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Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Die Akkumulation des Kapitals«, S. 91-107.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Die Akkumulation des Kapitals

Siebentes Kapitel.
Analyse des Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion


|91| Die erste Erweiterung der Produktion sah folgendermaßen aus:

I. 4.400 c + 1.100 v + 1.100 m = 6.600 } Summa 9.800
II. 1.600 c + 800 v + 800 m = 3.200

Hier kommt schon die gegenseitige Abhängigkeit der Akkumulation in beiden Abteilungen deutlich zum Ausdruck. Aber diese Abhängigkeit ist eigentümlicher Natur. Die Akkumulation geht hier von der Abteilung I aus, die Abteilung II folgt nur der Bewegung, und zwar wird der Umfang der Akkumulation lediglich von der Abteilung I bestimmt. Marx bringt hier die Akkumulation fertig, indem er in I den halben Mehrwert kapitalisieren läßt, in II aber gerade nur soviel wie nötig ist, um die Produktion und Akkumulation I zu sichern. Dabei läßt er die Kapitalisten der Abteilung II 600 m verzehren, während die Kapitalisten der I. Abteilung, die sich einen doppelt so großen Wert und viel größeren Mehrwert aneignen. nur 500 m verzehren. Im folgenden Jahr läßt er die Kapitalisten I wieder die Hälfte ihres Mehrwerts kapitalisieren und diesmal »zwingt« er die Kapitalisten II, mehr als im Vorjahre und willkürlich soviel zu kapitalisieren, wie I braucht, wobei für die Konsumtion der Kapitalisten II diesmal 560 m bleiben - weniger als im Vorjahre, was jedenfalls ein ziemlich seltsames Ergebnis der Akkumulation ist. Marx schildert den Vorgang folgendermaßen:

»Es werde nun sub I derselben Proportion fortakkumuliert: also 550 m als Revenue verausgabt, 550 m akkumuliert. Zunächst werden dann 1.100 I v ersetzt durch 1.100 II c, ferner sind noch 550 I m zu realisieren in einem gleichen Betrag von Waren II: also zusammen 1.650 I (v + m). Aber das zu ersetzende konstante Kapital von II ist nur = 1.600, die übrigen 50 müssen also (!) ergänzt werden aus 800 II m. Wenn wir |92| hier zunächst vom Geld absehn, so haben wir als Resultat dieser Transaktion:

I. 4.400 c + 550 m (welche zu kapitalisieren sind); daneben in Konsumtionsfonds der Kapitalisten und Arbeiter 1.650 (v + m), realisiert in Waren II c.

II. 1.650 c (nämlich 50 zugefügt nach Obigem aus II m) + 800 v + 750 m (Konsumtionsfonds der Kapitalisten).

Wenn aber das alte Verhältnis v zu c in II bleibt, so müssen für 50 c weitre 25 v ausgelegt werden; diese sind zu nehmen von den 750 in; wir erhalten also:

II. 1.650 c + 825 v + 725 m.

Sub I ist zu kapitalisieren 550 in; wenn das frühere Verhältnis bleibt, so bilden davon 440 konstantes Kapital und 110 variables Kapital. Diese 110 sind eventuell (!) zu schöpfen aus 725 II in, d.h. Konsumtionsmittel zum Wert von 110 werden von den Arbeitern I verzehrt statt von Kapitalisten II, diese letztren also gezwungen (!), diese 110 in, die sie nicht verzehren können, zu kapitalisieren. Dies läßt von den 725 II m übrig 615 II m. Wenn aber so II diese 110 in zusätzliches konstantes Kapital verwandelt, so braucht es ein ferneres zusätzliches variables Kapital von 55, dies muß wieder von seinem Mehrwert gestellt werden; abgezogen von 615 II m läßt es übrig 560 für Konsumtion der Kapitalisten II, und wir erhalten nun, nach Vollziehung aller aktuellen und potentiellen Übertragungen, an Kapitalwert:

I. (4.400 c + 440 c) + (1.100 v + 110 v) = 4.840 c + 1.210 v = 6.050
II. (1.600 c + 50 c + 110 c) + (800 v + 25 v + 55 v) = 1.760 c + 880 v = 2.640
8.690.« (1)

Wir haben das ausführliche Zitat gebracht, weil es drastisch zeigt, wie Marx hier die Akkumulation in I auf Kosten der Abteilung II durchsetzt. Ebenso unsanft verfährt er mit den Kapitalisten der Lebensmittelabteilung in den folgenden Jahren. Im dritten Jahr läßt er sie nach derselben Regel 264 m akkumulieren und 616 verzehren, diesmal mehr als in den beiden vorhergehenden Jahren. Im vierten Jahr läßt er sie 290 m kapitalisieren und 678 verzehren, im fünften akkumulieren sie 320 m und verzehren 745 m. Dabei sagt Marx gar: »Soll die Sache normal abgehn, so muß die Akkumulation in II sich rascher vollziehn als in I, weil der Teil |93| von I (v + m), der in Waren II c umzusetzen ist, sonst rascher wächst als II c, gegen das allein er sich umsetzen kann.«(2) Die angeführten Zahlen zeigen aber nicht bloß keine raschere, sondern eher eine schwankende Akkumulation in der II. Abteilung, wobei als Regel folgendes dient: Marx führt die Akkumulation immer weiter, indem er die Abteilung I auf breiterer Basis produzieren läßt; die Akkumulation in der II. Abteilung erscheint nur als Folge und Bedingung der anderen: erstens, um die überschüssigen Produktionsmittel aufzunehmen, zweitens, um das erforderliche Mehr an Konsummitteln für die zuschüssigen Arbeitskräfte zu liefern. Die Initiative der Bewegung liegt die ganze Zeit über auf seiten der I. Abteilung, die II. ist passives Anhängsel. So dürfen jedesmal die Kapitalisten II nur soviel akkumulieren und müssen soviel verzehren, wie es für die Akkumulation in I erforderlich ist. Während die Abteilung I jedesmal den halben Mehrwert kapitalisiert und den halben verzehrt, was sowohl eine regelmäßige Erweiterung der Produktion wie der persönlichen Konsumtion der Kapitalistenklasse ergibt, geht die Doppelbewegung in der Abteilung II in folgender sprunghafter Weise vor sich.

