Unser Kampf | 5. Kapitel | Inhalt | 7. Kapitel | Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Die Akkumulation des Kapitals«, S. 79-91.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Die Akkumulation des Kapitals

Sechstes Kapitel.
Die erweiterte Reproduktion


|79| Das Mangelhafte des Schemas der einfachen Reproduktion liegt auf der Hand: Es legt die Gesetze einer Reproduktionsform dar, die unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen nur als gelegentliche Ausnahme stattfinden kann. Die Regel der kapitalistischen Wirtschaftsweise noch mehr als jeder anderen ist nicht einfache, sondern erweiterte Reproduktion.(1)

|80| Trotzdem hat das Schema seine volle wissenschaftliche Bedeutung. Dies in zwiefacher Hinsicht. Praktisch fällt auch bei erweiterter Reproduktion stets der allergrößte Teil des Gesamtprodukts unter die Gesichtspunkte der einfachen Reproduktion. Letztere bildet die breite Basis, auf der jeweilig die Ausdehnung der Produktion über die bisherigen Schranken hinaus stattfindet. Theoretisch bildet ebenso die Analyse der einfachen Reproduktion den unumgänglichen Ausgangspunkt jeder exakten wissenschaftlichen Darstellung der erweiterten Reproduktion. Das Schema der einfachen Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals führt somit von selbst über sich hinaus: zum Problem der erweiterten Reproduktion des Gesamtkapitals.

Wir kennen schon die historische Eigentümlichkeit der erweiterten Reproduktion auf kapitalistischer Basis: Sie muß sich darstellen als Kapitalakkumulation, dies ihre spezifische Form und Bedingung zugleich. Das heißt, die gesellschaftliche Gesamtproduktion - die auf kapitalistischer Basis eine Produktion von Mehrwert ist - kann nur in dem Sinne und in dem Maße jeweilig erweitert werden, wie das bisherige tätige Kapital der Gesellschaft einen Zuwachs aus dem von ihm produzierten Mehrwert erhält. Die Verwendung eines Teils des Mehrwerts - und zwar eines wachsenden Teils - zu produktiven Zwecken statt zur persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse oder zur Aufschatzung - dies ist die Basis der erweiterten Reproduktion unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen.

