Unser Kampf | | | III. 4. | | | Inhalt | | | IV. 3. | | | Rosa Luxemburg |
Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Einführung in die Nationalökonomie«, S. 652-687.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|652| Sehen wir uns die am besten untersuchte, die germanische Markgenossenschaft in ihren inneren Einrichtungen an.
Die Germanen siedelten sich, wie wir wissen, in Stämmen und Geschlechtern an. In jedem Geschlecht erhielt jeder Familienvater eine Baustelle nebst Hofraum zugewiesen, um darauf Haus und Hof einzurichten. Dann wurde ein Teil des Gebietes zum Ackerbau verwendet, und zwar kriegte jede Familie ein Los darauf. Zwar bebaute noch - nach Cäsars Zeugnis - um den Beginn der christlichen Ära ein Stamm der Deutschen (die Sueven oder Schwaben) den Acker gemeinsam, ohne ihn unter die Familien erst zu verteilen, doch war jährliche Umteilung der Lose bereits allgemein üblich, namentlich zu des römischen Historikers Tacitus Zeiten, also im 2. Jahrhundert. In vereinzelten Gegenden, so in der Gemeinde Frickhofen im Nassauischen, waren jährliche Umteilungen noch im 17. und 18. Jahrhundert üblich. Noch im 19. Jahrhundert waren in einigen Ge- |653| meinden der Bayrischen Pfalz und am Rhein Verlosungen der Äcker üblich, wenn auch in größeren Zeitabständen: alle 3, 4, 9. 12, 14, 18 Jahre. Diese Äcker sind also erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts definitiv zum Privateigentum geworden. Auch in einigen Gegenden Schottlands haben Ackerumteilungen bis auf die jüngste Zeit bestanden. Alle Lose waren ursprünglich ganz gleich und in ihrer Größe den durchschnittlichen Bedürfnissen einer Familie sowie der Ertragsfähigkeit des Bodens und der damaligen Arbeit angepaßt. Sie betrugen je nach Bodengüte in verschiedenen Gegenden 15, 30, 40 oder mehr Morgen Landes. Im größten Teil Europas gingen die Losgüter durch immer seltener werdende und schließlich in Wegfall gekommene Umteilungen bereits im 5. und 6. Jahrhundert in Erbgüter der Einzelfamilien über. Doch das bezog sich nur auf die Äcker. Das ganze übrige Gebiet: Wälder, Wiesen, Gewässer sowie unbenutzte Strecken, blieb ungeteilt im Gemeineigentum der Mark. Aus dem Ertrage der Waldungen zum Beispiel wurden Gemeindebedürfnisse und öffentliche Abgaben bestritten, was übrigblieb, wurde verteile.
Die Weiden wurden gemeinsam benutzt. Diese ungeteilte Mark oder Allmende hat sich sehr lange erhalten, sie existiert heute noch in den Bayrischen, Tiroler und Schweizer Alpen, in Frankreich (in der Vendée), in Norwegen und Schweden.
Um bei der Verteilung der Äcker völlige Gleichheit zu wahren, wurde die Feldmark zunächst nach Güte und Lage in einige Fluren (auch Oesche oder Gewanne genannt) geteilt, und jede Flur wurde alsdann in so viel schmale Streifen geschnitten, wie berechtigte Markgenossen vorhanden waren. Hatte ein Markgenosse Zweifel, ob er ein gleiches Los mir anderen erhalten [habe], so durfte er jederzeit eine neue Vermessung der ganzen Feldmark verlangen, und der es ihm wehrte, wurde bestraft.
Aber auch dann, als die periodischen Umteilungen und Verlosungen ganz in Wegfall kamen, blieb die Arbeit aller Markgenossen, auch auf den Äckern, durchaus gemeinschaftlich und strengen Regeln der Gesamtheit unterstellt. Zunächst ergab sich daraus für jeden Inhaber eines Markanteils die Pflicht zur Arbeit überhaupt. Denn es reichte die Ansässigkeit in der Mark allein noch nicht hin, um darin wirklicher Markgenosse zu sein. Zu diesem Zwecke mußte vielmehr jedermann auch noch in der Mark selbst wohnen und sein Gut selbst bebauen. Wer seinen Anteil eine Reihe von Jahren hindurch nicht bebaute, verlor ihn ohne weiteres, und die Mark konnte ihn einem anderen zur Bearbeitung geben. Dann stand aber auch die Arbeit selbst unter der Leitung der Mark. Im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Lebens stand in der ersten Zeit nach der Ansiedelung der |654| Deutschen die Viehzucht, die auf gemeinsamen Wiesen und Weiden unter gemeinsamen Dorfhirten betrieben wurde. Als Viehweide wurden auch Brachland sowie die Äcker nach der Ernte gebraucht. Daraus schon ergab sich, daß die Zeiten für Aussaat und Ernte, der Wechsel der Acker und Brachejahre für jede Flur, die Reihenfolge der Saaten gemeinsam geregelt wurde, und jedermann mußte sich den allgemeinen Anordnungen fügen. Jede Flur war durch einen Zaun mit Falltoren umgeben und von der Saat bis zur Ernte geschlossen; die Zeit der Schließung und der Öffnung der Fluren wurde für das ganze Dorf bestimmt. Jede Feldflur stand unter einem Aufseher, Flurschützen, der von der Mark als öffentlicher Beamter die vorgeschriebene Ordnung zu handhaben hatte; die sogenannten Flurumgänge der ganzen Dörfer gestalteten sich zu Feierlichkeiten, bei denen man auch Kinder mitnahm und ihnen Ohrfeigen gab, damit sie sich die Grenzen für spätere Zeugnisabgabe merkten.
