Unser Kampf | 19. Kapitel | Inhalt | 21. Kapitel | Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Die Akkumulation des Kapitals«, S. 238-245.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Die Akkumulation des Kapitals

Zwanzigstes Kapitel.
Nikolai-on


|238| Mit anderer ökonomischer Vorbildung und Sachkenntnis geht der zweite Theoretiker der »volkstümlerischen« Kritik, Nikolai-on, ans Werk. Einer der gründlichsten Kenner der russischen Wirtschaftsverhältnisse, hatte er schon 1880 durch seine Abhandlung über die Kapitalisierung der landwirtschaftlichen Einkommen (in der Revue »Slowo«) Aufsehen erregt. Dreizehn Jahre später gab er, angeregt durch die große russische Hungersnot des Jahres 1891, ein Buch unter dem Titel »Abhandlungen über unsere Volkswirtschaft nach der Reform« heraus, in dem er jene erste Unter- |239| suchung weiterführt und auf Grund eines großangelegten und mit reichem Tatsachen- und Zahlenmaterial fundierten Bildes der Entwicklung des Kapitalismus in Rußland nachzuweisen sucht, daß diese Entwicklung für das russische Volk zur Quelle aller Übel und auch der Hungersnot geworden sei. Nikolai-on legt seinen Ansichten über die Schicksale des Kapitalismus in Rußland eine bestimmte Theorie der Entwicklungsbedingungen der kapitalistischen Produktion überhaupt zugrunde, und diese Theorie ist es eben, die für uns von Interesse ist.

Für die kapitalistische Wirtschaftsweise ist der Absatzmarkt von entscheidender Bedeutung. Jede kapitalistische Nation sucht sich deshalb einen möglichst großen Absatzmarkt zu sichern. Sie greift dabei naturgemäß vor allem zu ihrem eigenen inneren Markt. Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung kann sich jedoch eine kapitalistische Nation mit dem inneren Markte nicht mehr begnügen, und zwar aus folgenden Gründen: Das ganze neue Jahresprodukt der gesellschaftlichen Arbeit kann man in zwei Teile sondern: in einen Teil, den die Arbeitet in Gestihrer Löhne bekommen, und einen anderen Teil, den die Kapitalisten sich aneignen. Der erste Teil vermag aus der Zirkulation nur ein Quantum Lebensmittel zu entziehen, das seinem Werte nach der Summe der im Lande gezahlten Löhne entspricht. Die kapitalistische Wirtschaft hat aber die ausgesprochene Tendenz, diesen Teil immer mehr herabzudrücken. Die Methoden, deren sie sich dabei bedient, sind: Verlängerung der Arbeitszeit, Steigerung der Intensität der Arbeit, Steigerung ihrer Produktivität vermittelst technischer Vervollkommnungen, die es ermöglichen, an Stelle männlicher Arbeitskräfte weibliche und jugendliche zu setzen und erwachsene Arbeiter zum Teil ganz aus der Arbeit zu verdrängen. Mögen auch die Löhne der übrigen beschäftigten Arbeiter steigen, doch kann die Steigerung niemals den Ersparnissen des Kapitalisten gleichkommen, die durch jene Verschiebungen bedingt werden. Aus alledem ergibt sich, daß die Rolle der Arbeiterklasse als Käufer auf dem inneren Markte immer mehr verringert wird. Daneben vollzieht sich noch ein anderer Prozeß: Die kapitalistische Produktion bemächtigt sich Schritt für Schritt der Gewerbe, die bei der landwirtschaftlichen Bevölkerung eine Nebenbeschäftigung waren, sie entzieht dem Bauerntum auf diese Weise eine Erwerbsquelle nach der anderen, wodurch auch die Kaufkraft der ländlichen Bevölkerung gegenüber den Erzeugnissen der Industrie immer mehr zurückgeht, so daß der innere Markt auch von dieser Seite immer mehr zusammenschrumpft. Wenden wir uns aber an den Anteil der Kapitalistenklasse, so vermag auch dieser nicht das ganze neuerzeugte Produkt zu realisieren, |240| dies freilich aus umgekehrten Gründen. Wie groß auch die Konsumtionsbedürfnisse dieser Klasse sein mögen, sie kann doch nicht das ganze jährliche Mehrprodukt persönlich verzehren, erstens, weil ein Teil davon zur Erweiterung der Produktion, für technische Verbesserung aufgewendet werden muß, die jedem Einzelunternehmer durch den Konkurrenzkampf als Existenzbedingung aufgezwungen wird; zweitens, weil mit dem Wachstum der kapitalistischen Produktion auch jener Zweig wächst, der die Produktion von Produktionsmitteln besorgt, wie Bergbau, Maschinenindustrie usw., und dessen Produkt durch seine Gebrauchsgestvon vornherein die persönliche Konsumtion ausschließt und die Funktion als Kapital bedingt; drittens endlich, weil die größere Produktivität der Arbeit und Kapitalersparnis, die bei der Massenproduktion billiger Waren erreicht werden kann, immer mehr die gesellschaftliche Produktion gerade auf solche Massenprodukte richtet, die nicht durch die Handvoll Kapitalisten verbraucht werden können.