Element der erweiterten Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals ist - genau wie bei der früher vorausgesetzten einfachen - die Reproduktion des Einzelkapitals. Geht doch die Gesamtproduktion - ob sie als einfache oder als erweiterte betrachtet wird - tatsächlich nur unter der Form von zahllosen selbständigen Reproduktionsbewegungen privater Einzelkapitale vor sich. Die erste erschöpfende Analyse der Akkumulation des Einzelkapitals ist gegeben im Band I des Marxschen »Kapitals«, siebenter Abschnitt, Kapitel 22 und 23. Hier behandelt Marx die Teilung des Mehrwerts in Kapital und Einkommen, die Umstände, die unabhängig von der Teilung des Mehrwerts in Kapital und Revenue die Akkumulation des Kapitals bestimmen, wie Ausbeutungsgrad der Arbeitskraft und Produktivität der Arbeit, ferner das Wachstum des fixen Kapitals im Verhältnis zum zirkulierenden als Moment der Akkumulation, endlich die |81| fortschreitende Bildung der industriellen Reservearmee zugleich als Folge und Voraussetzung des Akkumulationsprozesses. Unterwegs setzt sich Marx hier mit zwei Einfällen der bürgerlichen Ökonomie in bezug auf die Akkumulation auseinander: mit der mehr vulgärökonomischen »Abstinenztheorie«, welche die Teilung des Mehrwerts in Kapital und Einkommen und somit die Akkumulation selbst für eine ethische Heldentat der Kapitalisten ausgibt, und mit dem Irrtum der klassischen Ökonomie, wonach der ganze kapitalisierte Teil des Mehrwertes ausschließlich dazu verwendet wird, »von produktiven Arbeitern verzehrt zu werden«, d.h. in Löhnen für neuanzustellende Arbeiter draufzugehen. Diese irrige Annahme, die völlig außer acht läßt, daß jede Produktionserweiterung nicht bloß in der Vergrößerung der Zahl der beschäftigten Arbeiter, sondern auch in der Vermehrung der sachlichen Produktionsmittel (Baulichkeiten, Instrumente, zum mindesten und auf jeden Fall Rohstoffe) zum Ausdruck kommen muß, fußt offenbar auf dem bereits besprochenen falschen »Dogma« von Ad. Smith. Aus dem Mißverständnis, wonach der Preis aller Waren sich unter völliger Auslassung des konstanten Kapitals - in lauter Löhne und Mehrwert restlos auflöst, ergab sich auch die Annahme, zur Erweiterung der Produktion genüge es, mehr Kapital in Löhnen auszugeben. Merkwürdigerweise übernimmt auch Ricardo, der das Irrtümliche der Smithschen Lehre wenigstens gelegentlich eingesehen hat, ihre irrtümliche Schlußfolgerung mit vielem Nachdruck, indem er sagt: »Man muß verstehen, daß alle Produkte eines Landes konsumiert werden; aber es macht den denkbar größten Unterschied, ob sie konsumiert werden durch solche, die einen anderen Wert reproduzieren, oder durch solche, die ihn nicht reproduzieren. Wenn wir sagen, daß Einkommen erspart und zu Kapital geschlagen wird, so meinen wir, daß der Teil des Einkommens, von dem es heißt, er sei zum Kapital geschlagen, durch produktive statt durch unproduktive Arbeiter verzehrt wird.« Nach dieser seltsamen Vorstellung, die alle hergestellten Produkte von den Menschen verzehren läßt, also für unverzehrbare Produktionsmittel: Werkzeuge und Maschinen, Rohstoffe und Baulichkeiten, im gesellschaftlichen Gesamtprodukt gar keinen Platz übrig hat, geht auch die erweiterte Reproduktion in der merkwürdigen Weise vonstatten, daß statt eines Teils feinerer Lebensmittel für die Kapitalistenklasse im Betrage des kapitalisierten Teils des Mehrwerts einfache Lebensmittel für neue Arbeiter produziert werden. Einer andere Verschiebung als innerhalb der Lebensmittelproduktion kennt die klassische Theorie der erweiterten Reproduktion nicht. Daß Marx mit diesem elementaren Schnitzer Smith-Ricardos spielend fertig wurde, ver- |82| steht sich nach dem Bisherigen von selbst. Genauso wie bei der einfachen Reproduktion neben der Herstellung der erforderlichen Menge Lebensmittel für Arbeiter und Kapitalisten die regelmäßige Erneuerung des konstanten Kapitals - der sachlichen Produktionsmittel - stattfinden muß, ebenso muß bei der Erweiterung der Produktion ein Teil des neuen, zuschüssigen Kapitals zur Vergrößerung des konstanten Kapitalteils, d.h. zur Vermehrung der sachlichen Produktionsmittel, verwendet werden. Hier kommt noch ein anderes von Marx entdecktes Gesetz in Betracht. Der von der klassischen Ökonomie ständig vergessene konstante Kapitalteil wächst im Verhältnis zum variablen, in Löhnen verausgabten Teil beständig. Dies nur der kapitalistische Ausdruck der allgemeinen Wirkungen der zunehmenden Produktivität der Arbeit. Mit dem technischen Fortschritt vermag die lebendige Arbeit in immer kürzerer Zeit immer größere Massen Produktionsmittel in Bewegung zu setzen und zu Produkten zu verarbeiten. Kapitalistisch bedeutet dies eine fortschreitende Abnahme der Ausgaben für lebendige Arbeit, für Löhne, im Verhältnis zu Ausgaben für tote Produktionsmittel. Die erweiterte Reproduktion muß also nicht bloß entgegen der Smith-Ricardoschen Annahme jeweilig mit der Teilung des kapitalisierten Teils des Mehrwerts in konstantes und variables Kapital beginnen, sondern diese Teilung muß mit dem technischen Fortschritt der Produktion eine relativ immer größere Portion für den konstanten und eine relativ immer kleinere für den variablen Kapitalteil zuweisen. Dieser fortwährende qualitative Wechsel in der Zusammensetzung des Kapitals bildet die spezifische Erscheinungsform der Akkumulation des Kapitals, d.h. der erweiterten Reproduktion auf kapitalistischer Basis.(2)

|83| Die andere Seite dieser beständigen Verschiebung im Verhältnis des konstanten zum variablen Kapitalteil ist das, was Marx die Bildung der relativen, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssigen, daher überflüssigen oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung nennt. Die Produktion dieser stets vorrätigen Reserve nichtbeschäftigter Industriearbeiter (hier im weiteren Sinne, mit Einschluß der Proletarier, die unter dem Kommando des Handelskapitals stehen), die ihrerseits die notwendige Voraussetzung der plötzlichen Ausdehnungen der Produktion in den Zeiten der Hochkonjunktur bildet, ist in die spezifischen Bedingungen der Akkumulation des Kapitals eingeschlossen.(3)