Im 4. Jahr wird kapitalisiert 150, verzehrt 600
Im 2. Jahr wird kapitalisiert 240, verzehrt 560
Im 3. Jahr wird kapitalisiert 254, verzehrt 626
Im 4. Jahr wird kapitalisiert 290, verzehrt 678
Im 5. Jahr wird kapitalisiert 320, verzehrt 745

Es besteht gar keine ersichtliche Regel in dieser Akkumulation und Konsumtion, beide dienen bloß den Bedürfnissen der Akkumulation in I. Daß die absoluten Zahlen des Schemas in jeder Gleichung willkürlich sind, versteht sich von selbst und verringert nicht ihren wissenschaftlichen Wert. Worauf es ankommt, sind die Größenverhältnisse, die exakte Beziehungen ausdrücken sollen. Die von klarer Gesetzmäßigkeit diktierten Akkumulationsverhältnisse in Abteilung I scheinen nun aber durch eine völlig willkürliche Konstruktion der Verhältnisse in Abteilung II erkauft zu sein, und dieser Umstand ist geeignet, zur Nachprüfung der inneren Zusammenhänge der Analyse zu veranlassen.

Man könnte jedoch annehmen, daß hier nur ein nicht besonders glücklich gewähltes Beispiel vorliegt. Marx selbst begnügt sich mit dem angeführten Schema nicht, sondern gibt gleich darauf ein zweites Beispiel zur |94| Erläuterung der Akkumulationsbewegung. Nun sind die Zahlen der Gleichung folgendermaßen geordnet:

I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 } = 9.000.(3)
II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000

Hier sehen wir, daß im Unterschied von dem früheren Beispiel in beiden Abteilungen die gleiche Zusammensetzung des Kapitals besteht, nämlich das Verhältnis von konstant zu variabel gleich 5:1. Es setzt dies voraus: schon bedeutende Entwickelung der kapitalistischen Produktion und dementsprechend der Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit; bedeutende, schon vorhergegangene Erweiterung der Produktionsleiter; endlich Entwickelung aller der Umstände, die eine relative Übervölkerung in der Arbeiterklasse produzieren. Wir machen also nicht mehr wie im ersten Beispiel den anfänglichen ersten Übergang von der einfachen zur erweiterten Reproduktion, der ja auch nur einen abstrakten, theoretischen Wert hat, sondern fassen die Akkumulationsbewegung mitten im Fluß, auf einer bereits hohen Entwickelungsstufe. An sich sind diese Annahmen völlig zulässig und ändern auch nichts an den Regeln, die uns bei der Entwickelung der einzelnen Windungen der Reproduktionsspirale leiten müssen. Auch hier wieder nimmt Marx zum Ausgangspunkt die Kapitalisierung des halben Mehrwerts der Abteilung I:

»Gesetzt jetzt, die Kapitalistenklasse I konsumiere den halben Mehrwert = 500 und akkumuliere die andre Hälfte. Dann wären (1.000 v + 500 m) I = 1.500 umzusetzen in 1.500 II c. Da hier II c nur = 1.430, so ist vom Mehrwert 70 zuzusetzen; dies von 285 II in abgezogen, läßt 215 II m. Wir erhalten also:

I. 5.000 c + 500 m (zu kapitalisieren) + 1.500 (v + m) in Konsumtionsfonds der Kapitalisten und Arbeiter.

II. 1.430 c + 70 m (zu kapitalisieren) + 285 v + 215 m.

Da hier 70 II m direkt annexiert werden an II c, so ist erheischt, um dies zuschüssige konstante Kapital in Bewegung zu setzen, ein variables Kapital von 70/5 = 14; diese 14 gehn also weiter ab von 215 II m; bleibt 201 II m, und wir haben

II. (1.430 c + 70 c) + (285 v + 14 v) + 201 m.«

Nach diesen ersten Anordnungen kann die Kapitalisierung vonstatten gehen. Sie vollzieht sich folgendermaßen:

|95| In I teilen sich die 500 m, die kapitalisiert werden, in 5/6 = 417 c + 1/6 = 83 v. Die 83 v entziehen einen gleichen Betrag von II m, der Elemente des konstanten Kapitals kauft, also zu II c geschlagen wird. Eine Vermehrung von II c um 83 bedingt eine Vermehrung von II v um 1/5 von 83 = 17. Wir haben also nach dem Umsatz:

I. (5.000 c + 417 m) + (1.000 v + 83 m) v = 5.417 c + 1.083 v = 6.500
II. (1.500 c + 83 m) + ( 299 v + 17 m) v = 1.583 c + 316 v = 1.899
Summa 8.399.

Das Kapital in I ist gewachsen von 6.000 auf 6.500, also um 1/12, in II von 1.715 auf 1.899, also um nicht ganz 1/9.

Die Reproduktion auf dieser Grundlage im nächsten Jahr ergibt am Jahresschluß:

I. 5.417 c + 1.083 v + 1.083 m = 7.583 } Summa 9.798
II. 1.583 c + 316 v + 316 m = 2.215

Wenn in derselben Proportion weiter akkumuliert wird, so erhalten wir am Schluß des zweiten Jahres:

I. 5.869 c + 1.173 v + 1.173 m = 8.215 } Summa 10.614
II. 1.715 c + 342 v + 342 m = 2.399

Und am Schluß des dritten Jahres:

I. 6.358 c + 1.271 v + 1.271 m = 8.900 } Summa 11.500
II. 1.858 c + 371 v + 371 m = 2.600

In drei Jahren hat sich das gesellschaftliche Gesamtkapital von 6.000 I + 1.715 II = 7.715 auf 7.629 I + 2.229 II = 9.858, das Gesamtprodukt von 9.000 auf 11.500 vermehrt.

Hier ging die Akkumulation, im Unterschied vom ersten Beispiel, gleichmäßig in beiden Abteilungen vor sich, in I wie in II wurde vom zweiten Jahr ab die Hälfte des Mehrwerts kapitalisiert und die Hälfte verzehrt. Das Willkürliche des ersten Beispiels scheint also nur an schlecht gewählten Zahlenreihen zu liegen. Doch haben wir nachzuprüfen, ob diesmal der glatte Fortgang der Akkumulation etwas mehr als mathematische Operationen mit geschickt gewählten Zahlen darstellt.

