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Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Einführung in die Nationalökonomie«, S. 628-642.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie

III. Wirtschaftsgeschichtliches (I) - 3.


|628| Um den Wert des Grosseschen Schemas zu prüfen, wenden wir uns zunächst direkt an die Tatsachen. Prüfen wir - wenn auch mit flüchtigem Blick - die Wirtschaftsweise der tiefststehenden Völker. Welche sind das?

Grosse nennt sie die »niederen Jäger« und sagt von ihnen: »Die niederen Jägervölker bilden heute nur einen geringen Bruchteil der Menschheit. Durch ihre unvollkommene und unergiebige Produktionsform zu numerischer Schwäche und kultureller Armut verdammt, sind sie überall vor den größeren und stärkeren Völkern zurückgewichen, so daß sie jetzt nur noch in unzugänglichen Urwäldern und unwirtlichen Wüsten ihr Dasein fristen. Ein großer Teil dieser kümmerlichen Stämme gehört zwerghaften Rassen an. Es sind eben die Schwächsten, welche im Kampfe um das Dasein von den Stärkeren in die kulturfeindlichsten Gegenden gedrängt und damit zugleich zum kulturellen Stillstande verurteilt wurden. Immerhin aber findet man auch heute noch in allen Erdteilen, mit Ausnahme von Europa, Vertreter der ältesten Wirtschaftsform. Afrika birgt eine Menge von klein gewachsenen Jägervölkern; leider aber sind wir bisher nur über ein einziges derselben, die Buschmänner der Kalaharisteppe (in Deutsch-Südwestafrika - R. L.), einigermaßen unterrichtet; das Leben der übrigen Pygmäenstämme versteckt sich noch in dem Dunkel der |629| zentralen Urwälder. Wenden wir uns von Afrika nach Osten, so treffen wir zunächst im Innern von Ceylon (an der Südspitze der ostindischen Halbinsel - R. L.) das zwerghafte Jägervolk der Wedda, weiter auf der Andamanen-Gruppe die Mincopie, im Innern Sumatras die Kubu und in den Bergwildnissen der Philippinen die Aeta, drei Stämme, die wiederum zu den kleinen Rassen gehören. Der australische Kontinent war vor der europäischen Besiedelung in seiner ganzen Weite von niederen Jägerstämmen bevölkert; und wenn die Eingeborenen in der letzten Hälfte des Jahrhunderts durch die Kolonisten aus dem größten Teile der Küstengebiete vertrieben sind, so halten sie sich doch noch in den Wüsten des Innern. In Amerika endlich kann man, vom tiefsten Süden bis in den höchsten Norden verstreut, eine ganze Reihe von kulturärmsten Gruppen verfolgen. In den regen- und sturmgepeitschten Bergöden um Kap Horn (Südspitze Südamerikas - R. L.) hausen die Feuerländer, welche mehr als ein Beobachter für die elendesten und rohesten aller Menschen erklärt hat. Durch die Wälder Brasiliens streifen außer den übelberufenen Botokuden wohl noch manche Jägerhorden, von denen uns dank den Forschungen von der Steinens wenigstens die Bororo näher bekannt geworden sind. Zentralkalifornien (an der Westküste Nordamerikas - R. L.) birgt verschiedene Stämme, die nur wenig über den armseligsten Australiern stehen.«(1) Ohne Grosse weiter folgen zu können, der seltsamerweise auch die Eskimo zu den niedersten Völkern rechnet, wollen wir jetzt bei einigen der oben aufgezählten Stämme nach Spuren eines gesellschaftlich planmäßigen Organisation der Arbeit Umschau halten.

Wenden wir uns zunächst an die australischen Menschenfresser, die sich nach mehreren Gelehrten auf dem tiefsten Stand der Kultur befinden, den das Menschengeschlecht auf Erden aufzuweisen hat. Bei den Australnegern finden wir vor allem die bereits erwähnte primitive Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen: Diese besorgen hauptsächlich die pflanzliche Nahrung sowie Holz und Wasser, die Männer liegen der Jagd ob und besorgen fleischliche Nahrung.

Ferner finden wir hier ein Bild der gesellschaftlichen Arbeit, das den direkten Gegensatz zur »individuellen Nahrungssuche« darstellt und uns zugleich einen Beleg dafür gibt, wie in primitivsten Gesellschaften für den nötigen Fleiß aller erforderlichen Arbeitskräfte gesorgt wird, zum Beispiel: »Im Stamme Chepara wird von allen Männern, falls sie nicht krank sind, erwartet, daß sie für Nahrung sorgen. Ist ein Mann faul und bleibt |630| im Lager, so wird er von den anderen verhöhnt und beschimpft. Männer, Weiber und Kinder verlassen das Lager am frühen Morgen, um Nahrung zu suchen. Nachdem sie genügend gejagt haben, tragen Männer und Weiber ihre Beute zur nächsten Wassergrube, wo Feuer gemacht und das Wild gebraten wird. Männer, Weiber und Kinder essen alle freundschaftlich zusammen, nachdem die Alten die Nahrung unter alle gleich verteilt haben. Nach dem Mahl tragen die Weiber die Reste ins Lager, und die Männer jagen unterwegs.«(2)