Obwohl nun der Mehrwert des einen Kapitalisten im Mehrprodukt anderer Kapitalisten realisiert werden kann und umgekehrt, so bezieht sich das doch nur auf Produkte eines bestimmten Zweiges, nämlich der Lebensmittelbranche. Aber das Hauptmotiv der kapitalistischen Produktion ist nicht Befriedigung der persönlichen Konsumtionsbedürfnisse. Das äußert sich auch darin, daß die Produktion von Lebensmitteln im ganzen immer mehr zurücktritt gegen die Produktion von Produktionsmitteln. »Auf diese Weise sehen wir, daß, wie das Produkt jeder Fabrik die Bedürfnisse der darin beschäftigten Arbeiter und des Unternehmers nach diesem Produkt weitaus übertrifft, ebenso das Gesamtprodukt einer kapitalistischen Nation weitaus die Bedürfnisse der gesamten beschäftigten Industriebevölkerung übertrifft, und zwar übertrifft sie sie gerade deshalb, weil die Nation eine kapitalistische ist, weil ihre gesellschaftliche Kräfteverteilung nicht auf die Befriedigung der wirklichen Bedürfnisse der Bevölkerung gerichtet ist, sondern bloß auf die Befriedigung zahlungsfähiger Bedürfnisse. Genauso wie ein Einzelfabrikant also auch nicht einen Tag existieren kann als Kapitalist, wenn sein Absatzmarkt nur durch die Bedürfnisse seiner Arbeiter und seine persönlichen Bedürfnisse beschränkt wäre, ebenso vermag sich auch eine entwickelte kapitalistische Nation nicht mit ihrem eigenen inneren Markt zu begnügen.«

So hat die kapitalistische Entwicklung die Tendenz, auf einer gewissen Höhe sich selbst Hindernisse zu bereiten. Diese Hindernisse kommen in letzter Linie daher, daß die fortschreitende Produktivität der Arbeit angesichts der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produk- |241| tionsmitteln nicht der ganzen Gesellschaft, sondern bloß einzelnen Unternehmern zugute kommt, während eine Masse Arbeitskräfte und Arbeitszeit durch diesen Prozeß »befreit«, überflüssig werden und nicht bloß für die Gesellschaft verlorengehen, sondern ihr sogar zur Last fallen. Wirkliche Bedürfnisse der Volksmasse können nur in dem Maße besser befriedigt werden, als die »volkstümliche«, auf der Vereinigung des Produzenten mit den Produktionsmitteln basierende Produktionsweise das Übergewicht bekommt. Der Kapitalismus hat aber das Bestreben, sich just dieser Produktionssphären zu bemächtigen und so den Hauptfaktor seiner eigenen Blüte zu vernichten. Waren doch z.B. die periodischen Hungersnöte in Indien, die alle zehn oder elf Jahre auftraten, eine der Ursachen der Periodizität der industriellen Krisen in England. In diesen Widerspruch gerät früher oder später jede Nation, die die Bahn der kapitalistischen Entwicklung betreten hat, denn er steckt in dieser Produktionsweise selbst. Je später aber eine Nation die Bahn des Kapitalismus betritt, um so schärfer macht sich der Widerspruch geltend, denn sie kann nach der Sättigung des inneren Marktes keinen Ersatz auf dem auswärtigen finden, da dieser schon von älteren konkurrierenden Ländern mit Beschlag belegt ist.

