Unser Kampf | | | III. 1. | | | Inhalt | | | III. 3. | | | Rosa Luxemburg |
Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Einführung in die Nationalökonomie«, S. 618-628.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|613| Die »Urgesellschaft« Morgans bildete sozusagen eine nachträgliche Einleitung zum Kommunistischen Manifest von Marx und Engels. Damit war aber gegeben, daß sie in der bürgerlichen Wissenschaft eine Reaktion auslösen mußte. Binnen zwei bis drei Jahrzehnten seit der Mitte des Jahrhunderts hatte sich der Begriff des Urkommunismus von allen Seiten in die Wissenschaft Eingang verschafft. Allein solange es sich noch um ehrwürdige »germanische Rechtsaltertümer« handelte, um »slawische Stammeseigentümlichkeiten« oder um die historische Ausgrabung des peruanischen Inkastaates und dergleichen, überschritten die Entdeckungen nicht den Bereich ungefährlicher wissenschaftlicher Kuriositäten, ohne aktuelle Bedeutung, ohne unmittelbare Verbindung mit den Tagesinteressen und Tageskämpfen der bürgerlichen Gesellschaft, so gut, daß stockkonservative oder gemäßigt liberale Staatsmänner wie Ludwig von Maurer oder Sir Henry Maine sich um diese Entdeckungen die größten Verdienste erwerben konnten. Bald sollte jedoch diese Verbindung hergestellt werden, und zwar nach zwiefacher Richtung. Schon die Kolonialpolitik hatte, wie wir gesehen, einen Zusammenstoß greifbarer materieller Interessen zwischen der bürgerlichen Welt und den primitiven kommunistischen Zuständen gebracht. Je mehr sich in Westeuropa seit Mitte des 19 Jahrhunderts nach den Stürmen der Februarrevolution von 1848 das kapitalistische Regime allmächtig zu installieren begann, um so schroffer wurde jener Zusammenstoß. Zugleich spielte gerade seit der Februarrevolution ein anderer Feind im eigenen Lager der bürgerlichen Gesellschaft: die revolutionäre Arbeiterbewegung, eine immer größere Rolle. Seit den Junitagen des Jahres 1848 in Paris verschwindet das »rote Gespenst« nicht mehr von der öffentlichen Bühne, um im Jahre 1871 im blendenden Feuerschein der Kommunekämpfe wieder aufzutauchen zum Entsetzen der französischen und der internationalen Bourgeoisie. Im Lichte dieser brutalen Klassenkämpfe zeigte nun auch die jüngste Entdeckung der wissenschaftlichen Forschung der primitive Kommunismus, sein gefährliches Gesicht. Die in ihren Klasseninteressen empfindlich getroffene Bourgeoisie witterte einen dunklen Zusammenhang zwischen den uralten kommunistischen Überlieferungen, die ihr in den Kolonialländern bei dem Vormarsch der profitgierigen »Europäisierung« der Eingeborenen den hartnäckiger Widerstand leisteten, und dem neuen Evangelium des revolutionären Ungestüms der proletarischen Masse in den alten kapitalistischen Ländern. Als in der französischen Nationalversammlung 1873 die Schicksale der unglücklichen Araber |614| Algeriens durch ein Gesetz über die zwangsweise Einführung des Privateigentums entschieden werden sollten, ertönte in dieser Versammlung, in der noch die Feigheit und Mordlust der Sieger über die Pariser Kommune nachzitterte, immer wieder das Wort, das uralte Gemeineigentum der Araber müsse um jeden Preis vernichtet werden »als eine Form, die in den Geistern kommunistische Tendenzen unterstütze«. In Deutschland sollten inzwischen die Herrlichkeiten des neuen Deutschen Reiches, die Gründerära und der erste kapitalistische Krach der siebziger Jahre, das Bismarcksche Blut-und-Eisen-Regime mit seinem Sozialistengesetz, die Klassenkämpfe aufs äußerste steigern und jede Gemütlichkeit auch aus der wissenschaftlichen Forschung verbannen. Das beispiellose Wachstum der deutschen Sozialdemokratie als der fleischgewordenen Theorien von Marx und Engels hat den Klasseninstinkt der bürgerlichen Wissenschaft in Deutschland außerordentlich geschärft, und hier setzte auch die Reaktion gegen die Theorien des Urkommunismus am kräftigsten ein. Kulturhistoriker wie Lippert und Schurtz, Nationalökonomen wie Bücher, Soziologen wie Starcke, Westermarck und Grosse sind sich heute einig in der eifrigen Bekämpfung der Lehre vom Urkommunismus und namentlich der Morganschen Theorien über die Entwicklung der Familie und die ehemals allgemeine Herrschaft der Sippenverfassung mit ihrer Gleichheit der Geschlechter und allgemeiner Demokratie. Ein Herr Starcke zum Beispiel nennt in seiner »Primitiven Familie« 1888 Morgans Hypothesen über die Verwandtschaftssysteme einen »wilden Traum«, »um nicht zu sagen Fieberwahn«.(1)[1] Aber auch ernstere Gelehrte, wie der Verfasser der besten Kulturgeschichte, die wir besitzen, Lippert, ziehen gegen Morgan zu Felde. Auf Grund von veralteten, oberflächlichen Berichten ökonomisch und ethnologisch ganz ungebildeter Missionare aus dem 18. Jahrhundert und unter völliger Ignorierung der großartigen Studien Morgans schildert Lippert die Wirtschaftszustände der Indianer Nordamerikas, gerade der- |615| selben, in deren Leben mit seiner fein ausgebildeten sozialen Organisation Morgan so gründlich wie kein anderer eingedrungen ist, als einen Beweis dafür, daß bei den Jägervölkern überhaupt keine gemeinschaftliche Regelung der Produktion und keine »Fürsorge« für die Gesamtheit und für die Zukunft, [daß] vielmehr nichts als Regellosigkeit und Gedankenlosigkeit vorherrsche. Die alberne Verzerrung der tatsächlich bei den Indianern bestehenden kommunistischen Einrichtungen durch den bornierten Europäerblick der Missionare übernimmt Lippert ganz kritiklos, wie zum Beispiel das folgende Zitat aus der Geschichte der Mission der evangelischen Brüder unter den Indianern Nordamerikas von Loskiel aus dem Jahre 1789 beweist: »'Viele unter ihnen' (den amerikanischen Indianern - R. L.), sagt unser trefflich orientierter Missionar, 'sind so träge, daß sie selbst nichts pflanzen, sondern sich gänzlich darauf verlassen, daß sich andere nicht weigern dürfen, ihren Vorrat mit ihnen zu teilen. Da auf diese Weise die Fleißigeren von ihrer Arbeit nicht mehr genießen als die Müßiggänger, so pflanzen sie von Zeit zu Zeit immer weniger. Fällt nun ein harter Winter ein, da sie wegen des tiefen Schnees nicht auf die Jagd gehen können, so entsteht leicht eine allgemeine Hungersnot, wobei öfters viele Menschen umkommen. Die Not lehrt sie dann Graswurzeln und die innere Rinde der Bäume, besonders der jungen Eichen, zu ihrer Nahrung zuzurichten.'