Nun aber Näheres über den Plan der Produktion bei den Australnegern. Dieser ist nämlich außerordentlich kompliziert und bis ins einzelne ausgearbeitet. Jeder australische Stamm zerfällt in eine Anzahl Gruppen, von denen jede nach einem Tier oder einer Pflanze benannt ist, die sie verehrt, und ein abgegrenztes Stück Gebiet innerhalb des Stammesgebiets besitzt. Ein gewisses Gebiet gehört also zum Beispiel den Känguruh-Männern, ein anderes den Emu-Männern (Emu ist ein großer Vogel, ähnlich dem Strauß), ein drittes den Schlangen-Männern (die Australneger verspeisen auch Schlangen) usw. Diese »Totems« sind nach der Erklärung der neuesten wissenschaftlichen Forschungen, wie wir bereits früher in einem anderen Zusammenhang erwähnt haben, fast lauter Tiere und Pflanzen, die den Australnegern zur Nahrung dienen. Jede solche Gruppe hat ihren Häuptling, der die Jagd anführt und leitet. Der Tier- oder Pflanzenname und der entsprechende Kult sind nun keine leere Form: Jede einzelne Gruppe der Australneger ist tatsächlich verpflichtet, die tierische oder pflanzliche Kost ihres Namens zu besorgen, für Bestand und Nachwuchs dieser Nahrungsquelle Sorge zu tragen. Und zwar tut dies jede Gruppe nicht für sich, sondern vor allem für die anderen Gruppen des Stammes. So zum Beispiel sind die Känguruh-Männer verpflichtet, Känguruhfleisch für die übrigen Stammesgenossen zu besorgen, die Schlangen-Männer, Schlangen zu beschaffen, die Raupen-Männer, eine gewisse Raupe, die als Delikatesse gilt, zu sichern usw. Bezeichnenderweise ist all dies mit strengen religiösen Gebräuchen und großen Zeremonien verbunden. So ist zum Beispiel fast allgemeine Regel, daß die Leute jeder Gruppe ihr eigenes Totemtier oder ihre eigene -pflanze nicht oder nur sehr mäßig essen dürfen, hingegen müssen sie sie für andere beschaffen. Ein Mann der Schlangengruppe muß sich zum Beispiel, wenn er eine Schlange erjagt - außer in großem Hunger -, von ihrem Genuß enthalten, sie hingegen ins Lager für die andern bringen. Ebenso wird ein Emu-Mann das Fleisch |631| des Emu nur äußerst mäßig, die Eier und das Fett des Vogels aber, das als Heilmittel gebraucht wird, gar nicht für sich nehmen, sondern den Stammesgenossen abliefern. Andererseits dürfen die anderen Gruppen das Tier oder die Pflanze nicht ohne Erlaubnis der entsprechenden Totemmänner jagen oder sammeln und in Nahrung nehmen. Alljährlich wird von jeder Gruppe eine feierliche Zeremonie abgehalten, die den Zweck hat, den Nachwuchs des Totemtieres oder der -pflanze (durch Gesänge, Blasen und verschiedene Kultzeremonien) zu sichern, worauf erst den anderen Gruppen gestattet ist, davon zu essen. Den Zeitpunkt, wann die Zeremonien stattzufinden haben, bestimmt für jede Gruppe ihr Häuptling, der auch die Zeremonie leitet. Und dieser Zeitpunkt ist direkt mit den Produktionsbedingungen verknüpft. In Zentralaustralien gibt es eine lange trockene Jahreszeit, unter der Tier und Pflanze stark leiden, und eine kurze Regenzeit, der eine Zunahme des tierischen Lebens und ein üppiger Pflanzenwuchs folgen. Die meisten Zeremonien der Totemgruppen werden nun beim Herannahen der guten Jahreszeit abgehalten. Noch Ratzel betrachtete es als ein »komisches Mißverständnis«, wenn gesagt wurde, die Australier benennen sich nach ihren wichtigsten Nahrungsmitteln.(3) In dem oben kurz angedeuteten System der Totemgruppen muß aber jedermann schon auf den ersten Blick eine ausgebildete Organisation der gesellschaftlichen Produktion erkennen. Die einzelnen Totemgruppen sind offenbar nichts anderes als Glieder eines ausgedehnten Systems der Arbeitsteilung. Alle Gruppen zusammen bilden ein geordnetes, planmäßiges Ganzes, und auch jede Gruppe für sich verfährt ganz organisiert und planmäßig unter einer einheitlichen Leitung. Die Tatsache aber, daß dieses Produktionssystem in religiöser Form auftritt, in Form von allerlei Speiseverboten, Zeremonien usw., beweist nur, daß dieser Produktionsplan uralten Datums ist, daß vor vielen Jahrhunderten, ja Jahrtausenden diese Organisation bereits bei den Australnegern bestand, so daß sie Zeit hatte, in starren Formeln zu verknöchern, daß zu Artikeln des Glaubens an geheimnisvolle Zusammenhänge wurde, was ursprünglich einfache Zweckmäßigkeiten vom Standpunkte der Produktion und der Nahrungsbeschaffung war. Diese von den Engländern Spencer und Gillen aufgedeckten Zusammenhänge werden auch von einem anderen Gelehrten, Frazer, bestätigt. Dieser sagt zum Beispiel ausdrücklich: »Wir müssen dessen eingedenk bleiben, daß die verschiedenen Totemgruppen in der totemistischen Gesellschaft nicht voneinander isoliert leben; dieselben sind vermengt und üben ihre magischen Kräfte zum Gemeinwohl aus. Im ur- |632| sprünglichen System jagten [1] und töteten die Känguruh-Männer - wenn wir nicht irren - Känguruhs ebensogut zum Nutzen aller übrigen Totemgruppen wie zu ihrem eigenen, und so mag es mit dem Raupentotem, dem Falkentotem und den übrigen gestanden haben. Unter dem neuen System (in der religiösen Form - R. L.), nach welchem den Männern das Töten und Essen der Totemtiere verboten wurde, fuhren die Känguruh-Männer fort, Känguruhs zu produzieren, doch nicht mehr zu eigenem Gebrauch; die Emu-Männer fuhren fort mit der Vermehrung der Emus, obwohl sie selbst vom Emu-Fleisch nichts mehr genießen durften; die Raupen-Männer setzten ihre Zauberkünste zur Fortpflanzung der Raupen fort, wenn auch diese Leckerbissen nunmehr für andere Mägen bestimmt waren.«[2] Mit einem Wort: Was uns heute als ein Kultsystem entgegentritt, war schon in uralten Zeiten ein einfaches System der organisierten gesellschaftlichen Produktion mit weitgehender Arbeitsteilung. - Wenden wir uns jetzt an die Verteilung der Produkte bei den Australnegern, so finden wir ein womöglich noch ausführlicheres und komplizierteres System. Jedes gejagte Stück Wild, jedes gefundene Vogelei, jede gesammelte Handvoll Früchte wird nach ganz festen Regeln planmäßig diesen oder jenen Gliedern der Gesellschaft zur Konsumtion zugewiesen. Was zum Beispiel von den Weibern an pflanzlicher Nahrung gesammelt wird, gehört ihnen und ihren Kindern. Die Jagdbeute der Männer wird verteilt nach Regeln, die in jedem Stamme anders, die aber bei allen Stämmen äußerst eingehend sind. So zum Beispiel beobachtete der englische Gelehrte Howitt, der die Völkerschaften im Südosten Australiens, hauptsächlich im Gebiete Victoria, beobachtete, folgende Verteilungsart:

»Ein Mann tötet ein Känguruh in einer gewissen Entfernung vom Lager. Zwei andere Männer sind in seiner Begleitung, doch kommen sie nicht mehr dazu, ihm bei der Tötung des Tieres beizustehen. Die Entfernung vom Lager ist beträchtlich, weshalb das Känguruh gebraten wird, bevor es heimgetragen wird. Des erste Mann zündet ein Feuer an, und die beiden andern zerschneiden das Wild, die drei braten die Eingeweide und essen sie. Die Verteilung geschieht folgendermaßen: Die Männer Nr. 2 und 3 erhalten einen Schenkel und den Schweif und einen Schenkel mit einem Teil der Hüfte, weil sie zugegen waren und bei der Zerteilung mithalfen. Der Mann Nr. 1 behält das übrige und trägt es ins Lager. Den Kopf und Rücken trägt sein Weib zu ihren Eltern, das übrige kommt zu |633| seinen Eltern. Wenn er kein Fleisch hat, behält er ein wenig für sich, doch hat er zum Beispiel ein Opossum, so gibt er alles weg. Hat seine Mutter Fische gefangen, so mag sie ihm etwas davon geben, oder die Schwiegereltern geben ihm etwas von ihrem Teil; auch geben sie ihm in solchem Falle etwas am nächsten Morgen. Die Kinder sind in allen Fällen durch die Großeltern wohlversorgt.«(4) In einem Stamme gelten folgende Regeln: Von einem Känguruh zum Beispiel erhält der Erleger ein Lendenstück, der Vater das Rückenstück, die Rippen, Schultern und den Kopf; die Mutter den rechten Schenkel, der jüngere Bruder das linke Vorderbein, die ältere Schwester ein Stück entlang des Rückens, die jüngere das rechte Vorderbein. Der Vater gibt den Schwanz und ein Stück des Rückens weiter an seine Eltern, die Mutter gibt ein Teil des Schenkels und das Schienbein an ihre Eltern weiter. Von einem Bären behält der Jäger selbst die linken Rippen, der Vater erhält den rechten Hinterfuß, die Mutter den linken, der ältere Bruder den rechten Vorderfuß, der jüngere den linken. Die ältere Schwester bekommt das Rückenstück, die jüngere die Leber. Das rechte Rippenstück gehört dem Vatersbruder, ein Seitenstück dem mütterlichen Onkel, und der Kopf kommt ins Lager der jungen Männer.

In einem anderen Stamme hingegen wird die gewonnene Nahrung immer unter alle Anwesenden gleich verteilt. Wird zum Beispiel ein Wallaby (kleinere Känguruhart) erlegt und sind zum Beispiel zehn oder zwölf dabei, so erhält jeder einen Teil des Tieres. Keiner von ihnen berührt das Tier oder ein Stück desselben, bevor ihm sein Teil vom Erleger gegeben wurde. Ist der, welcher das Tier erlegt hat, zufällig abwesend, während es gebraten wurde, so rührt es keiner an, bevor er zurückkommt und es verteilt. Die Weiber erhalten gleiche Teile wie die Männer, und die Kinder werden von beiden Eltern sorgfältig bedacht.(5)

Auch diese verschiedenen Verteilungsarten, die in jedem Stamme anders sind, verraten darin ihren uraltertümlichen Charakter, daß sie in rituellen Formen auftreten und in Sprüche gefaßt sind.(6) Es kommt darin zum Ausdruck die vielleicht jahrtausendealte Tradition, die jeder Generation als etwas Überliefertes, als unverbrüchliche Regel gilt und streng eingehalten wird. Dieses System zeigt aber zweierlei in deutlichster Weise. Es zeigt vor allem, daß bei den Australnegern, dieser vielleicht zurückgebliebensten Menschenart, nicht bloß die Produktion, sondern auch die |634| Konsumtion als gemeinsame, gesellschaftliche Sache planmäßig organisiert ist, und zweitens, daß dieser Plan deutlich die Versorgung und Sicherung aller Mitglieder der Gesellschaft im Auge hat, und zwar entsprechend sowohl den Nahrungsbedürfnissen wie den Leistungskräften: Unter allen Umständen. und vor allem ist für die alten Leute gesorgt, und diese wiederum, so wie die Mütter, sorgen ihrerseits für die kleinen Kinder. So ist das ganze wirtschaftliche Leben der Australier - die Produktion, die Arbeitsteilung, die Verteilung der Nahrungsmittel - in strengster Weise planmäßig organisiert, seit den Urzeiten in feste Regeln gebracht.