Was als allgemeine Regel der Akkumulation gleichmäßig im ersten wie im zweiten Beispiel in die Augen springt, ist immer wieder folgendes: Damit die Akkumulation überhaupt vonstatten gehen kann, muß die II. Abteilung jedesmal soviel an Erweiterung des konstanten Kapitals |96| vornehmen, wie die Abteilung I erstens an Vergrößerung des konsumierten Teils des Mehrwerts, zweitens an Vergrößerung des variablen Kapitals vornimmt. Am Beispiel des ersten Jahres illustriert, muß nämlich erst ein Zuschuß zum konstanten Kapital in II um 70 stattfinden. Weshalb? Weil dieses Kapital bisher 1.430 darstellt. Wollen aber die Kapitalisten I die Hälfte ihres Mehrwerts (1.000) akkumulieren und die Hälfte verzehren, so brauchen sie nun Lebensmittel für sich wie für ihre Arbeiter im Betrage von 1.500. Diese können sie von der Abteilung II nur im Austausch gegen das eigene Produkt - die Produktionsmittel - kriegen. Da aber die Abteilung II ihren eigenen Bedarf an Produktionsmitteln nur im Betrage des eigenen konstanten Kapitals (1.430) deckte, so kann der Austausch nur in dem Falle zustande kommen, wenn die Abteilung II sich entschließt, ihr konstantes Kapital um 70 zu vergrößern, d.h. die eigene Produktion zu erweitern. was ja nicht anders bewerkstelligt werden kann als durch Kapitalisierung eines entsprechenden Teils des Mehrwerts. Beträgt dieser in der Abteilung II 285 in, so müssen davon 70 zum konstanten Kapital geschlagen werden. Hier wird der erste Schritt in der Erweiterung der Produktion bei II als Bedingung und Folge einer Erweiterung der Konsumtion der Kapitalisten I bestimmt. Gehen wir weiter. Bis jetzt ist die Kapitalistenklasse I erst befähigt, die Hälfte ihres Mehrwerts (500) in persönlichem Konsum zu verzehren. Um die andere Hälfte kapitalisieren zu können, muß sie den Betrag von 500 mindestens entsprechend der bisherigen Zusammensetzung verteilen, also 417 zu konstantem, 83 zu variablem Kapital schlagen. Die erstere Operation bietet keine Schwierigkeiten. Die Kapitalisten I besitzen in ihrem eigenen Produkt einen Überschuß von 500, der in Produktionsmitteln besteht, dessen Naturalgestalso ihn befähigt, direkt in den Produktionsprozeß aufgenommen zu werden; so bildet sich eine Erweiterung des konstanten Kapitals der Abteilung I aus dem entsprechenden Betrag des eigenen Produkts dieser Abteilung. Um aber die entsprechenden 85 als variables Kapital auch betätigen zu können, sind im gleichen Betrage Lebensmittel für die neuanzustellenden Arbeiter nötig, Hier kommt zum zweitenmal die Abhängigkeit der Akkumulation in I von der Abteilung II zum Vorschein: I muß von II um 83 mehr Lebensmittel als bisher für ihre Arbeiter entnehmen. Da dies wiederum nur auf dem Wege des Warenaustausches geschieht, so kann dieses Bedürfnis der Abteilung I nur unter der Bedingung befriedigt werden. daß die Abteilung II ihrerseits sich bereit erklärt, Produkte von I, d.h. Produktionsmittel, für 83 anzunehmen. Da sie mit Produktionsmitteln nichts anderes anfangen kann, als sie im Produktionsprozeß zu |97| verwenden, so ergibt sich für die Abteilung II die Möglichkeit und zugleich Notwendigkeit, ihr konstantes Kapital wiederum zu erweitern, und zwar um 83, wodurch vom Mehrwert dieser Abteilung wiederum 83 dem persönlichen Konsum entzogen und zur Kapitalisierung verwendet werden. Der zweite Schritt in der Erweiterung der Produktion von II ist bedingt durch die Erweiterung des variablen Kapitals bei I. Jetzt sind bei I alle sachlichen Bedingungen der Akkumulation vorhanden, und die erweiterte Reproduktion kann vonstatten gehen. Bei II hingegen hat vorerst nur eine zweimalige Erweiterung des konstanten Kapitals stattgefunden. Aus ihr ergibt sich, daß, wenn die neuerworbenen Produktionsmittel auch wirklich benutzt werden sollen, eine entsprechende Vergrößerung der Zahl der Arbeitskräfte erforderlich ist. Unter Beibehaltung des bisherigen Verhältnisses ist für das neue konstante Kapital von 153 ein neues variables von 31 notwendig. Damit ist gesagt, daß ein ebensolcher Betrag wiederum vom Mehrwert kapitalisiert werden muß. Der persönliche Konsumtionsfonds der Kapitalisten II ergibt sich alsdann als der Restbetrag des Mehrworts (285 m) nach Abzug der zweimaligen Vergrößerung des konstanten Kapitals (70 + 83) und der entsprechenden Vergrößerung des variablen (31), insgesamt 184, in der Höhe von 101. Nach ähnlichen Manipulationen ergibt sich im zweiten Jahr der Akkumulation bei der Abteilung II eine Verteilung des Mehrwerts in 158 zur Kapitalisierung und 158 für den Konsum der Kapitalisten, im dritten Jahr 172 und 170.