Folgende vier Momente der erweiterten Reproduktion haben wir also aus der Akkumulation des Einzelkapitals abzuleiten:

1. Umfang der erweiterten Reproduktion ist in gewissen Grenzen unabhängig von dem Wachstum des Kapitals und kann über dasselbe hinausgehen. Die Methoden, die hierzu führen, sind: Erhöhung der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Naturkräfte, Erhöhung der Produktivität der Arbeit (in letzterer eingeschlossen die Erhöhung der Wirksamkeit des fixen Kapitalteils).

2. Ausgangspunkt jeder wirklichen Akkumulation ist Teilung des zu kapitalisierenden Teils des Mehrwerts in konstantes und variables Kapital.

3. Die Akkumulation als gesellschaftlicher Prozeß wird begleitet von einer ständigen Verschiebung im Verhältnis des konstanten Kapitals zum variablen, wobei der in toten Produktionsmitteln ausgelegte Kapitalteil im Verhältnis zu dem in Löhnen ausgelegten ständig wächst.

4. Die andere Begleiterscheinung und Bedingung des Akkumulationsprozesses ist Bildung der industriellen Reservearmee.

Diese schon der Reproduktionsbewegung des Einzelkapitals abgewonnenen Momente sind ein enormer Schritt über die Analyse der bürgerlichen Ökonomie hinaus. Jetzt ges aber, von der Bewegung des Einzel- |84| kapitals ausgehend, die Akkumulation des Gesamtkapitals darzustellen. Nach dem Schema der einfachen Reproduktion mußten nun auch für die erweiterte Reproduktion sowohl die Wertstandpunkte einer Mehrwertproduktion wie die sachlichen Gesichtspunkte des Arbeitsprozesses (Produktion von Produktionsmitteln und Produktion von Konsummitteln) unter dem Gesichtswinkel der Akkumulation miteinander in exakte Verhältnisse gebracht werden.

Der entscheidende Unterschied der erweiterten Reproduktion von der einfachen besteht darin, daß bei dieser der ganze Mehrwert von der Kapitalistenklasse nebst Anhang konsumiert wird, während bei jener ein Teil des Mehrwerts der persönlichen Konsumtion seiner Besitzer entzogen wird, jedoch nicht um aufgeschatzt, sondern um zum tätigen Kapital geschlagen, kapitalisiert zu werden. Damit jedoch letzteres auch wirklich stattfinden kann, ist erforderlich, daß das neue, zuschüssige Kapital auch die sachlichen Vorbedingungen seiner Betätigung vorfindet. Hier kommt also die konkrete Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts in Betracht. Marx sagt schon im ersten Band des »Kapitals« bei der Betrachtung der Akkumulation des Einzelkapitals:

»Zunächst muß die Jahresproduktion alle die Gegenstände (Gebrauchswerte) liefern, aus denen die im Laufe des Jahres verbrauchten sachlichen Bestandteile des Kapitals zu ersetzen sind. Nach Abzug dieser bleibt das Netto- oder Mehrprodukt. worin der Mehrwert steckt. Und woraus besteht dies Mehrprodukt? Vielleicht in Dingen, bestimmt zur Befriedigung der Bedürfnisse und Gelüste der Kapitalistenklasse, die also in ihren Konsumtionsfonds eingehen? Wäre das alles, so würde der Mehrwert verjubelt bis auf die Hefen, und es fände bloß einfache Reproduktion statt.

Um zu akkumulieren, muß man einen Teil des Mehrprodukts in Kapital verwandeln. Aber, ohne Wunder zu tun, kann man nur solche Dinge in Kapital verwandeln, die im Arbeitsprozeß verwendbar sind, d.h. Produktionsmittel, und des ferneren Dinge, von denen der Arbeiter sich erhalten kann, d.h. Lebensmittel. Folglich muß ein Teil der jährlichen Mehrarbeit verwandt worden sein zur Herstellung zusätzlicher Produktions- und Lebensmittel, im Überschuß über das Quantum, das zum Ersatz des vorgeschossenen Kapitals erforderlich war. Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur deshalb in Kapital verwandelbar, weil das Mehrprodukt, dessen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines neuen Kapitals enthält.«(4)