Von Australien wenden wir uns nach Nordamerika. Hier bieten im Westen die spärlichen Reste der Indianer, die auf der Insel Tiburon im Golf von Kalifornien und auf einem schmalen Streifen des benachbarten Festlandes wohnen, ein besonderes Interesse dank ihrer gänzlichen Abgeschlossenheit und Feindseligkeit Fremden gegenüber, wodurch sie sich ihre uralten Sitten in großer Reinheit bewahrt haben. Im Jahre 1895 wurde von Gelehrten der Vereinigten Staaten eine Expedition zur Erforschung dieses Stammes unternommen, und die Resultate derselben sind uns von dem Amerikaner MacGee geschildert. Danach zerfällt der Stamm der Seri-Indianer - denn so heißt dieses nunmehr sehr spärliche Völklein - in vier Gruppen, von denen jede nach einem Tier benannt ist. Die beiden wichtigsten sind die Pelikangruppe und die Schildkrötengruppe. Die Gebräuche, Sitten und Regeln dieser Gruppen in bezug auf ihre Totemtiere sind streng geheimgehalten und waren fast nicht zu ermitteln. Wenn wir aber zugleich erfahren, daß die Nahrung dieser Indianer hauptsächlich aus Pelikanfleisch, Schildkröten, Fischen und anderen Seetieren besteht, und wenn wir uns an das vorhin geschilderte System der Totemgruppen bei den Australnegern erinnern, so dürfen wir wohl mit einiger Sicherheit annehmen, daß auch bei den indianischen Nachbarn Kaliforniens der geheimnisvolle Kult der Totemtiere und die Einteilung des Stamms in entsprechende Gruppen nichts anderes als Überbleibsel eines uralten, streng organisierten Produktionssystems mit Arbeitsteilung darstellt, das in religiösen Symbolen verknöcherte. Darin bestärkt uns zum Beispiel der Umstand, daß der oberste Schutzgeist der Seri-Indianer der Pelikan ist; dieser Vogel ist es aber zugleich, der gerade die Grundlage des wirtschaftlichen Daseins des genannten Stammes bildet. Pelikanfleisch ist Hauptnahrung, Pelikanhäute dienen als Kleidung, als Bettung, als Schild, als wichtigster Tauschartikel gegenüber Fremden. Die wichtigste Arbeitsform der Seri, die Jagd, ist nun bis auf den heutigen Tag streng geregelt. So ist zum Beispiel die Pelikanjagd eine wohlorganisierte gemeinsame Unter- |635| nehmung »zum mindesten halbzeremoniellen Charakters«. Pelikanjagden dürfen nur in bestimmten Zeiten stattfinden, und zwar so, daß während der Brutzeit die Vögel geschont werden, damit ihr Nachwuchs gesichert wird. »Der Schlächterei (das massenhafte Erschlagen der schwerfälligen Tiere bietet keine Schwierigkeiten - R. L.) folgt ein großes Fressen, bei welchem die halbverhungerten Familien die weicheren Teile im Dunkeln verschlingen und lärmend zechen, bis sie der Schlaf überkommt. Am nächsten Tage suchen die Weiber die Leichname aus, deren Gefieder am wenigsten verletzt ist, und ziehen die Bälge sorgfältig ab.«[3] Das Fest dauert mehrere Tage, und verschiedene Zeremonien sind damit verbunden. Jenes »große Fressen« also, jenes »Verschlingen im Dunkeln« und dazu mit Lärm, das Professor Bücher sicher als ein Zeichen rein tierischen Gebarens festnageln würde, ist in Wirklichkeit - gerade der zeremonielle Charakter bürgt uns dafür genügend - sehr wohl organisiert. Mit der Planmäßigkeit der Jagd ist nämlich strenge Regelung der Verteilung und der Konsumtion verbunden. Das gemeinsame Essen und Trinken geht in bestimmter Reihenfolge vor sich: Zuerst kommt der Häuptling (zugleich Leiter der Jagd), dann die übrigen Krieger in einer durch das Alter bestimmten Reihe, dann kommt die älteste Frau und nach ihr ihre Töchter nach dem Alter an die Reihe, endlich die Kinder in der Reihenfolge des Alters, wobei die Mädchen, namentlich wenn sie sich der Mannbarkeit nähern, durch die Nachsicht der Weiber gewisse Vorteile genießen. »Jedes Mitglied der Familie oder des Clans kann auf die notwendige Nahrung und Bekleidung Anspruch erheben, und es ist Sache jeder anderen Person, darauf zu sehen, daß dieser Bedarf gedeckt werde. Der Grad dieser Pflicht richtet sich teils nach der Nachbarschaft, so daß dieselbe... bei der nächsten Person beginnt, hauptsächlich aber sind der Rang und die Verantwortlichkeit in der Gruppe (gewöhnlich Äquivalente des Alters) maßgebend. Es ist die Pflicht der ersten Person bei einem Mahle, dafür zu sorgen, daß für die unter ihr Stehenden genügend übrigbleibe, und diese Pflicht steigt dann in der Weise abwärts, daß selbst für die Interessen der hilflosen Kinder gesorgt ist.«[7]

Aus Südamerika besitzen wir das Zeugnis Professor von der Steinens über den wilden Indianerstamm der Bororo in Brasilien. Auch hier herrscht vor allem die typische Arbeitsteilung: Die Frauen beschaffen pflanzliche Nahrung, suchen Wurzeln mit einem spitzen Stock, klettern mit |636| großer Gewandtheit auf die Palmen, sammeln Nüsse, schneiden in der Krone den Palmkohl, suchen Früchte und dergleichen. Die Frauen bereiten auch die pflanzliche Nahrung, und sie verfertigen auch die Töpfe. Wenn die Frauen heimkommen, geben sie den Männern Früchte etc. und erhalten, was übrigbleibt von dem Fleisch. Die Verteilung und die Konsumtion sind streng geregelt.