Wir haben den Vorgang deshalb so genau betrachtet und Schritt für Schritt verfolgt, weil dabei mit Deutlichkeit hervorgeht, daß die Akkumulation in der Abteilung II vollkommen abhängig und beherrscht ist von der Akkumulation in I. Zwar kommt diese Abhängigkeit nicht mehr in den willkürlichen Verschiebungen bei der Einteilung des Mehrwerts in II zum Ausdruck, wie das beim ersten Beispiel des Marxschen Schemas der Fall war, aber die Tatsache selbst bleibt bestehen, auch wenn der Mehrwert sich jetzt in beiden Abteilungen jeweilig hübsch in zwei Hälften - für Kapitalisierungszwecke und für persönliche Konsumtion - aufteilt. Trotz dieser ziffernmäßigen Gleichstellung der Kapitalistenklasse in beiden Abteilungen ist es klar ersichtlich, daß die ganze Akkumulationsbewegung von I eingeleitet und aktiv betätigt, von II passiv mitgemacht wird. Diese Abhängigkeit findet auch den Ausdruck in der folgenden exakten Regel: Die Akkumulation kann nur in beiden Abteilungen zugleich, und zwar nur unter der Bedingung stattfinden, daß die Abteilung der Lebensmittel jeweilig genau um soviel ihr konstantes Kapital erweitert, wie die Kapitalisten der Produktionsmittelabteilung ihr variables Kapital und ihren per- |98| sönlichen Konsumtionsfonds erweitern. Diese Proportion (Zuwachs II c = Zuwachs I v + Zuwachs I mk) ist die mathematische Grundlage des Akkumulationsschemas von Marx, in welchen Zahlenproportionen wir es auch exemplifizieren mögen.

Wir haben nun nachzuprüfen, ob diese strenge Regel der kapitalistischen Akkumulation den tatsächlichen Verhältnissen entspricht.

Kehren wir zunächst zur einfachen Reproduktion zurück. Das Marxsche Schema lautete, wie erinnerlich:

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.
II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsummittel.
Summa 9.000 Gesamtproduktion.

Auch hier haben wir bestimmte Proportionen festgestellt, auf denen die einfache Reproduktion beruht. Diese Proportionen waren:

1. Das Produkt der Abteilung I gleicht (an Wert) der Summe der beiden konstanten Kapitale in I und II.

2. Was sich selbst aus 1 ergibt: Das konstante Kapital der Abteilung II gleicht der Summe des variablen Kapitals und des Mehrwerts in der Abteilung I.

3. Was schon aus 1 und 2 folgt: Das Produkt der Abteilung II gleicht der Summe der variablen Kapitale und der Mehrwerte in beiden Abteilungen.

Diese Verhältnisse des Schemas entsprechen den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion (reduziert allerdings auf die einfache Reproduktion). So z.B. ist die Proportion 2 bedingt durch die Warenproduktion, d.h. durch den Umstand, daß die Unternehmer jeder Abteilung die Produkte der anderen Abteilung nur im Austausch gegen Äquivalente bekommen können. Das variable Kapital und der Mehrwert der Abteilung I drücken zusammen den Bedarf dieser Abteilung an Lebensmitteln aus. Diese müssen aus dem Produkt der Abteilung II gedeckt werden, doch sind sie nur im Austausch gegen die gleiche Wertmenge des Produkts I, d.h. Produktionsmittel, erhältlich. Da die Abteilung II mit diesem Äquivalent seiner Naturalgestwegen nichts anderes anfangen kann, als es im Produktionsprozeß als konstantes Kapital zu verwenden, so ist damit die Größe des konstanten Kapitals der Abteilung II gegeben. Wäre hier eine Disproportion vorhanden, wäre z.B. das konstante Kapital in II (als Wertgröße) größer als (v + m) I, so könnte es nicht ganz in Produktionsmittel verwandelt werden, denn die Abteilung I hätte einen zu geringen Bedarf nach Lebensmitteln. Wäre das konstante Kapital II kleiner |99| als (v + m) I, dann könnten die Arbeitskräfte dieser Abteilung nicht im früheren Umfang beschäftigt werden oder die Kapitalisten nicht ihren ganzen Mehrwert verzehren. In allen Fällen waren die Voraussetzungen der einfachen Reproduktion verletzt.

Diese Proportionen sind jedoch nicht bloße mathematische Übungen und auch nicht bloß durch die Warenform der Produktion bedingt. Um uns davon zu überzeugen, haben wir ein einfaches Mittel. Stellen wir uns für einen Augenblick statt der kapitalistischen die sozialistische Produktionsweise, also eine planmäßig geregelte Wirtschaft vor, in der gesellschaftliche Arbeitsteilung an Stelle des Austausches getreten ist. In dieser Gesellschaft gäbe es gleichfalls eine Einteilung der Arbeit in Produktion von Produktionsmitteln und in Produktion von Lebensmitteln. Stellen wir uns ferner vor, daß die technische Höhe der Arbeit es bedingt, daß zwei Drittel gesellschaftlicher Arbeit auf Herstellung von Produktionsmitteln, ein Drittel auf Verstellung von Lebensmitteln verwendet werden. Nehmen wir an, daß unter diesen Bedingungen zur Erhaltung des ganzen arbeitenden Teils der Gesellschaft jährlich 1.500 Arbeitseinheiten (Tage, Monate oder Jahre) genügen würden, und zwar nach Annahme: 1.000 davon in der Abteilung der Produktionsmittel, 500 in Lebensmitteln, wobei jedes Jahr Produktionsmittel aus früherer Arbeitsperiode vernutzt werden, die selbst das Produkt von 3.000 Arbeitseinheiten darstellen. Dieses Arbeitspensum genügt jedoch nicht für die Gesellschaft, denn die Erhaltung aller nichtarbeitenden (im materiellen, produktiven Sinne) Mitglieder der Gesellschaft - Kinder, Greise, Kranke, öffentliche Beamte, Künstler und Wissenschaftler - erfordert einen bedeutenden Zuschuß an Arbeit. Außerdem braucht jede Kulturgesellschaft zur Sicherung vor Notfällen elementarer Natur einen gewissen Assekuranzfonds. Nehmen wir an, daß die Erhaltung aller Nichtarbeitenden samt Assekuranzfonds genau noch einmal soviel Arbeit erfordert wie die eigene Erhaltung der Arbeitenden, also auch noch einmal soviel Produktionsmittel. Dann bekämen wir nach früher angenommenen Zahlen das folgende Schema einer geregelten Produktion

I. 4.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 6.000 Produktionsmittel.
II. 2.000 c + 500 v + 500 m = 3.000 Konsummittel.

wobei c die verbrauchten sachlichen Produktionsmittel, ausgedrückt in gesellschaftlicher Arbeitszeit, bedeutet, v die zur eigenen Erhaltung der Arbeitenden, m die zur Erhaltung der Nichtarbeitenden nebst Assekuranzfonds gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ausdrückt.

|100| Prüfen wir jetzt die Proportionen des Schemas nach, so erhalten wir folgendes: Warenproduktion, also auch Austausch, existiert hier nicht, wohl aber gesellschaftliche Arbeitsteilung. Die Produkte von I werden in erforderlichem Quantum den Arbeitenden in II zugewiesen, die Produkte von II werden allen Arbeitenden und Nichtarbeitenden (in beiden Abteilungen) sowie dem Assekuranzfonds zugewiesen - nicht weil hier Äquivalentaustausch vorgeht, sondern weil die gesellschaftliche Organisation planmäßig den Gesamtprozeß leitet, weil die bestehenden Bedürfnisse gedeckt werden müssen, weil die Produktion eben keinen anderen Zweck als die Deckung der gesellschaftlichen Bedürfnisse kennt.