« »So führte also«, fügt Lippert zu den Worten seines Gewährsmannes hinzu, »in naturgemäßer Verbindung der Rückfall zu früherer Sorglosigkeit den zur früheren Lebenshaltung herbei.«[2] Und in dieser indianischen Gesellschaft, in der sich keiner »weigern darf«, seinen Vorrat an Lebensmitteln mit anderen zu teilen, und in der sich ein »evangelischer Bruder« mit ganz offensichtlicher Willkür nach europäischem Muster die unvermeidliche Einteilung in »Fleißige« und in »Müßiggänger« konstruiert, will Lippert den besten Beweis gegen den Urkommunismus finden:
»Noch weniger sorgt natürlich auf solcher Stufe die ältere Generation für die Lebensausstattung der jüngeren. Der Indianer steht vom Urmenschen schon weit ab. Sobald der Mensch ein Werkzeug hat, hat er den Begriff des Besitzes, aber nur in der Beschränkung auf jenes. Einen solchen hat schon der Indianer auf der niedersten Stufe; allein in diesem Urbesitze fehlt jeder kommunistische Zug; die Entwicklung beginnt mit dem Gegenteil.«[2] [Hervorhebungen - R. L.]
Professor Bücher hat der urkommunistischen Wirtschaft seine »Theorie |616| von der individuellen Nahrungssuche« der primitiven Völker und von den »unermeßlichen Zeiträumen« entgegengesetzt, in denen »der Mensch existiert hat, ohne zu arbeiten«.[4] Für den Kulturhistoriker Schurtz ist aber Professor Karl Bücher mit seinem »genialen Blick« der Prophet, dem er in Sachen primitiver Wirtschaftsverhältnisse blindlings folgt.(2) Der typischste und energischste Wortführer aber der Reaktion gegen die gefährlichen Lehren vom Urkommunismus und der Gentilverfassung, gegen den »Kirchenvater der deutschen Sozialdemokratie«, Morgan [5], ist Herr Ernst Grosse. Auf den ersten Blick ist Grosse selbst Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung, das heißt, er führt verschiedene rechtliche, geschlechtliche, geistige Formen des gesellschaftlichen Lebens auf die jeweiligen Produktionsverhältnisse als auf den jene Formen bestimmenden Faktor zurück. »Nur wenige Kulturhistoriker«, sagt er in seinem 1894 erschienenen »Anfänge der Kunst«, »scheinen die ganze Bedeutung der Produktion begriffen zu haben. Es ist allerdings weit leichter, sie zu unterschätzen als zu überschätzen. Der Wirtschaftsbetrieb ist gleichsam das Lebenszentrum jeder Kulturform; er beeinflußt alle übrigen Faktoren der Kultur auf die tiefste und unwiderstehlichste Art, während er selbst nicht sowohl durch kulturelle als durch natürliche Faktoren - durch geographische und meteorologische Verhältnisse bestimmt wird. Man könnte mit einem gewissen Rechte die Produktionsform das primäre Kulturphänomen nennen, neben dem alle anderen Zweige der Kultur nur als abgeleitet und sekundär erscheinen; freilich nicht etwa in dem Sinne, als ob diese anderen Zweige aus dem Stamme der Produktion entstanden wären, sondern weil sie sich, obwohl sie selbständig entstanden sind, stets unter dem übermächtigen Drucke des herrschenden wirtschaftlichen Faktors geformt und entwickelt haben.«[6] Es scheint auf den ersten Blick, daß Grosse selbst den »Kirchenvätern der deutschen Sozialdemokratie«, den Marx und Engels, seine Hauptgedanken abgelernt hat, wenn er sich auch wohl verständlich hütet, auch nur mit einem Wort zu verraten, aus wessen wissenschaftlichen |617| Taschen er sich seine Überlegenheit über die »meisten Kulturhistoriker« in fertigem Zustand geholt hat. Ja, er ist sogar in bezug auf die materialistische Geschichtsauffassung »katholischer als der Papst«. Während Engels - neben Marx der Mitschöpfer der materialistischen Geschichtsauffassung - für die Entwicklung der Familienverhältnisse in primitiven Zeiten bis zur Ausbildung der heutigen staatlich beglaubigten Zwangsehe einen von wirtschaftlichen Verhältnissen unabhängigen Fortgang der Formen annahm, denen nur die Interessen des Erhaltung des Menschengeschlechts und seiner Vermehrung zugrunde lagen, geht Grosse darin sehr viel weiter. Er stellt die Theorie auf, daß die jeweilige Familienform zu allen Zeiten nur das direkte Produkt der zur Zeit herrschenden Wirtschaftsverhältnisse war. »Nirgends ...«, sagt er »tritt die Kulturbedeutung der Produktion so einleuchtend hervor als in der Geschichte der Familie. Die seltsamen Formen der menschlichen Familien, welche die Soziologen zu noch seltsameren Hypothesen begeistert haben, erscheinen überraschend verständlich, sobald man sie im Zusammenhange mit den Formen der Produktion betrachtet.«[7]