|85| Freilich genügen auch zuschüssige Produktionsmittel und zuschüssige Lebensmittel für die Arbeiter nicht, es sind noch zuschüssige Arbeitskräfte erforderlich, um die erweiterte Reproduktion in Fluß zu bringen. Diese Bedingung bietet aber nach Marx keine besondere Schwierigkeit. »Dafür hat der Mechanismus der kapitalistischen Produktion ebenfalls schon gesorgt, indem er die Arbeiterklasse reproduziert als vom Arbeitslohn abhängige Klasse, deren gewöhnlicher Lohn hinreicht, nicht nur ihre Erhaltung zu sichern, sondern auch ihre Vermehrung. Diese ihm durch die Arbeiterklasse auf verschiednen Altersstufen jährlich gelieferten zuschüssigen Arbeitskräfte braucht das Kapital nur noch den in der Jahresproduktion schon enthaltnen zuschüssigen Produktionsmitteln einzuverleiben, und die Verwandlung des Mehrwerts in Kapital ist fertig.«(5)

Hier haben wir die erste Lösung, die Marx dem Akkumulationsproblem des Gesamtkapitals gibt. Ohne sich weiter im Band I des »Kapitals« mit dieser Seite der Frage näher zu befassen, kehrt Marx zu dem Problem erst am Schluß des zweiten Bandes seines Hauptwerks zurück: Das letzte, 21. Kapitel ist der Akkumulation und erweiterten Reproduktion des Gesamtkapitals gewidmet.

Sehen wir uns jetzt näher die schematische Darstellung der Akkumulation bei Marx an. Nach dem Beispiel des uns bereits bekannten Schemas der einfachen Reproduktion konstruiert Marx ein Schema der erweiterten Reproduktion. Ein Vergleich beider läßt ihren Unterschied am deutlichsten heraustreten.

Nehmen wir an, das jährliche Gesamtprodukt der Gesellschaft stelle eine Wertgröße von 9.000 dar (worunter Millionen Arbeitsstunden oder, kapitalistisch in Geld ausgedrückt, beliebiger Geldbetrag verstanden werden kann). Dieses Gesamtprodukt sei folgendermaßen verteilt:

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 } Summa 9.000
II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000

Die erste Abteilung stellt Produktionsmittel, die zweite Lebensmittel dar. Ein Blick auf die Zahlenverhältnisse zeigt, daß hier nur einfache Reproduktion stattfinden kann. Die in der ersten Abteilung hergestellten Produktionsmittel gleichen der Summe der von den beiden Abteilungen tatsächlich verbrauchten Produktionsmittel, deren bloße Erneuerung auch nur die Wiederholung der Produktion in dem früheren Umfang gestattet. Andererseits gleicht das ganze Produkt der Lebensmittelabteilung der |86| Summe der Löhne sowie der Mehrwerte in beiden Abteilungen; das zeigt, daß die vorhandenen Lebensmittel auch nur die Beschäftigung der früheren Anzahl von Arbeitskräften gestatten, daß zugleich aber auch der ganze Mehrwert in Lebensmitteln, d.h. in persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse, draufgeht.

Nun nehmen wir aber dasselbe Gesamtprodukt von 9.000 in folgender Zusammensetzung:

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 } Summa 9.000
II. 1.500 c + 750 v + 750 m = 3.000

Hier springt zweierlei Mißverhältnis in die Augen. Die angefertigte Menge von Produktionsmitteln (6.000) übersteigt in ihrem Wert die in der Gesellschaft tatsächlich verbrauchten (4.000 c + 1.500 c) um 500. Zugleich stellt die Menge der hergestellten Lebensmittel (3.000) im Vergleich mit der Summe der gezahlten Löhne, d.h. den Bedürfnissen der Arbeiter (1.000 v + 750 v), sowie der Summe des erzielten Mehrwerts (1000 m + 750 m) ein Defizit von 500 dar. Daraus folgt, daß - da die Verringerung der Anzahl der beschäftigten Arbeitet ausgeschlossen ist - die Konsumtion der Kapitalistenklasse geringer sein muß als der von ihr eingeheimste Mehrwert. Damit sind die beiden Vorbedingungen eingehalten, die zur erweiterten Reproduktion auf kapitalistischer Basis erforderlich sind: Ein Teil des angeeigneten Mehrwerts wird nicht verzehrt, sondern zu produktiven Zwecken verwendet, zugleich werden in vermehrter Menge Produktionsmittel hergestellt, damit der kapitalisierte Mehrwert auch tatsächlich zur Erweiterung der Produktion verwendet werden kann.

