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Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Die Akkumulation des Kapitals«, S. 275-278.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|275| Es ist ein Verdienst der russischen »legalen« Marxisten und insbesondere Tugan-Baranowskis, die Analyse des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und dessen schematische Darstellung im zweiten Bande des Marxschen »Kapitals« im Kampfe mit den Skeptikern der kapitalistischen Akkumulation für die Wissenschaft fruktifiziert zu haben. Da aber Tugan-Baranowski diese schematische Darstellung für die Losung des Problems selbst statt für dessen Formulierung versehen hat, so kam er zu Schlüssen, welche die Grundlagen selbst der Marxschen Lehre auf den Kopf stellen mußten.
Die Tugansche Auffassung, wonach die kapitalistische Produktion für sich selbst schrankenlosen Absatz bilden könne und von der Konsumtion unabhängig sei, führt ihn geradenwegs zu der Say-Ricardoschen Theorie |276| von dem natürlichen Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion, Nachfrage und Angebot. Der Unterschied ist nur der, daß Say-Ricardo sich ausschließlich in den Bahnen der einfachen Warenzirkulation bewegten, während Tugan dieselbe Auffassung einfach auf die Kapitalzirkulation überträgt. Seine Theorie der Krisen aus »Disproportionalität« ist im Grunde genommen nichts als eine Paraphrase der alten platten Abgeschmacktheit Says: Wenn von irgendeiner Ware zuviel produziert worden ist, so beweist das bloß, daß von irgendeiner anderen Ware zuwenig produziert worden ist, nur daß Tugan diese Abgeschmacktheit in der Sprache der Marxschen Analyse des Reproduktionsprozesses vorträgt. Und wenn er entgegen Say die allgemeine Überproduktion wohl für möglich erklärt, und zwar mit dem Hinweis auf die von Say ganz vernachlässigte Geldzirkulation, so basieren Tugans erfreuliche Operationen mit dem Marxschen Schema doch tatsächlich auf derselben Vernachlässigung der Geldzirkulation, wie sie Say und Ricardo im Problem der Krisen geläufig war: »Schema Nr. 2« wird sofort voller Stacheln mit Widerhaken, sobald man beginnt, es auf die Geldzirkulation zu transponieren. An diesen Stacheln ist Bulgakow in seinem Versuch, die abgebrochene Marxsche Analyse zu Ende zu denken, hängengeblieben. Es ist diese Vereinigung von Marx geborgter Denkformen mit Say-Ricatdoschem Gedankeninhalt, was Tugan-Baranowski bescheiden seinen »Versuch der Synthese der Marxschen Theorie mit der klassischen Nationalökonomie« getauft hat.
So gelangt die optimistische Theorie, die die Möglichkeit und Entwicklungsfähigkeit der kapitalistischen Produktion gegen kleinbürgerliche Zweifel verteidigte, nach fast einem Jahrhundert und über die Marxsche Lehre in ihren »legalen« Wortführern wieder zum Ausgangspunkt, zu Say-Ricardo. Die drei »Marxisten« landen bei den bürgerlichen Harmonikern der guten alten Zeit knapp vor dem Sündenfall und der Vertreibung der bürgerlichen Nationalökonomie aus dem Paradiese der Unschuld - der Kreis ist geschlossen.
Die »legalen« russischen Marxisten haben über Ihre Widersacher, die »Volkstümler«, zweifellos gesiegt, sie haben aber zuviel gesiegt. Alle drei - Struve, Bulgakow, Tugan-Baranowski - haben im Eifer des Gefechts mehr bewiesen als zu beweisen war. Es handelte sich darum, ob der Kapitalismus im allgemeinen und insbesondere in Rußland entwicklungsfähig sei, und die genannten Marxisten haben diese Fähigkeit so gründlich dargetan, daß sie sogar die Möglichkeit der ewigen Dauer des Kapitalismus theoretisch nachgewiesen haben. Es ist klar, daß, wenn man die schrankenlose Akkumulation des Kapitals annimmt, man auch die schranken- |277| lose Lebensfähigkeit des Kapitals bewiesen hat. Die Akkumulation ist die spezifisch kapitalistische Methode der Erweiterung der Produktion, der Entwicklung der Produktivität der Arbeit, der Entfaltung der Produktivkräfte, des ökonomischen Fortschritts. Ist die kapitalistische Produktionsweise imstande, schrankenlos die Steigerung der Produktivkräfte, den ökonomischen Fortschritt zu sichern, dann ist sie unüberwindlich. Der wichtigste objektive Pfeiler der wissenschaftlichen sozialistischen Theorie bricht dann zusammen, die politische Aktion des Sozialismus, der Ideengehdes proletarischen Klassenkampfes hört auf, ein Reflex ökonomischer Vorgänge, der Sozialismus hört auf, eine historische Notwendigkeit zu sein. Die Beweisführung, die von der Möglichkeit des Kapitalismus ausging, landet bei der Unmöglichkeit des Sozialismus.