Sein 1896 erschienenes Buch »Die Formen der Familie und die Formen der Wirthschaft« ist ganz dem Nachweis dieses Gedankens gewidmet. Zugleich aber ist Grosse entschiedener Gegner der Lehre vom Urkommunismus. Auch er sucht nachzuweisen, daß die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit beileibe nicht mit Gemeineigentum, sondern mit Privateigentum begonnen habe, auch er bemüht sich wie Lippert und Bücher, von seinem Standpunkt aus darzutun, daß, je weiter wir in die Urgeschichte zurückgehen, um so ausschließlicher und allmächtiger das »Individuum« mit seinem »individuellen Besitz« vorherrsche. Zwar ließen sich die Entdeckungen über die kommunistische Dorfgemeinde in allen Weltteilen und im Zusammenhang mit ihr die Geschlechterverbände oder, wie Grosse sie nennt, die Sippen nicht einfach bestreiten. Allein Grosse läßt eben - darin besteht seine eigentliche Theorie - die Geschlechtsorganisation als Rahmen der kommunistischen Wirtschaft nur auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung aufkommen: mit dem niederen Ackerbau, um sie alsbald auf der Stufe des höheren Ackerbaus der Auflösung verfallen und wieder dem »individuellen Eigentum« Platz machen zu lassen. Auf diese Weise stellt Grosse triumphierend die von Morgan-Marx aufgestellte historische Perspektive direkt auf den Kopf. Nach dieser war der Kommunismus die Wiege der Menschheit in ihrer Kulturentwicklung, die Form der Wirtschaftsverhältnisse, die diese Entwicklung in unermeßlich langen |618| Zeiträumen begleitete, um erst mit der Zivilisation der Auflösung zu verfallen und dem Privateigentum Platz zu machen, wobei die Epoche der Zivilisation ihrerseits einem raschen Auflösungsprozeß und der Rückkehr zum Kommunismus in höherer Form der sozialistischen Gesellschaftsordnung entgegengeht. Nach Grosse war es das Privateigentum, das die Entstehung und den Fortschritt der Kultur begleitete, um nur auf einer bestimmten Stufe, des niederen Ackerbaus, vorübergehend dem Kommunismus Platz zu machen. Nach Marx-Engels und Morgan ist das Gemeineigentum, die gesellschaftliche Solidarität, nach Grosse und seinen Kollegen von der bürgerlichen Wissenschaft das »Individuum« mit dem Privateigentum der Anfangs und Endpunkt der Kulturgeschichte. Doch nicht genug. Grosse ist ausgesprochener Gegner nicht nur Morgans und des Urkommunismus, sondern der ganzen Entwicklungstheorie auf dem Gebiete des Gesellschaftslebens und gießt die Lauge seines Spottes über jene kindlichen Geister aus, die alle Erscheinungen des sozialen Lebens in eine Entwicklungsreihe bringen und als einen einheitlichen Prozeß, als einen Fortgang der Menschheit von niederen zu höheren Lebensformen auffassen wollen. Diesen Grundgedanken, der der ganzen modernen Gesellschaftswissenschaft im allgemeinen und insbesondere der Geschichtsauffassung und der Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus zur Basis dient, bekämpft Herr Grosse als typischer Bourgeoisgelehrter mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft. »Die Menschheit«, verkündet und unterstreicht er, »bewegt sich keineswegs auf einer einzigen Linie in einer einzigen Richtung; sondern so verschieden die Lebensbedingungen der Völker sind, so verschieden sind auch ihre Wege und Ziele.«[8] So ist in der Person Grosses die bürgerliche Gesellschaftswissenschaft in ihrer Reaktion gegen die revolutionären Folgerungen ihrer eigenen Entdeckungen bis zu dem Punkt gelangt, zu dem auch die bürgerliche Vulgärökonomie in ihrer Reaktion gegen die klassische Ökonomie gelangt war: zur Negation der Gesetzmäßigkeit selbst der sozialen Entwicklung.[9] Sehen wir uns diesen seltsamen historischen »Materialismus« des jüngsten Marx-, Engels- und Morgan-Überwinders etwas näher an.
Grosse redet sehr viel von »Produktion«, er redet die ganze Zeit vom »Charakter der Produktion« als bestimmendem Faktor, der die gesamte Kultur beeinflußt. Was versteht er aber unter Produktion und ihrem Cha- |619| rakter? »Die Wirtschaftsform, welche in einer sozialen Gruppe herrscht oder vorherrscht, die Art, auf welche sich die Glieder der Gruppe den Lebensunterherwerben, ist eine Tatsache, welche sich direkt beobachten und in ihren Hauptzügen überall mit genügender Sicherheit feststellen läßt. Wir mögen über die religiösen und die sozialen Anschauungen der Australier noch so sehr im Zweifel sein; über den Charakter ihrer Produktion ist auch nicht der geringste Zweifel möglich: Die Australier sind Jäger und Pflanzensammler. Es ist vielleicht unmöglich, in die geistige Kultur der alten Peruaner einzudringen; aber die Tatsache, daß die Bürger des Inkareiches ein ackerbauendes Volk waren, liegt für jeden Blick offen.«(3)
Unter »Produktion« und ihrem »Charakter« versteht also Grosse einfach die jeweilige Hauptquelle der Ernährung des Volkes. Jagd, Fischerei, Viehzucht, Ackerbau - das sind jene »Produktionsverhältnisse«, die bestimmend auf alle übrigen Kulturverhältnisse eines Volkes einwirken. Hier muß man zunächst bemerken, daß, wenn es auf diese magere Entdeckung ankam, die Überhebung des Herrn Grosse über die »meisten Kulturhistoriker« zum mindesten ganz unbegründet war. Die Erkenntnis, daß die Art der Hauptquelle, die dem gegebenen Volke zur Ernährung dient, von außerordentlicher Wichtigkeit für seine Kulturentwicklung ist, bildet nicht sowohl Herrn Grosses funkelnagelneue Entdeckung wie vielmehr ein uraltes, ehrwürdiges Inventarstück aller Gelehrten der Kulturgeschichte. Diese Erkenntnis hat ja gerade zu der landläufigen Einteilung der Völker in Jäger, Viehzüchter und Ackerbauer geführt, die in allen Kulturgeschichten wiederkehrt und die Herr Grosse selbst nach vielem Hin und Her schließlich doch selbst anwendet. Diese Erkenntnis ist aber nicht bloß ganz alt, sondern auch - in der platten Fassung, in der sie Grosse übernimmt - ganz falsch. Wissen wir lediglich, daß ein Volk von Jagd, Viehzucht oder Ackerbau lebt, so wissen wir von seinen Produktionsverhältnissen und von seiner sonstigen Kultur zunächst noch gar nichts. Die heutigen Hottentotten in Südwestafrika, denen die Deutschen ihre Herden und damit ihre bisherige Existenzquelle weggenommen und sie dafür mit modernen Flinten versehen haben, sind erzwungenermaßen wieder Jäger geworden. Die Produktionsverhältnisse dieses »Jägervolkes« aber haben nicht das geringste gemein mit den indianischen Jägern Kaliforniens, die noch