Demokraten und Reaktionäre in Schlesien


Wilhelm Wolff


Wozu das Volk Steuern zahlt


Wilhelm Wolff

Die Gegensätze in Schlesien

Breslau, 12. Juni. Schlesien befindet sich in einer schwierigeren, weil unglaublich verwickelteren Lage als irgendein anderer Teil Deutschlands, mit Ausnahme von Böhmen. Anderswo, wie in den Rheinlanden, ist die Feudalität unter der französischen Herrschaft vollständig zertrümmert, oder sie hat sich wie in vielen Gegenden Nord- und Süddeutschlands in ihrer Reinheit erhalten. Bei uns dagegen lagern die verschiedenen Jahrhunderte des Mittelalters noch immer neben- und übereinander, und in ihrer Mitte hat sich das moderne Leben, die moderne Industrie umfangreich entwickelt. Bald haben wir's mit ungezählten Scharen hohen und niederen Adels zu tun, die gleich verderblichen Heuschreckenschwärmen die Mühen des arbeitenden Volkes zu ihrem Vorteil vernichteten, bald stehen wir der Macht der großen Fabrikherrn und der Finanziers, der hohen Bourgeoisie gegenüber. Nicht selten ist der feudale Grundherr, der sich auf seine Ahnen aus der Hunnenperiode stützt, und der moderne Industrieunternemer, der das Volk im Namen der freien Konkurrenz ausbeutet, friedlich und gemütlich in einer und derselben Person vereinigt.

Die Besitzer von Adelsprivilegien und die Kapitalisten, denen die »freie Konkurrenz« zum gewaltigen Monopol verhilft, sind sich über ihre Zwecke sehr klar. Sie bilden die Partei der Konservativen, die ihre Vorrechte möglichst ungeschmälert forterhalten wollen. Sie verfechten sie aus allen Kräften, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln. Der neuen Bewegung stemmen sie sich als entschiedene Reaktionäre entgegen.

Auf der anderen Seite drängt und stürmt die große Volksmasse mit ihren Forderungen heran. In diesen aber herrscht noch ein Wirrwarr, der ganz den verschiedenen, oft völlig entgegengesetzten Verhältnissen und Lebenslagen entspricht, in welchen sich dieser oder jener Volksteil bisher bewegte.

Im Shakespeareschen Hexenkessel kann es nicht wunderlicher durcheinander brodeln als hier. Die Herren Reaktionäre rühren fleißig drin herum; sie glauben immer noch, des Gebräues Meister zu werden. Sie kennen aber den Zauberspruch nicht oder wollen doch nichts von ihm wissen, und so werden wir bald den Kessel übersprudeln, jene Herren aber verbrannt und versenkt zu Boden liegen sehen. Dies eine Resultat wenigstens kann nicht ausbleiben.

Wenden wir uns zuerst aufs platte Land. Da bestehen hier alle Feudallasten noch in voller Glorie; dort sind sie zum Teil, dort gänzlich abgelöst, jedoch überall mit vielen Geldopfern, Abgabe von Äckern und Übernahme schwerer Renten seitens des Landvolks. Je nachdem das eine oder andere der Fall, ist auch der Haß und die Erbitterung gegen den Adel und die Rittergutsbesitzer überhaupt mehr oder minder groß. Die Zahl der Dörfer, wo alle und jede Feudallast durch Ablösung beseitigt worden, ist verhältnismäßig gering. Gemeinsame Nahrung zieht aber der Volkshaß, die revolutionäre Stimmung der Landbewohner, aus der bisherigen Patrimonialgerichtsbarkeit, der Polizeigewalt der Gutsherren, aus der ungerechten Steuerverteilung. Eine Menge Gutsherren tragen so gut wie gar nichts, oder doch im Verhältnis zu ihrer Einnahme unendlich wenig zu den Staatslasten bei.

Der »Bauer« (Besitzer von mindestens 1/2 Hufe Landes, oft von 2, 3, 4 und mehr Hufen) würde zufriedengestellt sein, wenn die Feudallasten und andere gutsherrliche Vorrechte ohne Entschädigung aufhörten. Der »kleine Mann«, der nur einige Morgen Acker besitzt, verlangt schon mehr; verlangt, daß er noch so viel Acker bekomme, um mit seiner Familie sorgenfrei leben zu können. Der »Häusler« ohne Acker verlangt also noch mehr. Nun kommt aber das ganze zahlreiche Proletariat des platten Landes: Inlieger, Hofeknechte etc. Die Leute sehen vor sich gewaltige Herrschaften, sehen in ihrer Nähe Majorats-, Standes- und andere Gutsherren, von denen einer oft 40, 50, ja 100 Dörfer und Dominien nebst einer ungeheuren Fläche von Forst-, Wiese- und Ackerland besitzt. Wir wollen, rufen sie, so viel davon haben, daß wir endlich auch einmal als Menschen leben können. Dieses Proletariat ist gegen die »Bauern« fast ebenso erbittert als gegen die »gnädigen« Gutsherrschaften. Es will nun ebenfalls »Bauer« werden oder mindestens Freigärtner.