Aus alledem folgt, daß die Schranken des Kapitalismus durch die steigende Armut gegeben sind, die seine eigene Entwicklung bedingt, durch die wachsende Zahl überzähliger Arbeiter, die gar keine Kaufkraft besitzen. Der zunehmenden Produktivität der Arbeit, die jedes zahlungsfähige Bedürfnis der Gesellschaft außerordentlich rasch befriedigt, entspricht eine zunehmende Unfähigkeit wachsender Volksmassen, ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen, dem Überfluß unabsetzbarer Waren - der Mangel breiter Massen an dem Notwendigsten.

Das sind die allgemeinen Ansichten Nikolai-ons.(1) Man sieht: Nikolai-on kennt seinen Marx und hat sich die beiden ersten Bände des »Kapitals« sehr wohl zunutze kommen lassen. Und doch ist seine ganze Argumentation echt sismondisch: Der Kapitalismus führt selbst zur Verkürzung des inneren Marktes durch die Verelendung der Massen, alles Unheil in der modernen Gesellschaft kommt von der Zerstörung der »volkstümlichen« Produktionsweise, d.h. des Kleinbetriebes - das sind seine Leitmotive. Das Lob des alleinseligmachenden Kleinbetriebes kommt sogar bei Nikolai-on als der Grundton seiner ganzen Kritik viel deutlicher und offener bei Sismondi zum Ausdruck.(2) Im Schlußresultat ist die Realisi- |242| rung des kapitalistischen Gesamtprodukts im Innern der Gesellschaft unmöglich, sie kann nur dank den auswärtigen Märkten gelingen. Hier mündet Nikolai-on, trotz ganz verschiedener theoretischer Ausgangspunkte, mit Woronzow in den gleichen Schluß, dessen Moral, auf Rußland angewendet, die ökonomische Begründung der Skepsis im Verhältnis zum Kapitalismus bildet. In Rußland hat die kapitalistische Entwicklung, der auswärtige Märkte von vornherein abgeschnitten sind, nur Schattenseiten, nur Verelendung der Volksmassen ergeben, und deshalb war die Förderung des Kapitalismus in Rußland ein verhängnisvoller »Fehler«.

Hier angelangt, donnert Nikolai-on wie ein alttestamentarischer Prophet: »Anstatt uns an die jahrhundertealten Überlieferungen zu halten, anstatt das von uns ererbte Prinzip der festen Verbindung des unmittelbaren Produzenten mit den Produktionsmitteln zu entwickeln, anstatt die Errungenschaften der westeuropäischen Wissenschaft zu benutzen, um sie auf Produktionsformen anzuwenden, die auf dem Besitz der Produktionsmittel durch die Bauern beruhen, anstatt die Produktivität ihrer Arbeit durch die Konzentrierung der Produktionsmittel in ihren Händen zu erhöhen, anstatt uns nicht die westeuropäische Form der Produktion, wohl aber ihre Organisation zunutze kommen zu lassen, ihre starke Kooperation, ihre Arbeitsteilung, ihre Maschinen usw. usw., anstatt das Prinzip zu entwickeln, das dem bäuerlichen Grundbesitz zugrunde liegt, und es auf die bäuerliche Bodenbearbeitung anzuwenden, anstatt dem Bauerntum zu diesem Zwecke den Zutritt zur Wissenschaft und deren Anwendung weit zu öffnen: anstatt alles dessen haben wir den direkt entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Wir haben nicht bloß die Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen nicht verhindert, trotzdem sie auf der Expropriation des Bauerntums basieren, sondern wir haben umgekehrt mit allen Kräften die Umkrempelung unseres ganzen wirtschaftlichen Lebens gefördert, die zu der Hungersnot des Jahres 1891 geführt hat.« Das Übel sei bereits weit gediehen, doch sei es noch nicht zu spät zur Umkehr. Im Gegenteil, eine völlige Reform der ökonomischen Politik sei für Rußland eine ebenso dringende Notwendigkeit angesichts der drohenden Proletarisierung und des drohenden Untergangs wie seinerzeit die alexandrinischen Reformen nach dem Krimkriege. Die soziale Reform, die Nikolai-on empfiehlt, ist |243| nun völlig utopisch und kehrt um soviel krasser als bei Sismondi die kleinbürgerliche und reaktionäre Seite der Auffassung heraus, als der russische »Volkstümler« um 70 Jahre später schreibt. Nach seiner Meinung ist nämlich die einzige Rettungsplanke Rußlands aus der kapitalistischen Überschwemmung die alte »Obschtschina«, die auf Gemeinbesitz an Grund und Boden beruhende Landgemeinde. Auf diese sollen - durch Maßnahmen freilich, die das Geheimnis Nikolai-ons geblieben sind - die Resultate der modernen Großindustrie und der modernen wissenschaftlichen Technik aufgepfropft werden, damit sie als Grundlage einer »vergesellschafteten« höheren Produktionsform dienen könne. Rußland habe keine Wahl mehr als diese Alternative: entweder Umkehr von der kapitalistischen Entwicklung oder Untergang und Tod.(3)