in ihrer primitiven Weltabgeschiedenheit leben, und die letzteren wieder sind sehr wenig ähnlich den Jägerkompanien Kanadas, die für amerikanische und europäische Kapitalisten gewerbsmäßig Tierfelle für den Rauchwarenhan- |620| del liefern. Die peruanischen Viehzüchter, die vor der spanischen Invasion ihre Lamas in den Kordilleren kommunistisch unter der Inkaherrschaft hüteten, die arabischen Nomaden mit ihren patriarchalischen Herden in Afrika oder Arabistan, die heutigen Bauern in den Schweizer, Bayrischen oder Tiroler Alpen, die mitten in der kapitalistischen Welt ihre althergebrachten »Alpenbücher« führen, die halbverwilderten römischen Sklaven, die im rauhen Apulien enorme Herden ihrer Herren hüteten, die Farmer, die im heutigen Argentinien für die Ohioer Schlachthäuser und Konservenfabriken zahllose Herden mästen - das sind alles Muster der »Viehzucht«, die ebenso viele total verschiedene Typen der Produktion und der Kultur darstellen. Endlich der »Ackerbau« umfaßt eine so lange Skala verschiedenartigster Wirtschaftsweisen und Kulturstufen, von der uralten indischen Markgenossenschaft zum modernen Latifundium, von der bäuerlichen Zwergwirtschaft zum ostelbischen Rittergut, vom englischen Pachtsystem zur rumänischen Jobagie, von dem chinesischen bäuerlichen Gartenbau zur brasilianischen Plantage mit Sklavenarbeit, von dem weiblichen Hackbau auf Tahiti bis zur nordamerikanischen Bonanzafarm mit Dampf- und Elektrizitätsbetrieb, daß nur die glänzende Verständnislosigkeit für das, was wirkliche »Produktion« bedeutet, in den großspurigen Offenbarungen des Herrn Grosse über die Bedeutung der Produktion geoffenbart wird. Gerade gegen diese Art groben und rohen »Materialismus«, der nur die äußeren Naturbedingungen der Produktion und der Kultur in Betracht zieht und der in dem englischen Soziologen Buckle seinen besten und erschöpfenden Ausdruck fand, wandten sich Marx und Engels. Nicht die äußere Naturquelle der Ernährung ist für die wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse der Menschen entscheidend, sondern die Beziehungen, in denen die Menschen zueinander bei ihrer Arbeit stehen. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Produktion bestimmen die Frage: Welche Produktionsform herrscht bei einem gegebenen Volke? Nur wenn man diese Seite der Produktion gründlich erfaßt hat, kann man die bestimmenden Einflüsse der Produktion eines Volkes auf seine Familienverhältnisse, seine Rechtsbegriffe, seine religiösen Vorstellungen, seine Kunstentwicklung verstehen. Das Eindringen in die gesellschaftlichen Beziehungen bei der Produktion der sogenannten wilden Völker ist aber eine für die meisten europäischen Beobachter außerordentlich schwierige Sache. Im Gegensatz zu einem Herrn Grosse, der schon eine Welt zu wissen glaubt, wenn er nichts anderes weiß, als daß die Inkaperuaner ein ackerbautreibendes Volk waren, sagt ein ernster Gelehrter wie Sir Henry Maine: »Der charakteristische Irrtum der unmittelbaren Beobachter frem- |621| der sozialer oder rechtlicher Verhältnisse ist der, daß sie diese zu schnell mit ihnen bekannten Verhältnissen vergleichen, die anscheinend von derselben Art sind.«[10]
Der Zusammenhang der Familienformen mit den so verstandenen »Produktionsformen« sieht nun bei Herrn Grosse folgendermaßen aus: »Auf der niedersten Stufe ernährt sich der Mensch durch die Jagd - im weitesten Sinne - und durch das Einsammeln von Vegetabilien. Bei dieser primitivsten Form der Produktion zeigt sich zugleich die primitivste Form der Arbeitsteilung - die physiologisch begründete Arbeitsteilung zwischen den beiden Geschlechtern. Während sich der Mann die Sorge für die animalische Nahrung vorbehält, ist das Einsammeln von Wurzeln und Früchten die Aufgabe der Frau. Unter diesen Verhältnissen liegt der wirtschaftliche Schwerpunkt fast immer auf der männlichen Seite, und infolgedessen trägt die primitive Familienform überall einen unverkennbaren patriarchalischen Charakter. Welcherart auch die Anschauungen über Blutsverwandtschaft sein mögen, der primitive Mann steht, selbst wenn er nicht als Blutsverwandter seiner Nachkommen gilt, tatsächlich als Herr und Eigentümer in der Mitte seiner Weiber und Kinder. Von dieser untersten Stufe aus kann die Produktion nach zwei Richtungen fortschreiten; je nachdem der weibliche oder der männliche Wirtschaftsbetrieb eine weitere Ausbildung erfährt. Welcher von den beiden Zweigen aber zum Stamme auswachsen soll, das hängt in erster Linie von den natürlichen Bedingungen ab, unter denen die primitive Gruppe lebt. Wenn die Flora und das Klima des Landes zunächst die Schonung und später die Pflege von Nutzpflanzen nahelegen und lohnen, so entwickelt sich der weibliche Wirtschaftszweig, das Pflanzensammeln, allmählich zum Pflanzenbau. In der Tat liegt bei primitiven ackerbauenden Völkern dieses Geschäft stets in den Händen der Frau. Damit ist aber auch der wirtschaftliche Schwerpunkt auf die weibliche Seite verlegt, und infolgedessen finden wir bei allen primitiven Gesellschaften, die sich vorwiegend auf den Ackerbau stützen, eine matriarchalische Familienform oder doch die Spuren einer solchen. Die Frau als Haupternährerin und Grundherrin steht jetzt im Mittelpunkt der Familie. Zu der Ausbildung eines Matriarchats im eigentlichen Sinne, zu einer wirklichen Frauenherrschaft, ist es allerdings nur in sehr seltenen Fällen gekommen - nämlich nur dort, wo die soziale Gruppe den Angriffen äußerer Feinde entrückt war. In allen anderen Fällen gewann der Mann das Übergewicht, welches er als Ernährer verloren hatte, als Beschützer wieder. Auf diese Weise entstehen die Familienformen, |622| welche bei den meisten dieser ackerbauenden Völker herrschen