen Drang der Produktion zur Ausdehnung im Wege stehen. Daraus ergibt sich, wie wir gesehen haben, die Unvermeidlichkeit der industriellen und Handelskrisen, die periodisch das Verhältnis zwischen dem an sich ungebundenen, schrankenlosen kapitalistischen Produktionsdrang und den kapitalistischen Konsumtionsschranken ausgleichen und die Fortexistenz und Weiterentwicklung des Kapitalismus ermöglichen.
Allein, je mehr Länder eine eigene kapitalistische Industrie entwickeln, um so größer das Ausdehnungsbedürfnis und die Ausdehnungsmöglichkeit der Produktion auf der einen Seite, um so geringer im Verhältnis dazu die Ausdehnungsmöglichkeit der Marktschranken. Wenn man die Sprünge vergleicht, in denen die englische Industrie in den sechziger und siebziger Jahren wuchs, als England [3] noch das herrschende kapitalistische Land auf dem Weltmarkt war, mit ihrem Wachstum in den letzten beiden Jahrzehnten, seit Deutschland und die Vereinigten Staaten von Amerika auf dem Weltmarkt England bedeutend verdrängt haben, so ergibt sich, daß das Wachstum im Verhältnis zu früher ein viel langsameres geworden ist. Was aber das Schicksal der englischen Industrie für sich war, das steht unvermeidlich auch der deutschen, der nordamerikanischen und schließlich der Gesamtindustrie der Welt bevor. Unaufhaltsam, mit jedem Schritt ihrer eigenen Fortentwicklung nähert sich die kapitalistische Produktion der Zeit, wo sie sich immer langsamer und schwieriger wird ausdehnen und entwickeln können. Freilich hat die kapitalistische Entwicklung an sich noch eine große Strecke Weges, in dem die kapitalistische Produktions- |778| weise als solche erst noch den geringsten Bruchteil der Gesamtproduktion der Erde darstellt. Sogar in den ältesten Industrieländern Europas bestehen immer noch neben industriellen Großbetrieben sehr viele rückständige kleine handwerksmäßige Betriebe, und vor allem wird der größte Teil der landwirtschaftlichen Produktion, nämlich die bäuerliche, nicht kapitalistisch betrieben. Daneben gibt es in Europa ganze Länder, in denen die Großindustrie kaum entwickelt, die einheimische Produktion aber vorwiegend bäuerlichen und handwerksmäßigen Charakter trägt. Und endlich bilden in den übrigen Weltteilen, ausgenommen den Nordteil Amerikas, kapitalistische Produktionsstätten nur kleine, zerstreute Punkte, während ganz enorme Strecken Landes zum Teil nicht einmal zur einfachen Warenproduktion übergegangen sind. Freilich wird das wirtschaftliche Leben auch aller dieser nicht selbst kapitalistisch produzierenden Gesellschaftsschichten und Länder in Europa wie der außereuropäischen Länder vom Kapitalismus beherrscht. Der europäische Bauer mag selbst noch die primitivste Parzellenwirtschaft führen, er hängt mit Haut und Haaren von der großkapitalistischen Wirtschaft, vom Weltmarkt ab, mit dem ihn der Handel und die Steuerpolitik der kapitalistischen Großstaaten in Berührung gebracht haben. Ebenso werden die primitivsten außereuropäischen Länder durch den Welthandel wie durch die Kolonialpolitik unter die Herrschaft des europäischen und des nordamerikanischen Kapitalismus gebracht. An sich jedoch könnte die kapitalistische Produktionsweise noch eine gewaltige Ausdehnung finden, wenn sie alle rückständigeren Produktionsformen überall verdrängen sollte. Im allgemeinen bewegt sich auch die Entwicklung, wie wir bereits ausgeführt haben, nach dieser Richtung hin. Allein gerade bei dieser Entwicklung verwickelt sich der Kapitalismus in den fundamentalen Widerspruch: Je mehr an Stelle rückständigerer Produktionen die kapitalistische tritt, um so enger werden die durch das Profitinteresse geschaffenen Marktschranken für das Ausdehnungsbedürfnis der bereits bestehenden kapitalistischen Betriebe. Die Sache wird ganz klar, wenn wir uns für einen Augenblick vorstellen, die Entwicklung des Kapitalismus sei so weit vorgeschritten, daß auf der ganzen Erdkugel alles, was von Menschen produziert wird, nur kapitalistisch, das heißt nur von kapitalistischen Privatunternehmern in Großbetrieben mit modernen Lohnarbeitern, produziert wird. Alsdann tritt die Unmöglichkeit des Kapitalismus deutlich zutage.
Redaktionelle Anmerkungen
[1] Randnotiz R. L.: Indien Hungertyphus. <=
[2] Randnotiz R. L.: Ausrottung der primitiven Völker. <=
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