|244| Nikolai-on langt also nach einer vernichtenden Kritik des Kapitalismus bei demselben alten Allheilmittel der »Volkstümelei« an, das schon in den fünfziger Jahren, damals freilich mit viel mehr Recht, als ein »spezifisch russisches« Pfand der höheren sozialen Entwicklung glorifiziert worden ist, das aber schon 1875 von Engels im »Volksstaat« im Aufsatz »Flüchtlingsliteratur« als ein lebensunfähiges Überbleibsel uralter Einrichtungen in ihrem reaktionären Charakter aufgezeigt wurde. »Die Fortentwicklung Rußlands in bürgerlicher Richtung«, schrieb Engels damals, »würde das Gemeinde-Eigentum auch hier nach und nach vernichten, ohne daß die russische Regierung mit 'Bajonetten und Knute' einzuschreiten braucht (wie sich die revolutionären Volkstümler einbildeten - R. L.) ... unter dem Druck von Steuern und Wucher ist das Gemeinde-Eigentum an Grund und Boden keine Wohltat mehr, es wird eine Fessel. Die Bauern entlaufen ihm häufig, mit oder ohne Familie, um sich als wandernde Arbeiter zu ernähren, und lassen ihr Land daheim.

|245| Man sieht, das Gemeinde-Eigentum in Rußland hat seine Blütezeit längst passiert und geht allem Anscheine nach seiner Auflösung entgegen.« Damit hatte Engels bereits 18 Jahre vor Nikolai-ons Hauptschrift in der Frage der Obschtschina den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn Nikolai-on darauf nochmals frischen Mutes dasselbe Gespenst der Obschtschina heraufbeschwor, so war das insofern ein arger historischer Anachronismus, als ungefähr ein Jahrzehnt später bereits das offizielle Begräbnis der Obschtschina von Staats wegen erfolgte. Die absolutistische Regierung, die ein halbes Jahrhundert lang mit aller Gewden Apparat der bäuerlichen Landgemeinde zu fiskalischen Zwecken künstlich zusammenzuhalten gesucht hatte, sah sich gezwungen, diese Sisyphusarbeit selbst aufzugeben. Bald zeigte es sich an der Agrarfrage als denn mächtigsten Faktor der russischen Revolution ganz offenkundig, wie sehr der alte Wahn der »Volkstümler« bei dem tatsächlichen ökonomischen Gang der Dinge ins Hintertreffen geraten war und wie kräftig umgekehrt die kapitalistische Entwicklung in Rußland, die sie als eine totgeborene betrauerten und verwünschten, ihre Lebensfähigkeit und ihre fruchtbare Arbeit unter Blitz und Donner zu offenbaren verstand. Diese Wendung der Dinge sollte wieder und zum letztenmal in ganz verändertem historischem Milieu feststellen, daß eine soziale Kritik des Kapitalismus, die theoretisch von dem Zweifel an seiner Entwicklungsmöglichkeit ausgeht, mit fataler Logik auf eine reaktionäre Utopie hinausläuft - so gut 1819 in Frankreich wie 1842 in Deutschland und 1893 in Rußland.(4)