und welche einen Kompromiß zwischen der matriarchalischen und der patriarchalischen Richtung darstellen. Ein großer Teil der Menschheit hat indessen eine ganz andere Entwicklung erfahren. Diejenigen Jägervölker, welche in Gegenden lebten, die dem Ackerbau Schwierigkeiten entgegensetzten, während sie dem Menschen Tiere darboten, welche die Domestikation gestatteten und lohnten, sind nicht wie jene ersten zur Pflanzenzucht, sondern zur Viehzucht fortgeschritten. Die Viehzucht aber, welche sich allmählich aus der Jagd entwickelt hat, erscheint genau wie diese ursprünglich überall als ein Vorrecht des Mannes. Auf diese Weise wird das bereits vorhandene wirtschaftliche Übergewicht der männlichen Seite noch verstärkt, und dieses Verhältnis findet einen konsequenten Ausdruck in der Tatsache, daß sämtliche Völker, die sich vorzugsweise durch die Viehzucht ernähren, unter der Herrschaft der patriarchalischen Familienform stehen. Außerdem wird die gebietende Stellung des Mannes in den viehzüchtenden Gesellschaften noch durch einen anderen Umstand erhöht, der ebenfalls unmittelbar mit der Form ihrer Produktion zusammenhängt. Viehzüchtende Völker neigen stets zu kriegerischen Verwicklungen und infolgedessen zur Ausbildung einer zentralisierten kriegerischen Organisation. Die unvermeidliche Folge ist jene extreme Form des Patriarchates, in welchem die Frau als rechtlose Sklavin unter ihrem mit despotischer Gewbekleideten Eheherren steht.« Aber jene friedlichen ackerbautreibenden Völker, bei denen die Frau als Ernährerin in der Familie herrscht oder doch wenigstens zum Teil sich einer freieren Stellung erfreut, werden zumeist von den kriegerischen Viehzüchtern unterworfen und übernehmen von diesen mit anderen Sitten auch die despotische Herrschaft des Mannes in der Familie. »Und so finden wir denn heute alle Kulturnationen unter dem Zeichen einer mehr oder minder scharf ausgeprägten patriarchalischen Familienform.«(4)
Die hier geschilderten seltsamen historischen Schicksale der menschlichen Familie in ihrer Abhängigkeit von den Produktionsformen laufen also auf das folgende Schema hinaus: Periode der Jagd - Einzelfamilie mit Männerherrschaft, Periode der Viehzucht - Einzelfamilie mit noch ärgerer Männerherrschaft, Periode des niederen Ackerbaues - Einzelfamilie mit stellenweiser Frauenherrschaft, später aber Unterwerfung der Ackerbauer durch die Viehzüchter, also auch hier Einzelfamilie mit Männerherrschaft, und als Schlußstein des Gebäudes: Periode des höhe- |623| ren Ackerbaues - Einzelfamilie mit Männerherrschaft. Herr Grosse nimmt es, wie man sieht, mit seiner Verleugnung der modernen Entwicklungslehre ernst. Bei ihm gibt es eine Entwicklung der Familienformen überhaupt nicht. Die Geschichte beginnt und endet mit der Einzelfamilie und Männerherrschaft. Dabei merkt Grosse nicht, daß er, nachdem er großspurig die Entstehung der Familienformen aus den Produktionsformen zu erklären versprochen hat, die Familienform überhaupt schon als etwas Gegebenes, Fertiges, nämlich als die Einzelfamilie, als einen modernen Hausstand, voraussetzt und diese ganz unverändert unter allen Produktionsformen annimmt. Das, was er in Wirklichkeit als verschiedene »Familienformen« im Wandel der Zeiten verfolgt, ist lediglich die eine Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter zueinander. Männerherrschaft oder Frauenherrschaft - das ist nach Grosse die »Familienform«, die er somit in ganz harmonischer Weise ebenso roh auf ein äußeres Merkmal reduziert, wie er die »Produktionsform« auf die Frage Jagd, Viehzucht oder Ackerbau versimpelt hat. Daß »Männerherrschaft« oder »Frauenherrschaft« Dutzende verschiedener Familienformen umfassen können, daß es innerhalb derselben Kulturstufe der »Jäger« Dutzende verschiedener Verwandtschaftssysteme geben kann - das alles existiert für Herrn Grosse ebensowenig wie die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen innerhalb einer Produktionsart. Das gegenseitige Verhältnis der Familienformen und der Produktionsformen kommt dabei auf den folgenden geistreichen »Materialismus« hinaus: Die beiden Geschlechter werden von vornherein als Geschäftskonkurrenten betrachtet. Wer die Familie ernährt, der herrscht auch in der Familie, meint der Philister und auch der bürgerliche Zivilkodex. Das Pech des weiblichen Geschlechts will aber, daß es nur einmal in der Geschichte ausnahmsweise - bei dem niedrigen Hackbau - Träger der Familienernährung war, aber auch dann mußte es meist vor dem kriegerischen männlichen Geschlecht den kürzeren ziehen. Und so ist die Geschichte der Familienform im Grunde genommen bloß eine Geschichte der Sklaverei der Frau, bei allen »Produktionsformen« und trotz aller Produktionsformen. Der einzige Zusammenhang der Familienformen mit den Wirtschaftsformen ist dabei schließlich nur der leichte Unterschied zwischen etwas milderen und etwas härteren Formen der Männerherrschaft. Zum Schluß erscheint als die erste Erlösungsbotschaft in der menschlichen Kulturgeschichte für die versklavte Frau - die christliche Kirche, die zwar nicht auf Erden, aber wenigstens im blauen Himmelsäther keinen Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern kennt. »Durch diese Lehre hat das Christentum der Frau eine Hoheit ver- |624| liehen, vor der sich die Willkür des Mannes beugen muß« (5), schließt Herr Grosse, indem er nach langen Irrfahrten auf den Gewässern der Wirtschaftsgeschichte glücklich im Hafen der christlichen Kirche vor Anker gegangen ist. Nicht wahr, wie »überraschend verständlich« erscheinen doch die Familienformen, welche die Soziologen zu so »seltsamen Hypothesen begeistert haben«, wenn man sie »im Zusammenhang mit den Produktionsformen« betrachtet!