Trotzdem behalten die Größenproportionen volle Gültigkeit. Das Produkt in I muß I c + II c gleichen; das bedeutet einfach, daß in der I. Abteilung alle von der Gesellschaft in ihrem jährlichen Arbeitsprozeß vernutzten Produktionsmittel jährlich erneuert werden müssen. Das Produkt II muß der Summe (v + m) I + (v + m) II gleichen; das bedeutet, daß an Lebensmitteln von der Gesellschaft jedes Jahr soviel hergestellt werden, wie es den Bedürfnissen aller ihrer arbeitenden und nichtarbeitenden Mitglieder entspricht, nebst Rücklagen für Versicherungsfonds.

Die Proportionen des Schemas erscheinen ebenso natürlich und notwendig in einer planmäßig geregelten wie in der kapitalistischen, auf Warenaustausch und Anarchie gegründeten Wirtschaftsweise. Damit ist die objektive gesellschaftliche Gültigkeit des Schemas erwiesen - ob es gleichwohl gerade als einfache Reproduktion sowohl in der kapitalistischen wie in der geregelten Gesellschaft nur theoretisch gedacht, in der Praxis nur ausnahmsweise vorkommen kann.

Versuchen wir jetzt in derselben Weise das Schema der erweiterten Reproduktion nachzuprüfen.

Stellen wir uns eine sozialistische Gesellschaft vor, und legen wir der Nachprüfung das Schema des zweiten Marxschen Beispiels zugrunde. Vom Standpunkt der geregelten Gesellschaft muß die Sache natürlich nicht von der Abteilung I, sondern von der Abteilung II angefaßt werden. Denken wir uns, daß die Gesellschaft rapid wächst, woraus sich ein wachsender Bedarf nach Lebensmitteln für Arbeitende und Nichtarbeitende ergibt. Dieser Bedarf steigt so rasch, daß - die Fortschritte der Produktivität der Arbeit vorläufig beiseite gelassen - eine stets wachsende Menge Arbeit zur Herstellung von Lebensmitteln notwendig wird. Die erforderliche Menge Lebensmittel, ausgedrückt in der in ihnen steckenden gesellschaftlichen Arbeit, steige von Jahr zu Jahr, sagen wir, im Verhältnis 2.000 - 2.215 - 2.399 - 2.600 usw. Um diese wachsende Menge Lebensmittel her- |101| zustellen, sei technisch eine wachsende Menge von Produktionsmitteln erforderlich, die, in gesellschaftlicher Arbeitszeit gemessen, im folgenden Verhältnis von Jahr zu Jahr wachse: 7.000 - 7.583 - 8.215 - 8.900 usw. Ferner sei, nach Annahme, zu dieser Erweiterung der Produktion eine jährliche Arbeitsleistung von 2.570 - 2798 - 3030 - 3284 (die Zahlen entsprechen den respektiven Summen von (v + m) I + (v + m) II) erforderlich. Und endlich sei die Verteilung der jährlich geleisteten Arbeit derart, daß die Hälfte davon jedesmal zur Erhaltung der Arbeitenden selbst, ein Viertel zur Erhaltung der Nichtarbeitenden, ein letztes Viertel zur Erweiterung der Produktion des nächsten Jahres verwendet werden. Wir erhalten dann für die sozialistische Gesellschaft die Proportionen des zweiten marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion. In der Tat ist eine Erweiterung der Produktion in jeder Gesellschaft, so auch in der geregelten, nur dann möglich, 1. wenn die Gesellschaft über eine wachsende Anzahl Arbeitskräfte verfügt, 2. wenn die unmittelbare Erhaltung der Gesellschaft in jeder Arbeitsperiode nicht ihre ganze Arbeitszeit in Anspruch nimmt, so daß ein Teil der Zeit der Sorge für die Zukunft und ihre wachsenden Anforderungen gewidmet werden kann, 3. wenn von Jahr zu Jahr eine genügend zunehmende Menge von Produktionsmitteln angefertigt wird, ohne die eine fortschreitende Erweiterung der Produktion nicht bewerkstelligt werden kann.

Von diesen allgemeinen Gesichtspunkten behält also das Marxsche Schema der erweiterten Reproduktion - mutatis inutandis - seine objektive Gültigkeit auch für die geregelte Gesellschaft.

Prüfen wir jetzt die Gültigkeit des Schemas für die kapitalistische Wirtschaft. Hier haben wir vor allein zu fragen: Was ist der Ausgangspunkt für die Akkumulation? Von diesem Standpunkte haben wir die gegenseitige Abhängigkeit des Akkumulationsprozesses in beiden Abteilungen der Produktion zu verfolgen. Zweifellos ist auch kapitalistisch die Abteilung II insofern auf I angewiesen, als ihre Akkumulation an eine entsprechende Menge verfügbarer zuschüssiger Produktionsmittel gebunden ist. Umgekehrt ist die Akkumulation in der Abteilung I an eine entsprechende zuschüssige Menge von Lebensmitteln für zuschüssige Arbeitskräfte gebunden. Daraus folgt nun aber durchaus nicht, daß es genügt, beide Bedingungen einzuhalten, damit die Akkumulation in beiden Abteilungen auch tatsächlich vonstatten geht und von Jahr zu Jahr sich ganz automatisch vollzieht, wie das nach dem Marxschen Schema den Anschein hat. Die angeführten Bedingungen der Akkumulation sind eben nur Bedingungen, ohne die die Akkumulation nicht stattfinden kann. Auch der Wille zur |102| Akkumulation mag in I wie in II vorhanden sein. Allein der Wille und die technischen Vorbedingungen der Akkumulation genügen in einer kapitalistischen Warenwirtschaft nicht. Damit tatsächlich akkumuliert, d.h. die Produktion erweitert wird, dazu ist noch eine andere Bedingung notwendig: eine Erweiterung der zahlungsfähigen Nachfrage nach Waren. Wo rührt nun die ständig wachsende Nachfrage her, die der fortschreitenden Erweiterung der Produktion im Marxschen Schema zugrunde liegt?