Fußnoten von Rosa Luxemburg

(1) Vgl. Abhandlungen über unsere Volkswirtschaft, namentlich S. 202-205 u. 338-341. <=

(2) Die frappante Ähnlichkeit in der Position der russischen »Volkstümler« mit der Auffassung Sismondis hat namentlich Wlad. Iljin 1897 in einem Aufsatz »Zur Charakteristik des ökonomischen Romantizismus« im einzelnen nachgewiesen. [W. I. Lenin: Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik. In: Werke, Bd. 2, S. 121-251.] <=

(3) Siehe l.c., S. 322 ff. Anders beurteilte Fr. Engels die Lage in Rußland und suchte Nikolai-on wiederholt klarzumachen, daß für Rußland die großindustrielle Entwicklung unvermeidlich und daß die Leiden Rußlands nur die typischen Widersprüche des Kapitalismus seien. So schreibt er am 22. September 1892: »Ich behaupte nun, daß die industrielle Produktion heutzutage grande industrie bedeutet, Dampf, Elektrizität, mechanische Spindeln und Webstühle und schließlich maschinelle Herstellung der Maschinen selbst. Von dem Tage an, da Rußland Eisenbahnen einführte, war die Einführung dieser modernen Produktionsmittel beschlossene Sache. Ihr müßt imstande sein, Eure eigenen Lokomotiven, Waggons, Schienenwege zu reparieren und das kann nur auf billige Weise geschehen, wenn Ihr bei Euch auch die Dinge herstellen könnt, die Ihr reparieren wollt. Von dem Augenblick an, da die Kriegführung ein Zweig der grande industrie wurde (Panzerschiffe, gezogene Geschütze, schnellfeuernde Repetierkanonen, Repetiergewehre, Stahlmantelkugel, rauchloses Pulver usw.), ist die grande industrie, ohne die alle diese Dinge nicht produziert werden können, eine politische Notwendigkeit geworden. All das kann man nicht ohne eine hochentwickelte Metallindustrie haben, und diese wieder ist unmöglich ohne eine entsprechende Entwicklung aller anderen Industriezweige, namentlich der Textilindustrie.«

Und weiter in demselben Briefe: »Solange sich die russische Manufaktur auf den inneren Markt beschränken muß, können ihre Produkte auch nur den Inlandsbedarf decken. Dieser aber kann nur langsam wachsen und sollte sogar, wir mir scheint, unter den gegenwärtigen Bedingungen in Rußland abnehmen.

Denn es ist eine der notwendigen Folgeerscheinungen der grande industrie, daß sie ihren eigenen innern Markt durch denselben Prozeß zerstört, durch den sie ihn schafft. Sie schafft ihn, indem sie die Basis der bäuerlichen Hausindustrie vernichtet. Aber ohne Hausindustrie kann die Bauernschaft nicht leben. Die Bauern werden als Bauern ruiniert; ihre Kaufkraft wird auf ein Minimum reduziert; und bis sie sich als Proletarier in die neuen Existenzbedingungen hineingefunden haben, geben sie für die neuentstandenen Fabriken einen sehr schlechten Markt ab.

