Unser Kampf | 18. Kapitel | Inhalt | 20. Kapitel | Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Die Akkumulation des Kapitals«, S. 231-238.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Die Akkumulation des Kapitals

Neunzehntes Kapitel.
Herr Woronzow und sein »Überschuß«


|231| Was die Vertreter der »volkstümlerischen« Theorie in Rußland auf das Problem der kapitalistischen Reproduktion führte, war ihre Überzeugung von der Aussichtslosigkeit des Kapitalismus in Rußland, und zwar infolge des Mangels an Absatzmärkten. W. Woronzow hatte seine Theorie in dieser Hinsicht in der Revue »Vaterländische Memoiren« und in anderen Revuen in einer Reihe von Artikeln niedergelegt, die 1882 zu einem Buch gesammelt unter dem Titel »Schicksale des Kapitalismus in Rußland« erschienen, sodann in einem Aufsatz im Maiheft derselben Revue 1883 unter dem Titel »Der Überschuß bei der Versorgung des Marktes mit Waren«, im Septemberheft der Revue »Russischer Gedanke« 1889 in einem Aufsatz über »Militarismus und Kapitalismus«, in dem Buche »Unsere Richtungen« 1893, endlich 1895 in Buchform unter dem Titel »Umrisse der theoretischen Nationalökonomie«. Die Stellung Woronzows zur kapitalistischen Entwicklung in Rußland ist nicht ganz leicht zu fassen. Er steht weder auf seiten der rein slavophilen Theorie, die aus den »Eigen- |232| tümlichkeiten« der ökonomischen Struktur Rußlands und seines besonderen »Volksgeistes« die Verkehrtheit und Verderblichkeit des Kapitalismus für Rußland ableitete, noch auf seiten der Marxisten, die in der kapitalistischen Entwicklung eine unvermeidliche historische Etappe erblickten, welche auch für die russische Gesellschaft den einzig gangbaren Weg des sozialen Fortschritts eröffnen könne. Woronzow seinerseits behauptete, der Kapitalismus sei in Rußland einfach unmöglich, er habe keine Wurzeln und keine Zukunft. Es sei gleichermaßen verkehrt, ihn zu verwünschen oder ihn herbeizuwünschen, denn es fehlen in Rußland die Lebensbedingungen selbst für eine kapitalistische Entwicklung, so daß alle die mit schweren Opfern verbundenen Anstrengungen, von Staats wegen den Kapitalismus in Rußland großzuziehen, verlorene Liebesmüh wären. Sieht man jedoch näher zu, dann schränkt Woronzow diese von ihm aufgestellte Behauptung sehr wesentlich wieder ein. Hat man nicht die Anhäufung des kapitalistischen Reichtums, sondern die kapitalistische Proletarisierung der kleinen Produzenten, die Unsicherheit der Existenz der Arbeiter, die periodischen Krisen im Auge, so stellt Woronzow alle diese Erscheinungen für Rußland durchaus nicht in Abrede. Im Gegenteil, er sagt ausdrücklich in der Vorrede zu seinen »Schicksalen des Kapitalismus in Rußland«: »Indem ich die Möglichkeit der Herrschaft des Kapitalismus in Rußland als einer Produktionsform bestreite, will ich nichts über seine Zukunft als Ausbeutungsform und -grad der Volkskräfte aussagen.« Woronzow meint also, der Kapitalismus könne in Rußland bloß nicht jenen Reifegrad erlangen wie im Westen, hingegen der Prozeß der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln sei in den russischen Verhältnissen wohl zu gewärtigen. Ja, Woronzow geht noch weiter. Er bestreitet gar nicht die Möglichkeit der Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen in gewissen Zweigen der russischen Industrie, selbst der kapitalistischen Ausfuhr aus Rußland nach den auswärtigen Märkten. Sagt er doch in seinem Aufsatz »Der Überschuß bei der Versorgung des Marktes«: »Die kapitalistische Produktion entwickelt sich in einigen Zweigen der Industrie sehr rasch (versteht sich: im russischen Sinne des Wortes).«(1) »Es ist sehr wahrscheinlich, daß Rußland, wie andere Länder, gewisse natürliche Vorteile hat, infolge deren es als Lieferant gewisser Arten Waren auf auswärtigen Märkten auftreten kann; es ist sehr möglich, daß sich das Kapital dies zunutze machen und die entsprechenden Produktionszweige in seine Hände ergreifen wird ..., d.h., die nationale Arbeitsteilung wird es unserem Kapitalismus erleichtern, in ge- |233| wissen Zweigen Fuß zu fassen. Es handelt sich aber für uns nicht darum. Wir reden nicht von der zufälligen Teilnahme des Kapitals an der industriellen Organisation des Landes, sondern wir fragen, ob es wahrscheinlich sei, daß die gesamte Produktion Rußlands auf kapitalistische Basis gestellt werden könnte.«(2)