Das Frappanteste jedoch bei dieser Geschichte der »Familienform« ist die Behandlung des Geschlechtsverbandes oder der Sippe, wie Grosse ihn nennt. Wir haben gesehen, welche enorme Rolle die Geschlechtsverbände auf den früheren Kulturstufen für das gesellschaftliche Leben spielten. Wir haben gesehen, daß sie - namentlich nach Morgans epochemachenden Untersuchungen - die eigentliche Gesellschaftsform der Menschen vor der Ausbildung des territorialen Staates und noch lange danach die wirtschaftliche Einheit sowie die religiöse Gemeinschaft waren. Wie verhalten sich diese Tatsachen zur merkwürdigen Geschichte der Grosseschen »Familienformen«? Grosse kann offenbar das Bestehen der Sippenverfassung bei allen primitiven Völkern nicht einfach leugnen. Da sie aber mit seinem Schema der Einzelfamilien und der Herrschaft des Privateigentums im Widerspruch stehen, so sucht er ihre Bedeutung möglichst auf nichts zu reduzieren, ausgenommen die eine Periode des niederen Ackerbaues. »Die Sippenmacht ist mit der niederen Ackerwirtschaft entstanden, und mit ihr vergeht sie auch. Bei sämtlichen höheren Ackerbauvölkern ist die Sippenordnung entweder schon verfallen oder sie verfällt.«(6) So läßt Grosse die »Sippenmacht« mit ihrer kommunistischen Wirtschaft mitten in der Wirtschaftsgeschichte und Familiengeschichte wie aus der Pistole geschossen auftauchen, um sie alsbald wieder der Auflösung anheimfallen zu lassen. Wie denn die Entstehung, das Bestehen, die Funktionen der Sippenordnung in den Jahrtausenden der Kulturentwicklung vor dem niederen Ackerbau zu erklären sind, da sie nach Grosse in jenen Zeiten weder eine wirtschaftliche Funktion noch eine soziale Bedeutung gegenüber der Einzelfamilie haben, was überhaupt diese Sippen sind, die bei den Jägern, bei den Viehzüchtern im Hintergrund der Sonderfamilien mit Privatwirtschaft ihr schattenhaftes Dasein führen, bleibt ein Privatgeheimnis des Herrn Grosse. Ebensowenig kümmert er sich darum, daß sein Geschicht- |625| chen in krassem Widerspruch zu einigen allgemein anerkannten Tatsachen steht. Die Sippen sollen erst bei niederem Ackerbau Bedeutung erlangen; nun sind die Sippen meist mit dem Institut der Blutrache, mit religiösem Kultus und sehr häufig mit einer Tierbenennung verbunden; alle diese Dinge sind aber viel älter als der Ackerbau, müssen also nach der eigenen Theorie Grosses aus den Produktionsverhältnissen viel ursprünglicherer Kulturperioden ihre Macht ableiten. Grosse erklärt die Sippenordnung höherer Ackerbauer, wie der Germanen, Kelten, Inder, als ein Vermächtnis der Periode des niederen Ackerbaues, wo sie in der weiblichen Landwirtschaft wurzeln. Nun ist aber der höhere Ackerbau der Kulturvölker nicht aus dem weiblichen Hackbau, sondern aus der Viehzucht entstanden, die schon von den Männern betrieben wurde und wo folglich nach Grosse die Sippe gegenüber der patriarchalen Familienwirtschaft keine Bedeutung hatte. Nach Grosse ist die Sippenordnung bei den nomadisierenden Viehzüchtern bedeutungslos, erst mit der Ansiedelung und dem Ackerbau gewinnt sie für einige Zeit die Macht. Nach den angesehensten Forschern der Agrarverfassung aber verlief die tatsächliche Entwicklung in gerade umgekehrter Richtung: Solange die Viehzüchter eine nomadisierende Lebensweise führten, hatten die Geschlechterverbände die größte Gewin jeder Hinsicht, mit der Seßhaftigkeit und dem Ackerbau beginnt der Sippenzusammenhang sich zu lockern und zurückzutreten gegenüber dem örtlichen Verband der Ackerbauer, deren Interessengemeinsamkeit stärker ist als die Tradition der Blutsbande, die Geschlechtsgemeinde verwandelt sich in die sogenannte Nachbargemeinde. Dies ist die Ansicht Ludwig von Maurers, Kowalewskis, Henry Maines, Laveleyes, dieselbe Erscheinung weist gegenwärtig Kaufman bei den Kirgisen und Jakuten Zentralasiens nach.