»Verhinderte die Etikette die Bororo keineswegs ...«, sagt von der Steinen, »gemeinsam zu speisen, so hatten sie dafür andere seltsame Gebräuche, die deutlich zeigen, daß auf knappe Jagdbeute angewiesene Stämme sich auf die eine oder andere Weise nach Mitteln umschauen müssen, Zank und Streit bei der Verteilung vorzubauen. Da bestand zunächst eine höchst auffällige Regel: Niemand briet das Wild, das er selbst geschossen hatte, sondern gab es einem anderen zum Braten! Gleich weise Vorsicht wird für kostbare Felle und Zähne geübt. Nach Erlegung eines Jaguars wird ein großes Fest gefeiert; das Fleisch wird gegessen. Das Fell und die Zähne erhält aber nicht der Jäger, sondern ... der nächste Verwandte des Indianers oder der Indianerin, die zuletzt verstorben ist. Der Jäger wird geehrt, er bekommt von jedermann Ararasfedern (vornehmster Schmuck der Bororo - R. L.) zum Geschenk und den mit Oassú-Bändern geschmückten Bogen. Die wichtigste Maßregel jedoch, die vor Unfrieden schützt, ist mit dem Amt des Medizinmannes verknüpft« [4] oder, wie die Europäer in solchen Fällen zu sagen pflegen, des Zauberers oder Priesters. Dieser muß beim Erlegen jedes Tieres zugegen sein, vor allem aber jedes erlegte Tier und auch die pflanzliche Kost erst durch bestimmte Zeremonien zum Verteilen und Gebrauch freigeben. Die Jagd findet auf Ansagen und unter Leitung des Häuptlings statt. Die jungen und unverheirateten Männer wohnen gemeinsam im »Männerhause«, wo sie gemeinsam arbeiten, Waffen, Werkzeug und Schmuck verfertigen, spinnen, Ringkämpfe aufführen und auch gemeinsam, in strenger Zucht und Ordnung, essen, wie wir bereits früher erwähnt haben. »Ein großer Verlust«, sagt von der Steinen, »betrifft die Familie, aus der ein Mitglied stirbt. Denn alles, was der Tote in Gebrauch hatte, wird verbrannt, in den Fluß geworfen oder in den Knochenkorb gepackt, damit er keinesfalls veranlaßt sei, zurückzukehren. Die Hütte ist dann vollständig ausgeräumt. Allein die Hinterbliebenen werden neu beschenkt, man macht Bogen und Pfeile für sie, und so will es auch die Sitte, daß, wenn ein Jaguar getötet wird, das Fell 'an den Bruder der zuletzt gestorbenen Frau oder an den Oheim des |637| zuletzt gestorbenen Mannes' gegeben wird.«(8) So herrscht auch bei der Produktion wie bei der Verteilung ein ganz bestimmter Plan und gesellschaftliche Organisation.

Wenn wir das amerikanische Festland bis zur tiefsten Südspitze durchwandern, so finden wir hier eines der tiefststehenden Naturvölker, die Feuerländer, jene Bewohner der an der Spitze von Südamerika gelegenen unwirtlichen Inselgruppe, über die uns die ersten Nachrichten im 17. Jahrhundert überbracht worden sind. Im Jahre 1698 ist auf die Anregung französischer Seeräuber, die in der Südsee lange Jahre ihr Handwerk getrieben hatten, von der französischen Regierung eine Expedition nach der Südsee ausgeschickt worden. Von einem der Ingenieure, die daran teilgenommen haben, ist uns ein Tagebuch hinterlassen worden, das folgende knappe Nachrichten über die Feuerländer enthält:

»Jede Familie, das heißt Vater, Mutter und Kinder, die noch nicht verheiratet sind, hat ihre Piroge (ein Kahn aus Baumrinde), worin sie alles führen, was sie benötigen. Dort, wo sie die Nacht ereilt, da legen sie sich schlafen. Gibt es keine fertige Hütte, so errichten sie eine ... In der Mitte machen sie ein kleines Feuer an, um das sie in einem Durcheinander auf Gräsern liegen. Wenn sie Hunger verspüren, braten sie sich Muscheln, die der Älteste unter ihnen in gleichen Teilen verteilt. Die Hauptbeschäftigung der Männer und ihre Pflicht besteht in der Errichtung der Hütte, der Jagd und dem Fischfang; den Weibern liegt die Sorge für die Kähne ob und die Beschaffung der Muscheln ... Sie machen Jagd auf den Walfisch in folgender Weise: Sie gehen zu fünf oder sechs Kähnen zusammen in See, und wenn sie einen gefunden haben, verfolgen sie ihn, harpunieren ihn mit großen Pfeilen, deren Spitzen aus Knochen oder Stein sehr geschickt geschnitten sind ... Wenn sie ein Tier oder einen Vogel erlegt oder Fische und Muscheln, die ihre gewöhnliche Nahrung bilden, gefangen haben, verteilen sie sie unter allen Familien, indem sie dies vor uns voraus haben, daß sie fast ihre sämtlichen Lebensmittel insgemein besitzen.«(9)

Von Amerika wenden wir uns nach Asien. Hier berichtet uns über die Zwergstämme der Mincopie auf der Inselgruppe der Andamanen (im Golf von Bengalen) der englische Forscher E. H. Man, der elf Jahre unter |638| ihnen verbracht hat und zu einer genaueren Kenntnis von ihnen gelangt ist als irgendein anderer Europäer, folgendes:

Die Mincopie zerfallen in neun Stämme, jeder Stamm in eine größere Anzahl kleiner Gruppen zu 30-50, manchmal aber auch 300 Personen. Jede solche Gruppe hat ihren Vorsteher, auch der ganze Stamm hat einen Häuptling, der über denjenigen der einzelnen Gemeinschaften steht. Doch seine Autorität ist sehr beschränkt; sie besteht hauptsächlich in der Veranstaltung von Versammlungen sämtlicher Gemeinschaften, welche zu seinem Stamme gehören. Er ist der Anführer bei der Jagd, beim Fischfang und auf den Wanderungen, er schlichtet auch die Zwistigkeiten. Innerhalb jeder Gemeinschaft besteht gemeinsame Arbeit, und zwar mit Arbeitsteilung unter Männern und Frauen. Den Männern liegen die Jagd, der Fischfang, die Beschaffung von Honig, Herstellung der Kähne, der Bogen, Pfeile und anderer Gerätschaften ob, die Weiber schaffen Holz und Wasser herbei sowie pflanzliche Nahrung, stellen Schmucksachen her, kochen. Es ist die Pflicht all jener Männer und Weiber, die zu Hause bleiben, Kinder, Kranke und Greise zu pflegen und das Feuer in den verschiedenen Hütten zu unterhalten; jedermann, der arbeitsfähig ist, ist verpflichtet, für sich und die Gemeinschaft zu arbeiten, auch ist es üblich, dafür zu sorgen, daß ständig ein Nahrungsvorrat da ist, um etwa einkehrende Fremde damit zu bewirten. Die kleinen Kinder, die Schwachen und die Greise sind spezielle Gegenstände allgemeiner Fürsorge, und es ergeht ihnen in bezug auf die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse noch besser als den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft.

Über die Nahrungsaufnahme bestehen bestimmte Regeln. Ein verheirateter Mann darf nur mit anderen Ehemännern oder Junggesellen zusammen essen, jedoch niemals mit anderen Frauen als mit denen seines eigenen Haushalts, es sei denn, daß er bereits vorgeschrittenen Alters ist. Die unverheirateten Leute haben ihre Mahlzeiten gesondert - Jünglinge für sich, Mädchen für sich - einzunehmen.

Die Zubereitung der Speisen ist gewöhnlich Pflicht der Weiber, die sie während der Abwesenheit der Männer zu besorgen pflegen. Sind sie jedoch durch die Herbeischaffung von Holz und Wasser außergewöhnlich in Anspruch genommen, wie an Festtagen oder nach einer besonders ausgiebigen Jagd, so besorgt das Kochen einer der Männer, der, wenn das Mahl zur Hälfte fertig ist, dasselbe unter die Anwesenden verteilt und ihnen die weitere Zubereitung, die an ihren eigenen Feuerplätzen zu geschehen hat, überläßt. Ist der Häuptling zugegen, so erhält er den ersten, und zwar den Löwenanteil, dann kommen die Männer und nachher die |639| Weiber und die Kinder an die Reihe; was übrigbleibt, gehört dem Verteiler.

Bei der Verfertigung ihrer Waffen, Geräte und anderer Artikel legen die Mincopie gewöhnlich eine bemerkenswerte Ausdauer und einen großen Fleiß an den Tag, indem sie sich stundenlang damit beschäftigen können, ein Stück Eisen mit einem Steinhammer mühsam zu bearbeiten, um eine Speer- oder Pfeilspitze daraus zu formen, oder indem sie damit beschäftigt sind, die Form eines Bogens zu verbessern usw. Sie obliegen diesen Arbeiten selbst dann, wenn keine unmittelbare oder voraussichtliche Notwendigkeit vorhanden ist, die sie zu solcher Anstrengung antriebe. Selbstsucht kann man ihnen nicht nachsagen - heißt es von ihnen -, denn sie verschenken (natürlich nur ein europäisch-mißverständlicher Ausdruck für »verteilen«) häufig das Beste dessen, was sie besitzen, und behalten für ihren eigenen Gebrauch keineswegs Gegenstände von besserer Arbeit, noch weniger machen sie bessere für sich selbst.(10)

Die Reihe der obigen Beispiele wollen wir noch mit einer Stichprobe aus dem Leben der Wilden in Afrika abschließen. Hier bieten die kleinen Buschmänner der Kalahariwüste gewöhnlich das Beispiel der größten Zurückgebliebenheit und des größten Tiefstands der menschlichen Kultur. Über die Buschmänner berichten uns übereinstimmend deutsche, englische und französische Forscher, daß sie in Gruppen (Horden) leben, die [ein] gemeinsames wirtschaftliches Leben führen. In ihren kleinen Banden herrscht vollkommene Gleichheit auch in bezug auf Lebensmittel, Waffen etc. Die Nahrungsmittel, die sie auf ihren Wanderungen finden, werden in Säcke gesammelt, die im Lager entleert werden. »Da kommt nun«, erzählt der Deutsche Passarge, »die Ernte des Tages zum Vorschein: Wurzeln, Knollen, Früchte, Raupen, Nashornvögel, Ochsenfrösche, Schildkröten, Heuschrecken, selbst Schlangen und Leguane.«[5] Die Beute wird dann unter alle verteilt. »Das systematische Einsammeln von Vegetabilien, wie zum Beispiel Früchten, Wurzeln, Knollen u.a., sowie von kleineren Tieren ist Sache der Frauen. Sie haben die Horde mit solchen Vorräten zu versorgen, die Kinder helfen dabei. Auch der Mann bringt wohl manches mit, was er zufällig antrifft, allein das Sammeln ist bei ihm ganz Nebensache. Die Aufgabe des Mannes ist vor allem die Jagd.«[6] Die Jagdbeute wird von der Horde gemeinsam verzehrt. Auch wandernden Buschmännern aus be- |640| freundeten Horden wird am gemeinsamen Feuer Platz und Nahrung eingeräumt. Passarge, als guter Europäer mit der geistigen Brille der bürgerlichen Gesellschaft, erblickt sogar in der »übertriebenen Tugend«, womit die Buschmänner alles bis auf den letzten Rest mit anderen teilen, eine Ursache ihrer Kulturunfähigkeit!(11)