Die kapitalistische Produktion als eine vorübergehende ökonomische Phase ist voll innerer Widersprüche, die sich in dem Maße entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. Die Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerstören, ist einer dieser Widersprüche. Ein anderer liegt in der , zu der sie führt und die in einem Land ohne auswärtigen Markt, wie Rußland, eher eintritt als in Ländern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzfähig sind. Diese letztgenannten Länder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine Lösung in der Ausdehnung des Handels durch gewaltsame Erschließung neuer Märkte. Aber auch da steht man vor einem cul-de-sac. Nehmen Sie England! Der letzte neue Markt, dessen Erschließung dem englischen Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen könnte, ist China. Daher besteht das englische Kapital darauf, die chinesischen Eisenbahnen zu bauen. Aber chinesische Eisenbahnen bedeuten die Zerstörung der ganzen Basis der chinesischen kleinen Landwirtschaft und Hausindustrie, und da es nicht einmal eine chinesische grande industrie als Gegengewicht gibt, wird es Hunderten von Millionen Menschen unmöglich gemacht, ihr Dasein zu fristen. Die Folge wird eine Massenauswanderung sein, wir sie die Welt noch nicht gesehen hat, eine Überflutung Amerikas, Asiens und Europas durch den verhaßten Chinesen, der dem amerikanischen, australischen und europäischen Arbeiter auf der Grundlage des chinesischen Lebensstandards, des niedrigsten der Welt, Konkurrenz machen wird - und wenn die Produktionsweise in Europa bis dahin noch nicht umgewälzt ist, so wird ihre Umwälzung dann notwendig werden.« (Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels an Nikolai-on. Übersetzt ins Russische von G. Lopatin, Petersburg 1908, S. 79.) [Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson, 22. September 1892. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 38, S. 467 u. 469/470.] - Trotzdem Engels an die Entwicklung der Dinge in Rußland aufmerksam verfolgte und dafür das größte Interesse zeigte, lehnte er seinerseits geflissentlich jede Einmischung in den russischen Streit ab. Er äußerte sich darüber selbst in seinem Briefe vom 24. November 1894, also kurz vor seinem Tode, wie folgt:

»Meine russischen Freunde bestürmen mich ununterbrochen mit der Bitte, auf russische Zeitschriften und Bücher zu antworten, in denen die Worte unseres Autors (so wurde in dem Briefwechsel Marx bezeichnet - R. L.) nicht nur falsch interpretiert, sondern auch falsch zitiert werden; sie behaupten, mein Eingreifen würde genügen, um alles in Ordnung zu bringen. Ich habe das ständig abgelehnt, weil ich mich nicht, ohne dringende und wichtige Arbeiten aufzugeben, in Kontroversen hineinzerren lassen kann, die in einem weit entfernten Land in einer Sprache geführt werden, die ich noch nicht so leicht wie die bekannteren westeuropäischen Sprachen zu lesen vermag, und in Druckschriften, von denen ich im besten Falle nur gelegentliche Bruchstücke zu Gesicht bekomme, und daher die Debatte ganz unmöglich gründlich und in allen ihrer Phasen und Einzelheiten verfolgen kann. Überall trifft man ja Leute, die, um eine einmal eingenommene Position zu verteidigen, vor keiner Verzerrung und keinem unfairen Manöver zurückschrecken; und wenn man das mit den Schriften unseres Autors gemacht hat, so befürchte ich, daß man auch mit mir nicht glimpflicher verfahren und mich so schließlich zwingen würde, in die Debatte einzugreifen, um andere und mich selbst zu verteidigen.« (l.c., S. 90.) [Engels an Nikolai Franzewitseh Danielson, 24. November 1894. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 39, S. 328.] <=

(4) Übrigens sind die überlebenden Wortführer des volkstümlerischen Pessimismus, namentlich Herr W. Woronzow, ihrer Auffassung bis zuletzt treu geblieben, trotz allem, was inzwischen in Rußland passiert ist - eine Tatsache, die ihrem Charakter mehr Ehre macht als ihrem Kopfe. Im Jahre 1902 schrieb Herr W. W. mit Hinweis auf die Krise der Jahre 1900-1902 »Die dogmatische Lehre des Neomarxismus verliert rasch ihre Macht über die Geister, und die Wurzellosigkeit des neuesten Erfolge des Individualismus ist offenbar selbst für seine offiziellen Apologeten klargeworden ... Im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts kehren wir somit zu derselben Auffassung der ökonomischen Entwicklung Rußlands zurück, die von der Generation der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ihren Nachfolgern vermacht worden war.« (Siehe die Revue »Die Volkswirtschaft«, Oktober 1902. Zit. bei A. Finn-Jenotajewskij: Die gegenwärtige Wirtschaft Rußlands (1890 bis 1910), Petersburg 1911, S. 2.) Statt auf die »Wurzellosigkeit« der eigenen Theorien, schließen die letzten Mohikaner der Volkstümelei also heute noch auf die »Wurzellosigkeit« der ökonomischen Wirklichkeit - eine lebendige Widerlegung des Barèreschen Wortes: »il n'y a que les morts qui ne reviennent pas.« <=


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