Zum Schluß sei noch erwähnt, daß Grosse für die wichtigsten Erscheinungen auf dem Gebiete der primitiven Familienverhältnisse, wie das Matriarchat (Mutterherrschaft), von seinem Standpunkte eingestandenermaßen nicht die geringste Erklärung zu geben weiß und sich darauf beschränkt, achselzuckend das Matriarchat für »die seltenste Kuriosität der Soziologie« zu erklären; daß er sich zu der unglaublichen Behauptung versteigt, bei den Australiern hätten die Vorstellungen über Blutsverwandtschaft keinerlei Einfluß auf ihre Familiensysteme gehabt, zu der noch unglaublicheren, bei den alten Peruanern habe es keine Spur von Sippen gegeben, daß er über die Agrarverfassung der Germanen nach dem veralteten und unzuverlässigen Material Laveleyes urteilt und daß er endlich demselben Laveleye zum Beispiel die fabelhafte Behauptung nach |626| redet, »heute noch« bilde die russische Dorfgemeinde bei den 35 Millionen Großrussen einen Sippenverband mit Blutsverwandtschaft, eine »Familiengemeinschaft«, was ungefähr so zutrifft wie etwa die Behauptung, die gesamte Einwohnerschaft Berlins bilde »heute noch« eine große Familiengemeinschaft. Alles dies befähigt Grosse ganz besonders dazu, den »Kirchenvater der deutschen Sozialdemokratie«, Morgan, wie einen toten Hund zu behandeln.
Die obigen Proben der Grosseschen Behandlung der Familienformen und der Sippe geben eine Vorstellung davon, wie er die »Formen der Wirtschaft« behandelt. Seine ganze gegen die Annahme des Urkommunismus gerichtete Beweisführung beruht auf lauter Zwar und Aber, wobei die nicht zu bestreitenden Tatsachen zwar zugegeben, ihnen aber andere so entgegengestellt werden, daß das Nichterwünschte verkleinert, das Erwünschte aufgebauscht und das Resultat dementsprechend zurechtgemacht wird.
Zwar berichtet Grosse selbst über die niederen Jäger: »Der individuale Besitz, der bei allen niederen Gesellschaften vornehmlich oder ausschließlich in der beweglichen Habe besteht, ist hier fast ganz bedeutungslos; der wertvollste Teil des Eigentums aber, der Jagdgrund, gehört allen Männern eines Stammes gemeinsam. Infolgedessen muß auch die Jagdbeute zuweilen unter sämtliche Mitglieder einer Horde verteilt werden. Dies wird zum Beispiel von den Botokuden berichtet (Ehrenreich: Über die Botocudes. In: Zeitschrift für Ethnologie, XIX, 31.) Auch in einigen Teilen Australiens bestehen ähnliche Bräuche. So sind und bleiben denn sämtliche Mitglieder einer primitiven Gruppe ungefähr gleich arm. Da es keine wesentlichen Vermögensunterschiede gibt, so fehlt eine Hauptquelle für die Entstehung von Stammesunterschieden. Im allgemeinen sind alle erwachsenen Männer innerhalb des Stammes gleichberechtigt.«[11] Desgleichen »hat die Sippenzugehörigkeit in einigen (!) Beziehungen wesentlichen Einfluß auf das Leben des niederen Jägers. Sie verleiht ihm das Recht, einen bestimmten Jagdgrund zu benutzen, und sie gibt ihm das Recht und die Pflicht des Schutzes und der Rache« (S. 64). Desgleichen gibt Grosse die Möglichkeit eines Sippenkommunismus bei den niederen Jägern Zentralkaliforniens zu.
Aber trotzdem ist die Sippe hier lose und schwach, eine Wirtschaftsgemeinschaft gibt es nicht. »Die Produktionsweise der arktischen Jäger ist jedoch so durchaus individualistisch, daß der Sippenzusammenhang zen- |627| trifugalen Gelüsten kaum zu widerstehen vermag.«' Desgleichen bei den Australiern wird die Nutzung des gemeinsamen Jagdbodens »durch Jagen und Sammeln in der Regel keineswegs gemeinschaftlich betrieben, sondern jede Einzelfamilie führt eine gesonderte Wirtschaft«. Und im allgemeinen »der Nahrungsmangel duldet keine dauernde Vereinigung größerer Gruppen, sondern er zwingt sie zur Zerstreuung« (S. 63).
Gehen wir zu höheren Jägern über.
Zwar »der Boden ist auch bei den höheren Jägern in der Regel Gemeineigentum des Stammes oder der Sippe« (S. 69), zwar finden wir auf dieser Stufe direkt Massenhäuser als gemeinsame Quartiere für Sippen (S. 84), zwar hören wir weiter: »Die ausgedehnten Dämme und Wehre, welche Mackenzie in den Flüssen der Haidah sah und welche nach seiner Schätzung die Arbeit des gesamten Stammes erfordert haben mußten, standen unter der Aufsicht des Häuptlings, ohne dessen Erlaubnis niemand fischen durfte. Sie galten also wahrscheinlich als Eigentum der gesamten Dorfgemeinde, der ja auch die Fischwasser und Jagdgründe ungeteilt gehören« (S. 87).
Aber »die bewegliche Habe hat hier eine solche Ausdehnung und Bedeutung gewonnen, daß sich trotz der Gleichheit des Grundbesitzes eine große Ungleichheit des Vermögens entwickeln kann« (S. 69), und »in der Regel gilt die Nahrung, soviel wir sehen können, ebensowenig als Gemeineigentum wie die übrige bewegliche Habe. Man darf also die Haussippen nur in einem sehr beschränkten Sinne als Wirtschaftsgemeinschaften bezeichnen« (S. 88).