Haben wir bei dem Schema der einfachen Reproduktion gefunden, daß ihre gesellschaftlichen Grundbedingungen in dem folgenden exakten Verhältnis eingeschlossen sind: die Summe der hergestellten Produktionsmittel (Produkt der Abteilung I) muß in ihrem Wert dem konstanten Kapital beider Abteilungen gleich sein, die Summe der hergestellten Lebensmittel aber (Produkt der Abteilung II) der Summe der variablen Kapitale wie des Mehrwerts in beiden Abteilungen, so müssen wir für die erweiterte Reproduktion ein umgekehrtes exaktes Doppelverhältnis folgern. Die allgemeine Voraussetzung der erweiterten Reproduktion ist: Das Produkt der Abteilung I ist, dem Werte nach, größer als das konstante Kapital der beiden Abteilungen zusammen, das Produkt der Abteilung II ist, gleichfalls dem Werte nach, geringer als die Summe der variablen Kapitale und des Mehrwerts in beiden Abteilungen.

Damit haben wir jedoch die Analyse der erweiterten Reproduktion |87| noch lange nicht erschöpft, wir stehen vielmehr kaum erst an ihrer Schwelle.

Die abgeleiteten Verhältnisse des Schemas müssen jetzt nämlich in ihrer weiteren Betätigung, im Fluß der Zirkulation und Fortgang der Reproduktion verfolgt werden. Ist die einfache Reproduktion einem und demselben immer von neuem durchlaufenen Kreise zu vergleichen, so gleicht die erweiterte Reproduktion nach dem Ausdruck Sismondis einer Spirale, die immer höher geht. Wir haben also zunächst die Windungen dieser Spirale näher zu untersuchen. Die erste allgemeine Frage ist dabei die: Wie vollzieht sich nun bei den uns jetzt bekannten Voraussetzungen die tatsächliche Akkumulation in beiden Abteilungen, so daß alle Kapitalisten einen Teil ihres Mehrwerts kapitalisieren und zugleich die notwendigen sachlichen Vorbedingungen der erweiterten Reproduktion vorfinden?

Marx erläutert die Frage an der Hand der folgenden schematischen Darstellung.

Nehmen wir an, daß die Hälfte des Mehrwerts von I akkumuliert wird. Die Kapitalisten verwenden also 500 zu ihrer Konsumtion, 500 aber schlagen sie zum Kapital. Dieses zuschüssige Kapital von 500 muß, wie wir nun wissen, um sich zu betätigen, in konstantes und variables verteilt werden. Nehmen wir an, daß das Verhältnis beider trotz der Erweiterung der Produktion dasselbe bleibt wie bei dem Originalkapital, d.h. 4 : 1. Dann werden die Kapitalisten der Abteilung I ihr zuschüssiges Kapital von 500 so verteilen, daß sie für 400 neue Produktionsmittel und für 100 neue Arbeitskräfte ankaufen. Die Beschäftigung neuer Produktionsmittel für 400 bietet keine Schwierigkeiten, wir wissen, daß die Abteilung I für 500 überschüssige Produktionsmittel bereits hergestellt hat. Davon wurden 4/5 also verwendet innerhalb der Abteilung I, um die Erweiterung der Produktion zu bewerkstelligen. Aber die entsprechende Vergrößerung des variablen Kapitals um 100 in Geld genügt nicht, die neuen, zuschüssigen Arbeitskräfte müssen auch die entsprechenden Lebensmittel vorfinden, und diese können nur der Abteilung II entnommen werden. Jetzt verschiebt sich also die Zirkulation zwischen den beiden großen Abteilungen. Früher, bei der einfachen Reproduktion, entnahm die Abteilung I für 1.000 Lebensmittel von II für die eigenen Arbeiter, jetzt muß sie darüber hinaus um 100 mehr Lebensmittel für Arbeiter entnehmen. Die Abteilung I wird auf diese Weise die erweiterte Reproduktion folgendermaßen beginnen: 4.400 c + 1.100 v.