So zeigt es sich, daß uns die primitivsten Völker, und zwar gerade solche, die von der Seßhaftigkeit und dem Ackerbau weit entfernt sind, die gewissermaßen an dem Anfangspunkt der Kette der wirtschaftlichen Entwicklung stehen, soweit sie uns aus unmittelbarer Beobachtung bekannt ist, ein ganz anderes Bild der Verhältnisse bieten, als es im Schema des Herrn Grosse der Fall ist. Nicht »Zerstreuung« und »Sonderwirtschaft«, sondern streng geregelte wirtschaftliche Gemeinschaften mit typischen Zügen der kommunistischen Organisation erblicken wir allenthalben. Dies bezieht sich auf die »niederen Jäger«. Über die »höheren Jäger« genügt das Bild der Sippenwirtschaft bei den Irokesen, wie es von Morgan eingehend geschildert worden ist. Aber auch die Viehzüchter liefern ein genügendes Material, um die kühnen Behauptungen Grosses Lügen zu strafen.[7]

Die ackerbauende Markgenossenschaft ist also nicht die einzige, sondern bloß die höchstentwickelte, nicht die erste, sondern die letzte urkommunistische Organisation, die wir in der Wirtschaftsgeschichte antreffen. Sie ist selbst nicht ein Produkt des Ackerbaues, sondern der unermeßlich langen vorhergegangenen Traditionen des Kommunismus, der, im Schoße der Gentilorganisation geboren, schließlich auf den Ackerbau angewendet, in ihm gerade eine Höhe erreiche hat, die seinen eigenen Untergang gezeitigt hat. Die Tatsachen bestätigen also das Grossesche Schema durchaus nicht. Fragen wir nun nach einer Erklärung für das merkwürdige Phänomen dieses Kommunismus, der mitten in der Wirtschaftsgeschichte auftaucht, um alsbald wieder unterzutauchen, so dient uns Herr Grosse mit einer seiner geistvollen »materialistischen« Erklärungen: »Wir haben in der Tat gesehen, daß die Sippe unter den niederen Ackerbauern vor allem deshalb soviel mehr Hund Macht gewonnen hat als unter den Völkern anderer Kulturformen, weil sie hier zunächst als eine Wohnungs-, Besitz- und Wirtschaftsgemeinschaft auftritt. Daß sie sich hier aber zu einer solchen ausgebildet hat, erklärt sich wiederum aus dem Wesen der niederen Ackerwirtschaft, welche die Menschen vereint, während die Jagd und die |641| Viehzucht die Menschen zerstreuen.« (S. 158.)[8] Also die räumliche »Vereinigung« oder »Zerstreuung« der Menschen bei der Arbeit entscheidet darüber, ob Kommunismus oder Privateigentum vorherrschen. Schade, daß Herr Grosse vergessen hat, uns darüber aufzuklären, warum Wälder und Wiesen, in denen man sich am leichtesten »zerstreut«, gerade am längsten - stellenweise bis auf den heutigen Tag - Gemeineigentum geblieben, während die Äcker, wo man sich »vereinigt«, am frühesten in Privatbesitz übergegangen sind. Und ferner, warum die Produktionsform, die am meisten in der ganzen Wirtschaftsgeschichte die Menschen »vereinigt«, die moderne Großindustrie, durchaus nicht ein Gemeineigentum, sondern die krasseste Form des Privateigentums, das kapitalistische Eigentum hervorgebracht hat.

Man sieht, der Grossesche »Materialismus« ist wieder einmal ein Beweis, daß es nicht genügt, von »Produktion« und ihrer Bedeutung für das gesamte Leben der Gesellschaft zu reden, um materialistisch die Geschichte aufzufassen, daß namentlich getrennt von seiner anderen Seite, von dem revolutionären Entwicklungsgedanken, der historische Materialismus zu einer rohen und plumpen hölzernen Krücke wird, statt daß er, wie bei Marx, ein genialer Flügelschlag des forschenden Geistes

Vor allem zeigt sich aber, daß Herr Grosse, der von Produktion und ihren Farmen so viel redet, sich über die grundlegendsten Begriffe der Produktionsverhältnisse nicht klar ist. Wir haben schon gesehen, daß er zunächst unter Produktionsformen solche rein äußerlichen Kategorien versteht wie Jagd, Viehzucht oder Ackerbau. Um nun innerhalb jeder dieser »Produktionsformen« die Frage nach der Eigentumsform zu entscheiden - das heißt die Frage, ob Gemeineigentum, Familienbesitz oder Privatbesitz besteht und wem das Eigentum gehört -, unterscheidet er solche Kategorien wie »Grundbesitz« einerseits und »fahrende Habe« andererseits. Findet er, daß sie verschiedenen Eigentümern gehören, so fragt er sich, welche »bedeutender« ist: die »fahrende Habe« oder die unbewegliche Habe, der Grundbesitz. Je nachdem, was Herrn Grosse »bedeutender« scheint, nimmt er als ausschlaggebend für die Eigentumsform der Gesellschaft. So entscheidet er zum Beispiel, daß bei höheren Jägern »die bewegliche Habe bereits eine solche Bedeutung gewonnen hat«, daß sie wichtiger sei als der Grundbesitz, und da die bewegliche Habe, so auch die Nahrungsmittel, Privateigentum sei, so erkennt Grosse hier, trotz aus- |642| gesprochenem Gemeineigentum an Grund und Boden, keine kommunistische Wirtschaft an.