In dieser Form bekommt die Skepsis des Herrn Woronzow offenbar ein ziemlich anderes Gesicht, als man zuerst annehmen mochte. Er hegt Zweifel darüber, ob sich die kapitalistische Produktionsweise je der gesamten Produktion in Rußland wird bemächtigen können. Dieses Kunststück hat sie aber bis jetzt noch in keinem Lande der Welt, nicht einmal in England ganz fertiggebracht. Eine derartige Skepsis in bezug auf die Zukunft des russischen Kapitalismus dürfte also vorerst ganz international gefaßt werden Und in der Tat läuft hier die Theorie Woronzows auf ganz allgemeine Erwägungen über die Natur und die Lebensbedingungen des Kapitalismus hinaus, sie stützt sich auf allgemeine theoretische Ansichten über den Reproduktionsprozeß des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Woronzow formuliert in folgender deutlicher Weise den besonderen Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise mit der Frage der Absatzmärkte: »Die nationale Arbeitsteilung, die Verteilung aller Industriezweige unter den am Welthandel beteiligten Ländern hat mit dem Kapitalismus gar nichts zu tun. Der Absatzmarkt, der sich auf diese Weise bildet, die Nachfrage nach den Produkten verschiedener Länder, die sich aus einer solchen Arbeitsteilung zwischen den Völkern ergibt, hat ihrem Charakter nach nichts gemein mit dem Absatzmarkt, den die kapitalistische Produktionsweise benötigt ... Die Produkte der kapitalistischen Industrie kommen auf den Markt zu einem anderen Zwecke: Sie berühren nicht die Frage, ob alle Bedürfnisse des Landes befriedigt sind; sie brauchen nicht unbedingt dem Unternehmer anstatt ihrer selbst ein anderes materielles Produkt zu liefern, das der Konsumtion dient. Ihr Hauptzweck ist: den in ihnen verborgenen Warenwert zu realisieren. Was ist das aber für ein Mehrwert, der den Kapitalisten um seiner selbst willen interessiert? Von dem Standpunkt, von dem aus wir die Frage betrachten, ist der erwähnte Mehrwert - der Überschuß der Produktion über die Konsumtion im Innern des Landes. Jeder Arbeiter produziert mehr, als er selbst konsumiert, und alle diese Überschüsse sammeln sich in wenigen Händen; die Besitzer dieser Überschüsse verzehren sie selbst, zu welchem Zwecke sie sie innerhalb des Landes sowie im Auslande gegen verschiedenste Lebensmittel und Gegenstände des Luxus austauschen; doch soviel sie auch essen, |234| trinken und tanzen mögen - den ganzen Mehrwert zu verjubeln, bringen sie doch nicht fertig; es verbleibt noch ein bedeutender Rest, den sie nicht gegen ein anderes Produkt austauschen, sondern ganz einfach loswerden, zu Geld machen müssen, sonst wird er sowieso umkommen. Da niemand im Lande da ist, an den sie diesen Rest loswerden könnten, so muß er ins Ausland ausgeführt werden - und da haben wir die Ursache, weshalb Länder, die sich kapitalisieren, ohne auswärtige Absatzmärkte nicht auskommen können.«(3)

Die Leser haben in dem obigen Zitat, das wir wörtlich mit allen Eigentümlichkeiten der Woronzowschen Ausdrucksweise übersetzt haben, eine Stichprobe, die ihnen eine Ahnung von dem geistvollen russischen Theoretiker gehen kann, bei dessen Lektüre man die köstlichsten Augenblicke verlebt.