Ihrerseits kommt die Abteilung II durch den Verkauf der zuschüssigen Lebensmittel von 100 in die Lage, um denselben Betrag mehr als bis jetzt |88| von der Abteilung I Produktionsmittel zu erwerben. In der Tat sind von dem Gesamtüberschuß des Produkts in der Abteilung I gerade 100 noch übriggeblieben. Diese erwirbt nun die Abteilung II, um auch ihrerseits eine Erweiterung der Produktion vorzunehmen. Aber auch hier kann mit mehr Produktionsmitteln allein nicht viel ausgerichtet werden, um sie in Bewegung zu setzen, sind zuschüssige Arbeitskräfte nötig. Nehmen wir auch hier an, daß die bisherige Zusammensetzung des Kapitals beibehalten wird, also das Verhältnis des konstanten zum variablen Kapital 2:1 ist, dann bedarf es zur Betätigung der zuschüssigen Produktionsmittel von 100 neuer Arbeitskräfte für 50. Für diese neuen Arbeitskräfte bedarf es aber auch im Betrage ihrer Löhne neuer Lebensmittel, welche die Abteilung II ja selbst liefert. Von dem Gesamtprodukt der Abteilung II müssen demnach außer den zuschüssigen Lebensmitteln von 100 für die neuen Arbeiter der Abteilung I noch Lebensmittel für 50 für die eigenen Arbeiter der Abteilung II mehr als bisher verwendet werden. Die zweite Abteilung beginnt also die erweiterte Reproduktion mit folgenden Verhältnissen: 1.600 c + 800 v.

Jetzt ist das Gesamtprodukt der Abteilung I (6.000) in der Zirkulation glatt draufgegangen: 5.500 waren nötig zur bloßen Erneuerung der alten verbrauchten Produktionsmittel in beiden Abteilungen, 400 wurden zur Erweiterung der Produktion der Abteilung I, 100 zum gleichen Zweck in der Abteilung II gebraucht. Was das Gesamtprodukt der Abteilung II (3.000) betrifft, so sind davon 1.900 für den gewachsenen Stab der Arbeitskräfte in beiden Abteilungen verwendet. Die übrigen 1.100 an Lebensmitteln dienen dem persönlichen Konsum der Kapitalisten, dem Verzehr ihres Mehrwertes, und zwar: 500 in der Abteilung I, 600 für die Kapitalisten der Abteilung II, die ja von ihrem Mehrwert 750 nur 150 kapitalisiert haben (100 für Produktionsmittel und 50 für Arbeiterlöhne).

Jetzt kann die erweiterte Reproduktion vonstatten gehen. Behalten wir den Ausbeutungsgrad = 100 Prozent, wie beim Originalkapital, dann wird sich in der nächsten Periode ergeben:

I. 4.400 c + 1.100 v + 1.100 m = 6.600 } Summa 9.800
II. 1.600 c + 800 v + 800 m = 3.200

Das Gesamtprodukt der Gesellschaft ist gewachsen von 9.000 auf 9.800, der Mehrwert in der ersten Abteilung von 1.000 auf 1.100, in der zweiten Abteilung von 750 auf 800, der Zweck der kapitalistischen Erweiterung der Produktion: die gesteigerte Mehrwerterzeugung, ist erreicht. Zugleich ergibt die sachliche Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtpro- |89| dukts wieder einen Überschuß der Produktionsmittel (6.600) über die tatsächlich verbrauchten (4.400 + 1.600) um 600 sowie ein Defizit der Lebensmittel (3.200) im Vergleich mit den bisher gezahlten Löhnen (1.100 v + 800 v) und erzieltem Mehrwert (1.100 m + 800 m). Damit ist bereits wieder eine sachliche Grundlage wie eine Notwendigkeit gegeben, einen Teil des Mehrwerts nicht zur Konsumtion der Kapitalistenklasse, sondern zur erneuten Erweiterung der Produktion zu verwenden.

Die zweite Erweiterung der Produktion und gesteigerte Mehrwerterzeugung ergibt sich so von selbst mit ihren mathematisch exakten Verhältnissen aus der ersten. Die einmal begonnene Akkumulation des Kapitals fuhrt mechanisch immer weiter über sich selbst hinaus. Der Kreis hat sich in eine Spirale verwandelt, die sich immer höher windet wie unter dem Zwang eines mathematisch meßbaren Naturgesetzes. Nehmen wir in folgenden Jahren immer dieselbe Kapitalisierung des halben Mehrwertes bei der Abteilung I an, wobei wir die Zusammensetzung des Kapitals und den Ausbeutungsgrad beibehalten, so ergibt sich die folgende Progression in der Reproduktion des Gesamtkapitals:

Zweites Jahr

I. 4.840 c + 1.210 v + 1.210 m = 7.260 } Summa 10.780
II. 1.760 c + 880 v + 880 m = 3.520

Drittes Jahr

I. 5.324 c + 1.331 v + 1.331 m = 7.986 } Summa 11.858
II. 1.936 c + 968 v + 968 m = 3.872

Viertes Jahr

I. 5.856 c + 1.464 v + 1.464 m = 8.784 } Summa 13.033
II. 2.129 c + 1.065 v + 1.065 m = 4.249

Fünftes Jahr

I. 6.442 c + 1.610 v + 1.610 m = 9.662 } Summa 14.348
II. 2.342 c + 1.172 v + 1.172 m = 4.686

So wäre nach fünf Jahren der Akkumulation das gesellschaftliche Gesamtprodukt von 9.000 auf 14.348 gewachsen, das gesellschaftliche Gesamtkapital von 5.400 c + 1.750 v = 7.150 auf 8.784 c + 2.782 v = 11.566 und der Mehrwert von 1.000 m + 500 m = 1.500 auf 1.464 m + 1.065 m = 2.529, wobei der persönlich verzehrte Mehrwert von 1.500 vor Beginn der Akkumulation auf 732 + 958 (im letzten Jahre) = 1.690 gestiegen |90| ist.(6) Die Kapitalistenklasse hat also mehr kapitalisiert, mehr »Enthaltsamkeit« geübt und doch zugleich flotter leben können. Die Gesellschaft ist reicher geworden, in sachlicher Beziehung reicher an Produktionsmitteln, reicher an Lebensmitteln, und zugleich in kapitalistischem Sinne: Sie produziert immer größeren Mehrwert. Das Gesamtprodukt geht in der gesellschaftlichen Zirkulation glatt auf, es dient teils zur Erweiterung der Reproduktion, teils zu Konsumtionszwecken. Die Akkumulationsbedürfnisse der Kapitalisten decken sich zugleich mit der sachlichen Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts; es ist, wie Marx im ersten Band des »Kapitals« gesagt hat: Der gewachsene Mehrwert kann eben deshalb zum Kapital geschlagen werden, weil das gesellschaftliche Mehrprodukt von vornherein in der sachlichen Gestvon Produktionsmitteln zur Welt kommt, in einer Gestalt, die eben keinen anderen Gebrauch zuläßt als die Verwendung im Produktionsprozeß. Zugleich vollzieht sich die Erweiterung der Reproduktion unter strenger Einhaltung der Zirkulationsgesetze: Die gegenseitige Versorgung der beiden Abteilungen der Produktion mit zuschüssigen Produktionsmitteln und Lebensmitteln vollzieht sich als Austausch von Äquivalenten, als Warenaustausch, wobei die Akkumulation in der einen Abteilung gerade die Akkumulation der anderen ermöglicht und bedingt. Das komplizierte Problem der Akkumulation ist so in eine schematische Progression von erstaunlicher Einfachheit verwandelt. Man kann die oben begonnene Kette von Gleichungen ins unendliche fortführen. Man braucht nur die folgenden einfachen Regeln zu beobachten: Der Vergrößerung des konstanten Kapitals in der ersten Abteilung muß stets eine bestimmte Vergrößerung ihres variablen Kapitals entsprechen, mit dieser letzteren ist aber von vornherein gegeben, wie stark die Vergrößerung des konstanten Kapitals in der zweiten Abteilung sein kann; dieser wiederum muß eine entsprechende Vergrößerung des variablen Kapitals beigesetzt werden. Endlich mit der Größe des gewachsenen variablen Kapitals in beiden Abteilungen ist stets gegeben, wieviel von der Gesamtsumme der Lebensmittel für die persönliche Konsumtion der Kapitalistenklasse übrigbleibt. Es wird sich auch finden, daß diese für den Privatverzehr der Kapitalisten verbleibende Menge an Lebensmitteln sich an Wert mit dem nichtkapitalisierten Teil des Mehrwerts in beiden Abteilungen aufs genaueste deckt.

Die Fortsetzung der schematisch en Entwicklung der Akkumulation unter den angegebenen leichten paar Regeln findet, wie gesagt, keine |91| Schranken. Hier ist es aber an der Zeit aufzupassen, ob wir nicht deshalb zu so erstaunlich glatten Resultaten gelangen, weil wir immer bloß gewisse mathematische Übungen mit Addition und Subtraktion machen, die keine Überraschungen bieten können, und ob die Akkumulation nicht deshalb so ins unendliche störungslos verläuft, weil das Papier sich geduldig mit mathematischen Gleichungen beschreiben läßt. Mit anderen Worten, es ist an der Zeit, sich nach den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen der Akkumulation umzusehen.