Nun haben solche Unterscheidungen nach rein äußerlichem Merkmal - wie bewegliche Habe und unbewegliche Habe - für die Produktion nicht den geringsten Sinn und stehen ungefähr auf derselben Höhe wie die anderen Grosseschen Unterscheidungen der Familienformen nach Männerherrschaft und Frauenherrschaft oder der Produktionsformen nach zerstreuenden und vereinigenden Wirkungen. Die »bewegliche Habe« kann zum Beispiel bestehen aus Nahrungsmitteln oder aus Rohstoffen, aus Schmucksachen und Kultgegenständen oder aus Werkzeugen. Sie kann für den eigenen Gebrauch der Gesellschaft oder zum Austausch verfertigt werden. Je nachdem wird sie für die Produktionsverhältnisse von sehr verschiedener Bedeutung sein. Im allgemeinen urteilt Grosse über die Produktions- und Eigentumsverhältnisse der Völker - und hierin ist er ein typischer Vertreter der heutigen bürgerlichen Wissenschaft - nach den Nahrungsmitteln und sonstigen Konsumgegenständen im weitesten Sinne. Findet er, daß die Konsumgegenstände von einzelnen in Besitz genommen und verbraucht werden, so ist für ihn die Herrschaft des »Individualeigentums« bei dem gegebenen Volke erwiesen. Dies ist der typische Weg, auf dem heutzutage der Urkommunismus »wissenschaftlich« widerlegt wird.(12) Nach diesem tiefsinnigen Standpunkt erscheint eine Bettlergemeinschaft, wie man sie im Orient vielfach antrifft, welche die milden Gaben zusammenwirft und gemeinsam verzehrt, oder eine Diebesbande, die solidarisch das Gestohlene genießt, als »kommunistische Wirtschaftsgenossenschaft« in Reinkultur. Hingegen kann eine Markgenossenschaft, die den Grund und Boden gemeinsam besitzt und gemeinsam bearbeitet, aber die Früchte familienweise verzehrt - jede Familie von ihrem Ackerstück -, eine »Wirtschaftsgemeinschaft nur in sehr bedingtem Sinne« genannt werden. Kurz, das Entscheidende für den Charakter der Produktion ist nach dieser Auffassung das Eigentumsrecht an den Konsummitteln und nicht an den Produktionsmitteln, das heißt die Bedingungen der Verteilung und nicht der Produktion. Hier sind wir an einen Kardinalpunkt der nationalökonomischen Auffassung gelangt, der für das Verständnis der ganzen Wirtschaftsgeschichte von grundlegender Bedeutung ist. Indem wir Herrn Grosse nunmehr seinen Schicksalen überlassen, wenden wir unsere Aufmerksamkeit dieser Frage im allgemeinen zu.


Fußnoten von Rosa Luxemburg

(1) Ernst Grosse: Die Formen der Familie und die Formen der Wirthschaft [Freiburg i.B. u. Leipzig. <=

(2) Howitt, zit. nach: [Felix] Somló[: Der Güterverkehr in der Urgesellschaft, Brüssel, Leipzig, Paris 1909], S. 44/45. <=

(3) Friedrich Ratzel: Völkerkunde, 2. Bd., Leipzig 1886, S. 64. <=

(4) Howitt, zit. nach: [Felix] Somló[: Der Güterverkehr in der Urgesellschaft, Brüssel, Leipzig, Paris 1909], S. 42. <=

(5) Siehe Howitt, zit. nach: [Felix] Somló[: Der Güterverkehr in der Urgesellschaft, Brüssel, Leipzig, Paris 1909], S. 43. <=

(6) Siehe [Friedrich] Ratzel: [Völkerkunde, 1. Bd., Leipzig u. Wien] 1894, S. 333. <=

(7) MacGee, zit. nach: [Felix] Somló[: Der Güterverkehr in der Urgesellschaft, Brüssel, Leipzig, Paris 1909], S. 128. <=

(8) Karl von der Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. [Reiseschilderung und Ergebnisse der Zweiten Schingu-Expedltion 1887-1888, Berlin 1894, S. 502.] <=

(9) Bericht von der 8. Sitzung des Internationalen Kongresses der Amerikanisten in Paris 1890, erstattet von M. G. Marcel, Paris 1892, S. 491. [G. Marcel: Les Fuégiens à la fin de XVIIe siecle. D'après des documents français inédits. Congres international des Americanists. Compte-rendu de la 8me session, tenue à Paris en 1890, Paris 1892, S. 491.] <=

(10) Man, zit. nach: [Felix] Somló[: Der Güterverkehr in der Urgesellschaft, Brüssel, Leipzig, Paris 1909], S. 96-99. <=

(11) Siehe [Felix] Somló[: Der Güterverkehr in der Urgesellschaft, Brüssel, Leipzig, Paris 1909], S. 116. <=

(12) Siehe [Felix] Somló[: Der Güterverkehr in der Urgesellschaft, Brüssel, Leipzig, Paris 1909, S. 155-177]. <=


Redaktionelle Anmerkungen

[1] In der Quelle: machten. <=

[2] Zit. nach: [Felix] Somló[: Der Güterverkehr in der Urgesellschaft, Brüssel, Leipzig, Paris 1909], S. 61/62. <=

[3] Zit. nach: [Felix] Somló[: Der Güterverkehr in der Urgesellschaft, Brüssel, Leipzig, Paris 1909], S. 124/125. <=

[4] Karl von der Steinen: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Reiseschilderung und Ergebnisse der Zweiten Schingu-Expedltion 1887-1888, Berlin 1894, S. 491. <=

[5] Siegfried Passarge: Die Buschmänner der Kalahari, Berlin 1907, S. 54. <=

[6] Siegfried Passarge: Die Buschmänner der Kalahari, Berlin 1907, S. 57/58. <=

[7] Randnotiz R. L.: Peruaner - aber das sind freilich keine Nomaden. Araber, Kabylen - Kirgisen, Jakuten. - Kaufman. Aus Laveleye Beispiele! <=

[8] Ernst Grosse: Die Formen der Familie und die Formen der Wirthschaft, Freiburg i.B. u. Leipzig 1896, S. 158. <=


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