Wenden wir uns an die nächst höhere Kulturstufe, an die nomadisierenden Viehzüchter. Auch über sie berichtet Grosse:
Zwar »selbst die unruhigsten Nomaden schweifen nicht in unbegrenzte Weiten hinaus, sie bewegen sich vielmehr sämtlich nur innerhalb eines ziemlich fest umgrenzten Gebietes, welches als das Eigentum ihres Stammes gilt und welches häufig wiederum unter die einzelnen Sonderfamilien und Sippen verteilt ist« (S. 91). Und weiter: »Der Boden ist beinahe in dem ganzen Bereiche der Viehzucht Gemeinbesitz des Stammes oder der Sippe« (S. 96). »Das Land ist freilich Gemeingut aller Sippengenossen und wird als solches von der Sippe oder ihrem Vorsteher zur Benutzung unter die verschiedenen Familien verteilt« (S. 128),
Aber »das Land ist nicht der wertvollste Besitz des Nomaden. Sein höchstes Gut ist seine Herde, und das Vieh ist stets (!) Sondereigentum |628| der einzelnen Familien. Die viehzüchtende Sippe ist niemals (!) zu einer Wirtschafts- und Besitzgemeinschaft geworden.«
Endlich folgen die niederen Ackerbauer. Hier wird zwar zum erstenmal die Sippe als eine völlig kommunistische Wirtschaftsgenossenschaft zugegeben.
Aber - auch hier folgt ein Aber auf dem Fuße - auch hier »untergräbt die Industrie die soziale Gleichheit« (Grosse spricht von Industrie, meint aber natürlich Warenproduktion, die er von jener nicht zu unterscheiden weiß) und schafft ein bewegliches Sondereigentum, das Übergewicht über das Gemeineigentum an Boden hat und dieses zerstört (S. 137/138). Und trotz der Bodengemeinschaft »besteht auch hier bereits die Trennung von Reichen und Armen«.[12] So ist der Kommunismus reduziert auf ein kurzes Zwischenspiel der Wirtschaftsgeschichte, die im übrigen mit dem Privateigentum beginnt, um mit dem Privateigentum zu enden. Was zu beweisen war.
Fußnoten von Rosa Luxemburg
(1) Starckes und Westermarcks Kritiken und Theorien sind von Cunow in seinen »Verwandschafts-Organisationen der Australneger«, 1894, einer gründlichen und vernichtenden Prüfung unterzogen worden, worauf die beiden Herren unseres Wissens bis jetzt kein Wort geantwortet haben. Das hindert jedoch nicht, daß sie von den neueren Soziologen, wie zum Beispiel von Grosse, unverdrossen als Vernichter Morgans und erste Autoritäten gefeiert werden. Es geht den Morgan-Vernichtern ungefähr wie den Marx-Vernichtern: Der bürgerlichen Wissenschaft genügt die Tendenz gegen die verhaßten Revolutionäre, und der gute Wille ersetzt hier jede wissenschaftliche Leistung. <=
(2) Auch Professor Ed. Meyer schreibt in seiner 1907 erschienenen Einleitung zur »Geschichte des Altertums« (S. 67): »Die von G. Hansen begründete und allgemein anerkannte Annahme, daß dem Privatbesitz am Boden ursprünglich überall ein Gemeinbesitz mit periodischer Verteilung, wie Cäsar und Tacitus ihn bei den Germanen schildern, vorangegangen sei, ist neuerdings sehr stark bestritten; jedenfalls ist der russische Mir, des als typisch dafür gilt, erst im 17. Jahrhundert entstanden.« Diese letztere Behauptung übernimmt Professor Meyer übrigens kritiklos aus der alten Theorie des russischen Professors Tschitscherin. <=
(3) [Ernst] Grosse: Die Anfänge der Kunst [Freiburg i.B. u. Leipzig 1894], S. 34. <=
(4) [Ernst] Grosse: Die Anfänge der Kunst [Freiburg i.B. u. Leipzig 1894], S. 35-37 u. 38. <=
(5) [Ernst] Grosse: Die Formen der Familie [und die Formen der Wirthschaft, Freiburg i.B. u. Leipzig] 1896, S. 238. <=
(6) [Ernst] Grosse: Die Formen der Familie [und die Formen der Wirthschaft, Freiburg i.B. u. Leipzig] 1896, S. 215 u. 207. <=
Redaktionelle Anmerkungen
[1] C. N. Starke: Die primitive Familie in ihrer Entstehung und Entwicklung. Leipzig 1888, S. 221 <=
[2] Julius Lippert. Kulturgeschichte der Menschheit in ihrem organischen Aufbau. Zwei Bände, 1. Bd., Stuttgart 1886, S. 40. <=
[3] Julius Lippert. Kulturgeschichte der Menschheit in ihrem organischen Aufbau. Zwei Bände, 1. Bd., Stuttgart 1886, S. 40. <=
[4] Karl Bücher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Versuche, Tübingen 1906 S. 8/9. <=
[5] Siehe Ernst Grosse: Die Formen der Familie und die Formen des Wirtschaft, Freiburg i.B. u. Leipzig 1896, S. 3. <=
[6] Ernst Grosse: Die Anfänge der Kunst, Freiburg i.B. u. Leipzig 1894, S. 34/35. <=
[7] Ernst Grosse: Die Anfänge der Kunst, Freiburg i.B. u. Leipzig 1894, S. 35. <=
[8] Siehe Ernst Grosse: Die Formen der Familie und die Formen des Wirtschaft, Freiburg i.B. u. Leipzig 1896, S. 4/5. <=
[9] Eingeschobene Notiz R. L.: Nur Material sammeln und »beobachtete Tats.«, ganz wie der Verein für Sozialpol. mit Monographien. <=
[10] Henry Sumner Maine: Village-Communities in the East and West, London 1907, S. 7. <=
[11] Siehe Ernst Grosse: Die Formen der Familie und die Formen des Wirtschaft, Freiburg i.B. u. Leipzig 1896, S. 38/39. <=
[12] Siehe Ernst Grosse: Die Formen der Familie und die Formen des Wirtschaft, Freiburg i.B. u. Leipzig 1896, S. 137. <=
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