Fußnoten von Rosa Luxemburg

(1) »Die Voraussetzung der einfachen Reproduktion, daß I (v + m) = II c sei, ist nicht nur unverträglich mit der kapitalistischen Produktion, was übrigens nicht ausschließt, daß im industriellen Zyklus von 10-11 Jahren ein Jahr oft geringer Gesamtreproduktion hat als das vorhergehende, also nicht einmal einfache Reproduktion stattfindet im Verhältnis zum vorhergehenden Jahr. Sondern auch bei dem natürlichen jährlichen Wachstum der Bevölkerung könnte einfache Reproduktion nur insofern stattfinden, als von den 1.500, die den Gesamtmehrwert repräsentieren, eine entsprechend größre Zahl unproduktiver Dienstleute mitzehrten. Akkumulation von Kapital, also wirkliche kapitalistische Produktion wäre dagegen hierbei unmöglich.« (Das Kapital, Bd. II, S. 497.) [Karl Marx: Das Kapital. Zweiter Band. In Karl Marx/Friedrich Engel: Werke, Bd. 24, S. 515.] <=

(2) »Die spezifisch kapitalistische Produktionsweise, die ihr entsprechende Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, der dadurch verursachte Wechsel in der organischen Zusammensetzung des Kapitals halten nicht nur Schritt mit dem Fortschritt der Akkumulation oder dem Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums. Sir schreiten ungleich schneller, weil die einfache Akkumulation oder die absolute Ausdehnung des Gesamtkapitals von der Zentralisation seiner individuellen Elemente und die technische Umwälzung des Zusatzkapitals von technischer Umwälzung des Originalkapitals begleitet sind. Mit dem Fortgang der Akkumulation wandelt sich also das Verhältnis von konstantem zu variablem Kapitalteil, wenn ursprünglich 1:1, in 2:1, 3:1, 4:1, 5:1, 7:1 usw., so daß, wie das Kapital wächst, statt 1/2 seines Gesamtwerts progressiv nur 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, 1/8 usw. in Arbeitskraft dagegen 2/3, 3/4, 4/5, 5/6, 7/8 usw. in Produktionsmittel umgesetzt wird. Da die Nachfrage nach Arbeit nicht durch den Umfang des Gesamtkapitals, sondern durch den seines variablen Bestandteils bestimmt ist, fällt sie also progressiv mir dem Wachstum des Gesamtkapitals, statt, wie vorhin unterstellt, verhältnismäßig mit ihm zu wachsen. Sie fällt relativ zur Größe des Gesamtkapitals und in beschleunigter Progression mit dem Wachstum dieser Größe. Mit dem Wachstum des Gesamtkapitals wächst zwar auch sein variabler Bestandteil oder die ihm einverleibte Arbeitskraft, aber in beständig abnehmender Proportion. Die Zwischenpausen, worin die Akkumulation als bloße Erweiterung der Produktion auf gegebner technischer Grundlage wirkt, verkürzen sich. Nicht nur wird eine in wachsender Progression beschleunigte Akkumulation des Gesamtkapitals erheischt, um eine zusätzliche Arbeiterzahl von gegebner Größe zu absorbieren oder selbst, wegen der beständigen Metamorphose des alten Kapitals, die bereits funktionierende zu beschäftigen. Ihrerseits schlägt diese wachsende Akkumulation und Zentralisation selbst wieder in eine Quelle neuer Wechsel der Zusammensetzung des Kapitals oder abermalig beschleunigter Abnahme seines variablen Bestandteils, verglichen mit dem konstanten.« (Das Kapital, Bd. I, S. 593.) [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23. S. 657/658.] <=

(3) »Der charakteristische Lebenslauf der modernen Industrie, die Form eines durch kleinere Schwankungen unterbrochenen zehnjährigen Zyklus von Perioden mittlerer Lebendigkeit, Produktion unter Hochdruck, Krise und Stagnation, beruht auf der beständigen Bildung, größern oder geringeres Absorption und Wiederbildung der industriellen Reservearmee oder Übervölkerung. Ihrerseits rekrutieren die Wechselfälle des industriellen Zyklus die Übervölkerung und werden zu einem ihrer energischsten Reproduktionsagentien.« (Das Kapital, Bd. I, S. 594.) [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 661.] <=

(4) Das Kapital, Bd. I, S. 543. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 606/607.] <=

(5) l.c., S. 544. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 607.] <=

(6) Siehe Das Kapital, Bd. II, S. 487-490. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 505-509.] <=


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