Soviel ist zunächst klar: Sie kann unmöglich von den Kapitalisten I und II selbst, d.h. von ihrem persönlichen Konsum herrühren. Im Gegenteil, die Akkumulation besteht gerade darin, daß sie einen - und zwar mindestens absolut wachsenden - Teil des Mehrwerts nicht selbst konsumieren, sondern dafür Güter schaffen, die von anderen verwendet werden. Die persönliche Konsumtion der Kapitalisten wächst zwar mit der Akkumulation, sie mag selbst dem verzehrten Wert nach wachsen. Immerhin ist es nur ein Teil des Mehrwerts, der für die Konsumtion der Kapitalisten verwendet wird. Grundlage der Akkumulation ist gerade die Nichtkonsumtion des Mehrwerts durch die Kapitalisten. Für wen produziert dieser andere, akkumulierte Teil des Mehrwerts? Nach dem Marxschen Schema geht die Bewegung von der Abteilung I aus, von der Produktion der Produktionsmittel. Wer braucht diese vermehrten Produktionsmittel? Das Schema antwortet: Die Abteilung II braucht sie, um mehr Lebensmittel herstellen zu können. Wer braucht aber die vermehrten Lebensmittel? Das Schema antwortet: eben die Abteilung I, weil sie jetzt mehr Arbeiter beschäftigt. Wir drehen uns offenbar im Kreise. Lediglich deshalb mehr Konsummittel herstellen, um mehr Arbeiter erhalten zu können, und lediglich deshalb mehr Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen Standpunkt eine Absurdität. Für den einzelnen Kapitalisten ist freilich der Arbeiter ein ebenso guter Konsument, d.h. Abnehmer seiner Ware - falls er sie zahlen kann - wie ein Kapitalist oder sonst jemand. Im Preise der Ware, die er dem Arbeiter verkauft, realisiert jeder einzelne Kapitalist seinen Mehrwert genauso wie im Preise jeder Ware, die er einem anderen beliebigen Abnehmer verkauft. Nicht so vom Standpunkte der Kapitalistenklasse im ganzen. Diese gibt der Arbeiterklasse im ganzen nur eine Anweisung auf einen genau bestimmten Teil des gesellschaftlichen Gesamtprodukts im Betrage des variablen Kapitals. Wenn also die Arbeiter Lebensmittel kaufen, so erstatten sie der Kapitalistenklasse nur die von ihr erhaltene Lohnsumme, die Anweisung, bis zur Höhe des variablen Kapitals zurück.

|103| Mehr können sie nicht um einen Deut zurückgeben, eher etwas weniger, nämlich, wenn sie »sparen« können, um selbständig, um zu kleinen Unternehmern zu werden, was jedoch eine Ausnahme ist. Einen Teil des Mehrwerts verzehrt die Kapitalistenklasse selbst in Gestvon Lebensmitteln und behält in ihrer Tasche das dafür gegenseitig ausgetauschte Geld. Wer aber nimmt ihr die Produkte ab, in denen der andere, kapitalisierte Teil des Mehrwerts verkörpert ist? Das Schema antwortet: zum Teil die Kapitalisten selbst, indem sie neue Produktionsmittel herstellen behufs Erweiterung der Produktion, zum Teil neue Arbeiter, die zur Anwendung jener neuen Produktionsmittel nötig sind. Aber um neue Arbeiter mit neuen Produktionsmitteln arbeiten zu lassen, muß man - kapitalistisch - vorher einen Zweck für die Erweiterung der Produktion haben, eine neue Nachfrage nach Produkten, die anzufertigen sind.

Die Antwort kann vielleicht lauten: Der natürliche Zuwachs der Bevölkerung schafft diese wachsende Nachfrage. Tatsächlich sind wir bei unserer hypothetischen Untersuchung der erweiterten Reproduktion in einer sozialistischen Gesellschaft von dem Wachstum der Bevölkerung und ihrer Bedürfnisse ausgegangen. Aber hier war das Bedürfnis der Gesellschaft die ausreichende Grundlage, wie es der einzige Zweck der Produktion ist. In der kapitalistischen Gesellschaft sieht das Problem anders aus. Um welche Bevölkerung handelt es sich, wenn wir von ihrem Zuwachs reden? Wir kennen hier - im marxschen Schema - nur zwei Bevölkerungsklassen: Kapitalisten und Arbeiter. Der Zuwachs der Kapitalistenklasse ist ohnehin in der wachsenden absoluten Größe des verzehrten Teils des Mehrwertes inbegriffen. Jedenfalls kann er nicht den Mehrwert restlos verzehren, denn dann würden wir zur einfachen Reproduktion zurückkehren. Es bleiben die Arbeiter. Auch die Arbeiterklasse vermehrt sich durch natürlichen Zuwachs. Aber dieser Zuwachs geht die kapitalistische Wirtschaft als Ausgangspunkt wachsender Bedürfnisse an sich nichts an.