Zu diesem Widerstreit der Interessen gesellt sich an andren Orten, wo die moderne Baumwoll-, Leinen- und Eisenindustrie mit ihren Maschinen, wo ausgedehnter Bergbau betrieben wird, das ganz besondere Interesse des industriellen Proletariats. Soweit das industrielle Proletariat auf dem Lande existiert, wird es von den feudalen Lasten gedrückt und so zugleich im Namen der freien Konkurrenz und im Namen des Mittelalters exploitiert. Auch hier werden entgegengesetzte Forderungen laut: teils dringt man auf Abschaffung der Maschinen, teils auf Übernahme derselben durch den Staat, teils ebenfalls auf Gewährung von Grund und Boden.

In den Städten spricht sich der Kleinbürger, der kleine Meister, und mit ihm eine Anzahl Gesellen für die Herstellung der alten Zünfte aus. Diesem reaktionären Verlangen gegenüber macht die Klasse der Kapitalisten die Notwendigkeit und (die) wohltätigen Folgen der »freien Konkurrenz« geltend.

Das städtische industrielle Proletariat ist das entschiedenste und aufgeklärteste. Es weist die einen wie die andern mit ihren Anpreisungen ab und fordert eine Umgestaltung seiner Stellung, welche nicht reaktionär, sondern progressiv ist.

Zwischen Stadt und Land fand außerdem bisher eine Trenung statt, die namentlich durch völlige Verschiedenheit der Gemeindeverfassung, mehr aber noch dadurch bedingt wurde, daß die städtischen Kommunen, im Besitz von Kammereigütern, Dominien und Vorwerken, zum Landbewohner im Verhältnis des gehaßten mittelalterlichen Gutsherrn standen. Daher kommt es auch zum Teil, daß Magistrate und Stadtverordnete sich in bezug auf Abschaffung der Feudallasten meist reaktionär verhalten. In den Dörfern entschied der Gutsherr; er ernannte den Schulzen und die Gerichtsleute. Ihm und dem Landrat (ebenfalls Gutsbesitzer) war die Dorfgemeinde in jeder Hinsicht preisgegeben. Die Stadt verwaltet sich wenigstens teilweise durch selbstgewählte Vertreter und Beamte. Die Städte waren somit bevorrechtet vor dem platten Land.

Ferner wohnte ja gerade in jenen ein Teil der Leute, gegen welche das Landvolk mit am höchsten aufgebracht ist: Die Juristen und Advokaten (Patrimonialrichter) und die Ablösungskommissionen. Auch die meisten Gutsherren besitzen Häuser in der Stadt und halten sich daselbst den größten Teil des Jahres auf, und das Steueramt ist ebenfalls dort. Das alles trug dazu bei, daß das Landvolk mit zornigem Auge auf die Städte blickte, wo seiner Ansicht nach »Müßiggänger« schwelgten, wo ein Teil seiner Bedrücker in Karossen einherfuhr und sich's von den Steuern und Abgaben der Landleute wohl sein ließ.

Daß die Städte es gewesen, von welchen die Revolution und damit der Anfang zu einer bessern Umgestaltung der Dinge gemacht worden, das hat jene Spannung zwischen Stadt und Land bedeutend vermindert, aber noch nicht völlig aufgehoben; denn gerade hier haben die Reaktionäre mit den ehrlosesten Mitteln fortwährend geschult, um nicht nur die frühere Trennung zu erhalten, sondern auch den alten Haß noch mehr zu entflammen. Zu diesen mannigfaltigen Gegensätzen kommen nun noch die Stamm- und Sprachverschiedenheiten, die Sonderung in Deutsche und Wasserpolacken, und bei dem nicht geringen unaufgeklärten und fanatischen Teile der Bevölkerung die Verschiedenheit der Religionsbekenntnisse. Das alles wird von den Reaktionären bestens benutzt. Doch kann ihnen keine Anstrengung zu ihrem Ziele verhelfen. Sie bewirken lediglich, daß der Ausbruch viel blutiger und heftiger wird und daß der herannahende Sturm sie selbst in erster Reihe zu Boden wirft und für immer hinwegfegt.

Die Russen sind es, die durch ihren Einmarsch den Sturm zum Ausbruch bringen werden; sie werden in das unentwirrbare Durcheinander unsrer zahllosen Stände und Klassen Ordnung bringen; sie werden alle unterdrückten Klassen der Städte wie des Landes zum Sturz der Reaktion zwingen. Schlesien wird bei einem russischen Einfall furchtbar leiden, aber Schlesien selbst hat zu seiner Reinigung von feudalem Unrat, zur Vereinfachung der Klassen- und Parteistellungen die russische Invasion wirklich nötig.

Neue Rheinische Zeitung, 20. Juni 1848.



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Wilhelm Wolff


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