Dieselben Ansichten hat Woronzow später in seinem Buche »Umrisse der theoretischen Nationalökonomie« 1895 zusammengefaßt, und hier wollen wir ihn hören. W. polemisiert gegen die Ansichten Say-Ricardos, namentlich auch gegen J. St. Mill, die die Möglichkeit einer allgemeinen Überproduktion bestritten. Dabei entdeckt er, was keiner vor ihm wußte: Er hat die Quelle aller Verirrungen der klassischen Schule in bezug auf die Krisen ausfindig gemacht. Diese Quelle liege in der irrtümlichen Theorie der Produktionskosten, der die bürgerliche Ökonomie fröne. Vom Standpunkte der Produktionskosten (die W. ohne Profit annimmt, was gleichfalls keiner vor ihm fertiggebracht hat) sei allerdings sowohl der Profit wie Krisen undenkbar und unerklärlich. Doch dieser originelle Denker will in seinen eigenen Worten genossen sein: »Nach der Lehre der bürgerlichen Nationalökonomie wird der Wert des Produkts durch die Arbeit bestimmt, die zu seiner Herstellung aufgewendet wurde. Nachdem sie aber diese Wertbestimmung gegeben hat, vergißt sie sie sofort, und bei den folgenden Erklärungen der Tauscherscheinungen stützt sie sich auf eine andere Theorie, in der die Arbeit durch Produktionskosten ersetzt ist. So werden zwei Produkte gegeneinander in solchen Quantitäten ausgetauscht, daß auf beiden Seiten gleiche Produktionskosten vorhanden sind. Bei einer solchen Auffassung des Austausches ist für einen Überschuß an Waren im Lande tatsächlich kein Platz. Irgendein Produkt der Jahresarbeit eines Arbeiters erscheint von diesem Standpunkt als Vertreter eines gewissen Quantums Stoff, aus dem es verfertigt ist, Werkzeuge, die dabei abgenutzt sind, und der Produkte, die zur Erhaltung des Arbeiters während der Produktionsperiode dienten. Bei seiner Erscheinung auf dem |235| Markte hat es (wohl »das Produkt«! - R. L.) den Zweck, seine Gebrauchsform zu ändern, sich wieder in den Stoff zu verwandeln, in Produkte für den Arbeiter und in den Wert, der zur Erneuerung der Werkzeuge nötig ist, und nach diesem Prozeß seiner Zerstückelung in Bestandteile wird der Prozeß ihrer Wiedervereinigung, der Produktionsprozeß einsetzen, währenddessen alle aufgezählten Werte verzehrt werden, dafür aber ein neues Produkt entstehen wird, das ein Bindeglied zwischen der vergangenen Konsumtion und der künftigen darstellt.« Aus diesem ganz eigenartigen Versuch, die gesellschaftliche Reproduktion als einen fortlaufenden Prozeß vom Standpunkte der Theorie der Produktionskosten darzustellen, folgt plötzlich, wie aus der Pistole geschossen, der folgende Schluß: »Wenn wir somit die Gesamtmasse der Produkte eines Landes betrachten, so werden wir gar keine überflüssige Ware vorfinden, die den Bedarf der Gesellschaft übersteigen würde; der unabsetzbare Überschuß ist daher vom Standpunkte der Werttheorie der bürgerlichen Nationalökonomie unmöglich.« Nachdem Woronzow so durch eine höchst souveräne Mißhandlung der »bürgerlichen Werttheorie« aus den Produktionskosten den Kapitalprofit ausgeschaltet hat, macht er nun diese seine Unterlassung im nächsten Moment zu einer großartigen Entdeckung: »Aber die angeführte Analyse deckt noch einen anderen Zug in der bis vor kurzem herrschenden Werttheorie auf: Es stellt sich heraus, daß auf dem Boden dieser Theorie für den Kapitalprofit kein Platz da ist.« Hier folgt eine in ihrer Kürze und Einfachheit verblüffende Beweisführung: »In der Tat, wenn mein Produkt, dessen Produktionskosten mit 5 Rubeln ausgedrückt sind, gegen ein anderes Produkt von gleichem Wert ausgetauscht wird, so wird das von mir Erhaltene nur ausreichen, um meine Auslagen zu decken, für meine Enthaltung aber (wörtlich so - R. L.) werde ich nichts kriegen.« Und jetzt hat Woronzow das Problem an der Wurzel gepackt:

»So stellt sich heraus, daß auf dem Boden einer streng logischen Entwicklung der Ideen der bürgerlichen Nationalökonomie das Schicksal des Überschusses von Waren auf dem Markte und das Schicksal des kapitalistischen Profits dasselbe ist. Dieser Umstand berechtigt uns zu dem Schluß, daß sich beide Phänomene in gegenseitiger Abhängigkeit befinden, daß die Möglichkeit des einen durch das Vorhandensein des anderen bedingt ist. Und in der Tat: Solange es keinen Profit gibt, gibt es auch keinen Warenüberschuß ... Anders, wenn sich im Lande Profit bildet. Dieser steht in keinem organischen Zusammenhang mit der Produktion, er ist ein Phänomen, das mit der letzteren nicht durch technisch-natürliche Bedingungen verbunden ist, sondern durch ihre äußere, soziale Form. Die Pro- |236| duktion braucht zu ihrer Fortsetzung ... nur Stoff, Werkzeuge, Lebensmittel für die Arbeiter und verzehrt deshalb selbst nur den entsprechenden Teil der Produkte; der Überschuß aber, der den Profit bildet und der für sich in dem ständigen Element des industriellen Lebens - in der Produktion - keinen Platz findet, muß für sich andere Konsumenten suchen, die mit der Produktion nicht organisch verknüpft sind, Konsumenten bis zu einem gewissen Grad zufälligen Charakters. Er (der Überschuß) kann solche Konsumenten finden, es ist aber auch möglich, daß er sie nicht findet in dem erforderlichen Maße, in diesem Fall werden wir einen Warenüberschuß auf dem Markte haben.«(4) Höchst zufrieden mit dieser »einfachen« Aufklärung, bei der er das Mehrprodukt zu einer Erfindung des Kapitals gemacht hat und den Kapitalisten zu einem »nicht organisch« mit der kapitalistischen Produktion verknüpften »zufälligen« Konsumenten, entwickelt Woronzow nunmehr auf Grund der Marxschen »konsequenten« Arbeitswerttheorie, die er nach seiner Erklärung im weiteren »benutzt« hat, die Krisen direkt aus dem Mehrwert in folgender Weise:

»Wenn das, was in Gestdes Arbeitslohnes in die Produktionskosten eingeht, von dem arbeitenden Teil der Bevölkerung verzehrt wird, so muß der Mehrwert, ausgenommen den Teil, der für die vom Markt erforderte Erweiterung der Produktion bestimmt ist, durch die Kapitalisten selbst vernichtet werden (wörtlich so! - R. L.). Sind sie dazu imstande und tun sie's, dann findet kein Warenüberschuß statt, wenn nicht - dann stellt sich Überproduktion, Industriekrise ein, Verdrängung der Arbeiter von den Fabriken und sonstige Übelstände.« Wer aber an diesen Übelständen in letzter Linie schuld ist, das ist nach Herrn Woronzow »die ungenügende Elastizität des menschlichen Organismus, der seine Konsumtionsfähigkeit nicht mit der Rapidität zu erweitern vermag, mit der der Mehrwert wächst«. Wiederholt formuliert er diesen genialen Gedanken in den folgenden Worten: »Somit liegt die Achillesferse der kapitalistischen Industrieorganisation in der Unfähigkeit der Unternehmer, ihr ganzes Einkommen zu verzehren.«

Hier gelangt also Woronzow, nachdem er die Ricardosche Werttheorie in der Marxschen »konsequenten« Fassung »benutzt« hat, zu der Sismondischen Krisentheorie, die er auch noch in einer möglichst rohen und simplistischen Form sich zu eigen macht. Während er aber die Auffassung Sismondis wiedergibt, glaubt er natürlich die von Rodbertus zu akzeptieren. »Die induktive Forschungsmethode hat zu derselben Theorie der Krisen und des Pauperismus geführt, die von Rodbertus objektiv aufgestellt wor- |237| den war« (5), erklärt er triumphierend. Was Woronzow unter der »induktiven Forschungsmethode« versteht, die er der »objektiven« entgegenstellt, ist freilich nicht ganz klar, doch kann darunter, da bei Herrn Woronzow alles möglich ist, auch die Marxsche Theorie zu verstehen sein. Aber auch Rodbertus sollte nicht »unverbessert« aus den Händen des originellen russischen Denkers hervorgehen. Zu der Rodbertusschen Theorie macht Woronzow nur die Korrektur, daß er aus ihr ausschaltet, was bei Rodbertus der Zentralpunkt des ganzen Systems war: die Fixierung der Lohnquote am Wert des Gesamtprodukts. Nach Herrn Woronzow wäre nämlich auch diese Maßregel gegen Krisen ein Palliativmittel, denn »die unmittelbare Ursache der erwähnten Erscheinungen (Überproduktion, Arbeitslosigkeit usw.) liegt nicht darin, daß der Anteil der arbeitenden Klassen am Nationaleinkommen zu klein ist, sondern darin, daß die Kapitalistenklasse nicht imstande ist, jedes Jahr die Masse Produkte zu verzehren, die ihr zufällt.«(6) Nachdem er aber soeben die Rodbertussche Reform der Einkommensverteilung abgelehnt hat, landet Woronzow mit der ihm eigenen »streng logischen Konsequenz« schließlich bei der folgenden Prognose für die künftigen Schicksale des Kapitalismus:

»Wenn nach alledem der industriellen Organisation, die in Westeuropa herrscht, noch weiter zu blühen und zu gedeihen beschieden sein sollte, so nur unter der Bedingung, daß Mittel gefunden werden, denjenigen Teil des Nationaleinkommens zu vernichten (wörtlich so! - R. L.), der die Konsumtionsfähigkeit der Kapitalistenklasse übersteigt und nichtsdestoweniger in ihre Hände gelangt. Die allereinfachste Lösung dieser Frage wäre eine entsprechende Änderung in der Verteilung des Nationaleinkommens unter den Teilnehmern der Produktion. Das kapitalistische Regime wäre für lange Zeit gesichert, wenn die Unternehmer von jedem Zuwachs des Nationaleinkommens für sich nur soviel behielten, wie sie zur Befriedigung aller ihrer Einfälle und Launen brauchen, den Rest aber der Arbeiterklasse, d.h. der Masse der Bevölkerung, überließen.«(7) So endet das Ragout aus Ricardo, Marx, Sismondi und Rodbertus mit der Entdeckung, daß die kapitalistische Produktion von der Überproduktion radikal kuriert wäre und in alle Ewigkeit »blühen und gedeihen« könnte, wenn die Kapitalisten auf die Kapitalisierung des Mehrwerts verzichteten und den entsprechenden Teil des Mehrwerts den Arbeitern zum Geschenk machen würden. Inzwischen, bis die Kapitalisten so vernünftig werden, |238| den guten Rat des Herrn Woronzow anzunehmen, verfallen sie auf andere Mittel, alljährlich einen Teil ihres Mehrwerts zu »vernichten«. Zu diesen probaten Mitteln gehört unter anderm der moderne Militarismus, und zwar, da Herr Woronzow mit tödlicher Sicherheit alles auf den Kopf zu stellen weiß, gerade in dem Maße, wie die Kosten des Militarismus nicht aus den Mitteln der arbeitenden Volksmasse, sondern aus dem Einkommen der Kapitalistenklasse bestritten werden. In erster Linie aber besteht das Rettungsmittel des Kapitalismus im auswärtigen Handel. Und das ist wiederum die »Achillesferse« des russischen Kapitalismus. Als letzter an der Tafel des Weltmarktes hat er bei der Konkurrenz älterer kapitalistischer Länder des Westens nur das Nachsehen, und so geht dem russischen Kapitalismus zusammen mit der Aussicht auf auswärtige Märkte auch die wichtigste Bedingung seiner Lebensfähigkeit ab, Rußland bleibt das »Reich der Bauern« und der »Volksproduktion«.

»Wenn das alles richtig ist«, schließt W. W. seinen Aufsatz vom »Überschuß bei der Versorgung des Marktes mit Waren«, »dann ergeben sich daraus auch die Schranken für die Herrschaft des Kapitalismus in Rußland: Die Landwirtschaft muß seiner Leitung entzogen werden; aber auch auf dem Gebiete der Industrie darf seine Entwicklung nicht zu sehr vernichtend auf die Hausindustrie einwirken, die bei unseren klimatischen Verhältnissen (!) für den Wohlstand eines großen Teils der Bevölkerung unentbehrlich ist. Wenn der Leser darauf bemerken wird, daß der Kapitalismus sich auf solche Kompromisse nicht einlassen wird, dann antworten wir: um so schlimmer für ihn.« So wäscht Herr Woronzow zum Schluß seine Hände und lehnt für seine Person jede Verantwortung für die weiteren Schicksale der wirtschaftlichen Entwicklung in Rußland ab.


Fußnoten von Rosa Luxemburg

(1) Vaterländische Memoiren, 1883, V, Zeitgenössische Rundschau, S. 4. <=

(2) l.c., S. 10. <=

(3) l.c., S. 14. <=

(4) Umrisse der theoretischen Nationalökonomie, Petersburg, 1895, S. 157 ff. <=

(5) Militarismus und Kapitalismus. In: Russische Gedanke, 1889, Bd. IX, S. 78. <=

(6) l.c., S. 80. <=

(7) l.c., S. 83. Vgl. Umrisse der theoretischen Nationalökonomie, S. 196. <=


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