Die Produktion von Lebensmitteln zur Deckung von I v und II v ist nicht Selbstzweck, wie in einer Gesellschaft, wo die Arbeitenden und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse die Grundlage des Wirtschaftssystems bilden. Nicht deshalb werden in der Abteilung II (kapitalistisch) soviel Lebensmittel produziert, weil die Arbeiterklasse von I und II ernährt werden müsse. Umgekehrt. Es können jeweilig soviel Arbeiter in I und II sich ernähren, weil ihre Arbeitskraft unter den gegebenen Absatzbedingungen verwertet werden kann. Das heißt, nicht eine gegebene Anzahl Arbeiter und ihr Bedarf sind Ausgangspunkt für die kapitalistische Produktion, |104| sondern diese Größen selbst sind ständig schwankende »abhängige Variable« der kapitalistischen Profitaussichten. Es fragt sich also, ob der natürliche Zuwachs der Arbeiterbevölkerung auch einen neuen Zuwachs der zahlungsfähigen Nachfrage über das variable Kapital hinaus bedeutet. Das kann nicht der Fall sein. In unserem Schema ist die einzige Quelle der Geldmittel für die Arbeiterklasse das variable Kapital. Das variable Kapital begreift also im voraus den Zuwachs der Arbeiterschaft mit ein. Eins von beiden: Entweder sind die Löhne so bemessen, daß sie auch den Nachwuchs der Arbeiter ernähren, dann kann der Nachwuchs nicht noch einmal als Grundlage der erweiterten Konsumtion in Rechnung gezogen werden. Oder das ist nicht der Fall, dann müssen jugendliche Arbeiter, der Nachwuchs, selbst Arbeit liefern, um Lohn und Lebensmittel zu bekommen. Dann ist der arbeitende Nachwuchs eben in der Zahl der beschäftigten Arbeiter bereits einbegriffen. Der natürliche Zuwachs der Bevölkerung kann uns also den Akkumulationsprozeß im Marxschen Schema nicht erklären.

Doch halt! Die Gesellschaft besteht - auch unter der Herrschaft des Kapitalismus - nicht bloß aus Kapitalisten und Lohnarbeitern. Außer diesen beiden Klassen gibt es noch eine große Masse der Bevölkerung: Grundbesitzer, Angestellte, liberale Berufe: Ärzte, Rechtsanwälte, Künstler, Wissenschaftler, es besteht noch die Kirche mit ihren Dienern, der Geistlichkeit, und endlich der Staat mit seinen Beamten und dem Militär. Alle diese Bevölkerungsschichten sind weder den Kapitalisten noch den Lohnarbeitern im kategorischen Sinne beizuzählen. Sie müssen aber von der Gesellschaft ernährt und erhalten werden. Es werden also wohl diese außer den Kapitalisten und Arbeitern bestehenden Schichten sein, deren Nachfrage die Erweiterung der Produktion erforderlich macht. Doch ist dieser Ausweg bei näherem Zusehen nur ein scheinbarer. Die Grundbesitzer sind als Verzehrer der Rente, d.h. eines Teils des kapitalistischen Mehrwerts, augenscheinlich der Kapitalistenklasse zuzuzählen, ihre Konsumtion ist hier, wo wir den Mehrwert in seiner ungeteilten, primären Form betrachten, in der Konsumtion der Kapitalistenklasse bereits berücksichtigt. Die liberalen Berufe bekommen ihre Geldmittel, d.h. ihre Anweisungen auf einen Teil des gesellschaftlichen Produkts, meist direkt oder indirekt aus der Hand der Kapitalistenklasse, die sie mit Splittern ihres Mehrwerts abfindet. Soweit sind sie als Verzehrer des Mehrwerts mit ihrer Konsumtion der Kapitalistenklasse beizuzählen. Dasselbe gilt von der Geistlichkeit, nur daß diese zum Teil ihre Mittel auch von den Arbeitenden, also aus den Arbeiterlöhnen bezieht. Endlich der Staat mit seinen |105| Beamten und dem Militär wird aus den Steuern erhalten, diese aber liegen entweder auf dem Mehrwert oder auf Arbeiterlöhnen. Überhaupt kennen wir hier - in den Grenzen des Marxschen Schemas - nur zwei Quellen des Einkommens in der Gesellschaft: Arbeiterlöhne oder Mehrwert. So können alle die außer den Kapitalisten und den Arbeitern angeführten Bevölkerungsschichten nur als Mitverzehrer dieser beiden Einkommensarten gelten. Marx selbst lehnt den Hinweis auf diese »dritten Personen« als Abnehmer als eine Ausflucht ab: »Alle nicht direkt in der Reproduktion, mit oder ohne Arbeit, figurierenden Gesellschaftsglieder können ihren Anteil am jährlichen Warenprodukt - also ihre Konsumtionsmittel - in erster Hand nur beziehn aus den Händen der Klassen, denen das Produkt in erster Hand zufällt - produktiven Arbeitern, industriellen Kapitalisten und Grundbesitzern. Insofern sind ihre Revenuen materialiter abgeleitet von Arbeitslohn (der produktiven Arbeiter), Profit und Bodenrente und erscheinen daher jenen Originalrevenuen gegenüber als abgeleitete. Andrerseits jedoch beziehn die Empfänger dieser in diesem Sinn abgeleiteten Revenuen dieselben vermittelst ihrer gesellschaftlichen Funktion als König, Pfaff, Professor, Hure, Kriegsknecht etc., und sie können also diese ihre Funktionen als die Originalquellen ihrer Revenue betrachten.«(4) Gegenüber Verweisen auf die Verzehrer von Zins und Grundrente als Abnehmer sagt Marx: »Ist aber der Teil des Mehrwerts der Waren, den der industrielle Kapitalist als Grundrente oder Zins an andre Miteigentümer des Mehrwerts abzutreten hat, auf die Dauer nicht realisierbar durch den Verkauf der Waren selbst, so hat es auch mit der Zahlung von Rente oder Zins ein Ende, und können daher Grundeigentümer oder Zinsbezieher durch deren Verausgabung nicht als dei ex machina dienen zu beliebiger Versilberung bestimmter Teile der jährlichen Reproduktion. Ebenso verhält es sich mit den Ausgaben sämtlicher sog. unproduktiver Arbeiter, Staatsbeamte, Ärzte, Advokaten etc., und was sonst in der Form des 'großen Publikums' den politischen Ökonomen 'Dienste' leistet, um von ihnen Unerklärtes zu erklären.«(5)