Die drei russischen Marxisten waren sich des von ihnen im Gefecht vollzogenen Terrainwechsels wohl bewußt. Struve machte sich freilich über den Verlust des teuren Pfandes vor Jubel über die Kulturmission des Kapitalismus weiter keine Sorgen.(1) Bulgakow suchte das in die sozialistische Theorie gerissene Leck notdürftig mit einem anderen Fetzen dieser Theorie zu verstopfen: Er erhoffte, daß die kapitalistische Wirtschaft dennoch trotz ihres immanenten Gleichgewichts zwischen Produktion und Absatz zugrunde gehen müsse, und zwar an dem Fall der Profitrate. Dieser etwas nebelhafte Trost wird aber durch Bulgakow selbst zum Schluß vernichtet, wo er, auf die letzte Rettungsplanke, die er dem Sozialismus hingestreckt hatte, vergessend, plötzlich Tugan-Baranowski belehrt, daß der relative Fall der Profitrate für große Kapitale durch das absolute Wachstum des Kapitals wettgemacht werde.(2)
Endlich Tugan-Baranowski, der konsequenteste von allen, reißt mit der derben Freude eines Naturburschen sämtliche objektive ökonomische Pfeiler der sozialistischen Theorie nieder und baut die Welt in seinem |278| Geiste »schöner wieder auf« - auf dem Fundament der »Ethik«. »Das Individuum protestiert gegen eine Wirtschaftsordnung, die den Zweck (den Menschen) in ein Mittel verwandelt und das Mittel (die Produktion) in einen Zweck.«(3)
Wie dünn und fadenscheinig die neuen Begründungen des Sozialismus waren, haben alle drei genannten Marxisten an ihrer Person bewiesen, indem sie dem Sozialismus alsbald, kaum daß sie ihn neu begründet hatten, den Rücken kehrten. Während die Massen in Rußland mit Einsetzung ihres Lebens für die Ideale einer Gesellschaftsordnung kämpften, die dereinst den Zweck (den Menschen) über das Mittel (die Produktion) stellen soll, schlug sich »das Individuum« in die Büsche und fand in Kant eine philosophische und ethische Beruhigung. Die »legalen« russischen Marxisten endeten praktisch, wo ihre theoretische Position sie hinführte: im Lager der bürgerlichen »Harmonien«.
Fußnoten von Rosa Luxemburg
(1) In einer 1901 herausgegebenen Sammlung seiner russischen Aufsätze sagt Struve in der Einleitung: »Im Jahre 1894, als der Verfasser seine 'Kritischen Bemerkungen zur Frage der ökonomischen Entwicklung Rußlands' veröffentlichte, war er in der Philosophie kritischer Positivist, in der Soziologie und Nationalökonomie ausgesprochener, wenn auch durchaus nicht orthodoxer Marxist. Seitdem haben sowohl der Positivismus wie der auf ihn gestützte (!) Marxismus aufgehört, für den Verfasser die ganze Wahrheit zu sein, haben aufgehört, seine Weltanschauung völlig zu bestimmen. Er sah sich genötigt, auf eigene Faust ein neues Gedankensystem zu suchen und auszuarbeiten. Der bösartige Dogmatismus, der Andersdenkende nicht nur widerlegt, sondern sie auch noch moralisch-psychologisch spioniert, erblickt in einer solchen Arbeit nur 'epikureische Flatterhaftigkeit des Sinnes'. Er ist nicht imstande zu begreifen, daß das Recht der Kritik an sich eins der teuersten Rechte des lebendigen, denkenden Individuums ist. Auf dieses Recht gedenkt der Verfasser nicht zu verzichten, und sollte ihm auch ständig die Gefahr drohen, unter der Anklage der 'Unbeständigkeit' zu stehen.« (Über verschiedene Themen, Petersburg 1901.) <=
(2) Siehe Bulgakow: l.c., S. 252. <=
(3) Tugan-Baranowski: Studien [zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England], S. 229. <=
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