Da auf diese Weise innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft schlechterdings keine ersichtlichen Abnehmer für die Waren zu entdecken sind, in denen der akkumulierte Teil des Mehrwertes steckt, so bleibt nur noch eins übrig: der auswärtige Handel. Mehrere Einwände entstehen jedoch gegen diese Methode, den auswärtigen Handel als eine bequeme Ablade- |106| stätte für Produkte zu betrachten, mit denen man sonst im Reproduktionsprozeß nichts anzufangen weiß. Der Hinweis auf auswärtigen Handel kommt nur auf die Ausflucht hinaus, die Schwierigkeit, der man in der Analyse begegnet ist, aus einem Lande in ein anderes zu verlegen, ohne sie aber zu lösen. Die Analyse des Reproduktionsprozesses bezieht sich überhaupt nicht auf ein einzelnes kapitalistisches Land, sondern auf den kapitalistischen Weltmarkt, für den alle Länder Inland sind. Marx hebt dies schon im ersten Bande des »Kapitals« bei der Behandlung der Akkumulation ausdrücklich hervor: »Es wird hier abstrahiert vom Ausfuhrhandel, vermittelst dessen eine Nation Luxusartikel in Produktions- oder Lebensmittel umsetzen kann und umgekehrt. Um den Gegenstand der Untersuchung in seiner Reinheit, frei von störenden Nebenumständen aufzufassen, müssen wir hier die gesamte Handelswelt als eine Nation ansehn und voraussetzen, daß die kapitalistische Produktion sich überall fortgesetzt und sich aller Industriezweige bemächtigt hat.«(6)

Die Analyse bietet dieselbe Schwierigkeit, wenn wir die Sache noch von einer anderen Seite betrachten. In dem Marxschen Schema der Akkumulation ist vorausgesetzt, daß der zu kapitalisierende Teil des gesellschaftlichen Mehrwertes von vornherein in der Naturalgestzur Welt kommt, die seine Verwendung zur Akkumulation bedingt und gestattet: »Mit einem Wort: der Mehrwert ist nur deshalb in Kapital verwandelbar, weil das Mehrprodukt, dessen Wert er ist, bereits die sachlichen Bestandteile eines neuen Kapitals enthält.«(7) In den Ziffern des Schemas ausgedrückt:

I. 5.000 c + 1.000 v + 1.000 m = 7.000 Produktionsmittel.
II. 1.430 c + 285 v + 285 m = 2.000 Konsummittel.

Hier kann der Mehrwert im Betrage von 570 m kapitalisiert werden, denn er besteht von vornherein in Produktionsmitteln; dieser Menge Produktionsmittel entspricht aber eine überschüssige Menge von Lebensmitteln im Betrage von 114 m, zusammen also können 684 m kapitalisiert werden. Aber der hier angenommene Vorgang der einfachen Übertragung der entsprechenden Produktionsmittel in das konstante Kapital, der Lebensmittel in das variable Kapital widerspricht den Grundlagen der kapitalistischen Warenproduktion. Der Mehrwert kann, in welcher Naturalgester auch stecken mag, nicht direkt zur Akkumulation in die Produktionsstätte übertragen, sondern er muß erst realisiert, in Geld aus- |107| getauscht werden.(8) Der Mehrwert des I im Belaufe von 500 könnte kapitalisiert werden, er muß aber zu diesem Zwecke erst überhaupt realisiert werden, er muß seine Naturalgesterst abstreifen und seine reine Wertgestannehmen, ehe er wieder zum produktiven Kapital geschlagen wird. Das bezieht sich auf jeden Einzelkapitalisten, trifft aber auch auf den gesellschaftlichen Gesamtkapitalisten zu, denn die Realisierung des Mehrwertes in reiner Wertgestist eine der Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion, und bei gesellschaftlicher Betrachtung der Reproduktion »muß man nicht in die von Proudhon der bürgerlichen Ökonomie nachgemachte Manier verfallen und die Sache so betrachten, als wenn eine Gesellschaft kapitalistischer Produktionsweise, en bloc, als Totalität betrachtet, diesen ihren spezifischen, historisch ökonomischen Charakter verlöre. Umgekehrt. Man hat es dann mit dem Gesamtkapitalisten zu tun.«(9) Der Mehrwert muß also unbedingt die Geldform passieren, er muß die Form des Mehrprodukts erst abstoßen, ehe er sie wieder zum Zwecke der Akkumulation annimmt. Was und wer sind aber die Abnehmer des Mehrprodukts von I und II? Um nur den Mehrwert von I und II zu realisieren, muß nach dem Vorhergehenden schon ein Absatz außerhalb I und II vorhanden sein. So wäre aber der Mehrwert erst in Geld verwandelt. Damit dieser realisierte Mehrwert auch noch zur Erweiterung der Produktion, zur Akkumulation verwendet werden kann, dazu ist eine Aussicht auf noch größeren künftigen Absatz erforderlich, der gleichfalls außerhalb I und II selbst liegt. Dieser Absatz für das Mehrprodukt muß also in jedem Jahre um die akkumulierte Rate des Mehrwertes wachsen. Oder umgekehrt: Die Akkumulation kann nur in dem Maße stattfinden, als Absatz außerhalb I und II wächst.


Fußnoten von Rosa Luxemburg

(1) Das Kapital, Bd. II, S. 488. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 507.] <=

(2) Das Kapital, Bd. II, S. 489. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 508.] <=

(3) Siehe Das Kapital, Bd. II, S. 491. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 509.] <=

(4) Das Kapital, Bd. II, S. 346. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 372.] <=

(5) Das Kapital, Bd. II, S. 432. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 453/454.] <=

(6) Das Kapital, Bd. I, S. 544. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 607.] <=

(7) l.c., 544. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 607.] <=

(8) Wir sehen hier von Fällen ab, wo ein Teil des Produkts, z.B. Kohle in den Kohlengruben, direkt ohne Austausch in den Produktionsprozeß wieder eingehen kann. Es sind dies im Ganzen der kapitalistischen Produktion Ausnahmefälle. Vgl. Marx: Theorien über den Mehrwert, Bd. II, Teil 2, S. 255 ff. [Karl Marx: Theorien über den Mehrwert, Zweiter Teil. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 26.2, S. 486 ff.] <=

(9) Das Kapital, Bd. II, S. 409. [Karl Marx: Das Kapital, Zweiter Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 24, S. 431.] <=



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