Die Viehzucht wurde gemeinsam betrieben, das Einzelhüten von Herden war den Markgenossen verboten. Alle Tiere des Dorfes wurden in Gemeindeherden nach Tierarten geteilt, jede mit eigenen Dorfhirten und einem Leittier; auch war bestimmt, daß die Herden Schellen haben. Ebenso gemeinsam war allen Märkern das Jagd und Fischereirecht auf dem ganzen Markgebiete. Auf seinem eigenen Losgut durfte keiner Schlingen und Gruben legen, ohne die Genossen davon in Kenntnis zu setzen. Auch gehörten Erze und dergleichen, die sich etwa in der Erde befanden, und tiefer als die Pflugschar reichte, auf dem ganzen Gebiete der Mark der Gemeinschaft und nicht dem einzelnen Finder. In jeder Mark mußten die notwendigen Handwerker ansässig sein. Zwar verfertigte jede Bauernfamilie das meiste an Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens selbst. Zu Hause wurde gebacken und gebraut, gesponnen und gewebt. Doch waren schon früh einige Handwerke spezialisiert, namentlich solche, die Ackergerätschaften verfertigten. So sollten in der Holzmark zu Wölpe in Niedersachsen die Märker »einen Mann von jedem Handwerk auf dem Walde haben, so von Holz was nutzhaftig machen kann« [1]. Es war überall den Handwerkern bestimmt, welche Art Holz und wieviel sie benutzen dürfen, um den Wald zu schonen und nur für die Märker das Nötige zu bereiten. Die Handwerker erhielten von der Mark das Nötige zum Leben und standen sich im allgemeinen genauso wie die Masse der übrigen Bauern; doch waren sie in der Mark nicht vollberechtigt - teils, weil sie wanderndes Volk waren, nicht bodenständiges Element, teils, was auf |655| dasselbe hinauskommt, weil sie in der Hauptsache nicht der Landwirtschaft oblagen, diese aber stand damals im Mittelpunkt des wirtschaftlichen Lebens, um sie drehte sich das öffentliche Leben, Rechte und Pflichten der Markgenossen.(1) In die Markgenossenschaft konnte deshalb nicht jeder hineindringen. Zur Niederlassung für Fremde mußte die Erlaubnis von allen Markgenossen einstimmig erteilt werden. Und veräußern durfte jeder sein Losgut nur an einen Markgenossen, nicht an Fremde, und nur vor dem Gerichte der Mark.
An der Spitze der Markgenossenschaft stand der Dorfgraf oder Schultheiß, anderswo Markmeister und Centener genannt. Zu seinem Oberamt wurde er von den Mitmärkern gewählt. Diese Wahl war nicht bloß Ehre, sondern auch Pflicht für den Gewählten; bei Strafe durfte man die Wahl nicht ablehnen. Mit der Zeit sollte das Amt des Markvorstehers freilich in bestimmten Familien erblich werden, und dann war nur ein Schritt dazu, daß dieses Amt auch - wegen seiner Macht und Einkünfte - käuflich wurde, zu Lehen vergeben werden konnte, sich überhaupt aus einem rein demokratischen Amt der Gemeindewahl in ein Werkzeug der Herrschaft über die Gemeinde wandelte. In der Blütezeit der Markgenossenschaft jedoch war der Markvorsteher nichts anderes als Willensvollstrecker der Gesamtheit. Alle gemeinsamen Angelegenheiten wurden von der Versammlung aller Markgenossen geregelt, auch Streitigkeiten geschlichtet und Strafen verhängt. Die gesamte Ordnung der landwirtschaftlichen Arbeiten, Wege und Bauten, Feld und Dorfpolizei wurde durch die Mehrheit der Versammlung beschlossen, ihr wurden auch Rechnungen aus den »Märkerbüchern«, die über die Markwirtschaft geführt werden mußten, abgelegt. Markfriede und Markgerichtsbarkeit wurde unter dem Vorsitz des Markvorstehers von den umstehenden Genossen (dem »Gerichtsumstand«) als Urteilsfindern mündlich und öffentlich ausgeübt; nur Märker durften bei dem Gericht zugegen sein, Fremden war der Zutritt verwehrt. Die Märker waren verpflichtet, füreinander Zeuge und Eidhelfer zu sein, wie sie überhaupt die Pflicht hatten, einander in jeder Not, bei Feuersbrunst, bei feindlichem Überfall treu und brüderlich beizustehen. Im Heere bildeten die Märker eigene Abteilungen und fochten nebenein- |656| ander. Keiner durfte seinen Genossen dem feindlichen Speer überlassen. Bei Verbrechen und Schäden, die in der Mark geschahen oder von einem Märker auswärts verübt wurden, haftete die ganze Mark solidarisch. Die Märker waren verpflichtet, Reisende zu beherbergen und Bedürftige zu unterstützen. Jede Mark bildete ursprünglich eine religiöse Gemeinschaft, seit der Einführung des Christentums - was bei den Germanen zum Teil wie bei den Sachsen, sehr spät, erst im 9. Jahrhundert, geschah - eine Kirchgemeinde. Endlich unterhielt die Mark in der Regel einen Schullehrer für die gesamte Jugend des Dorfes.
Man kann sich nichts Einfacheres und Harmonischeres zugleich vorstellen als dieses Wirtschaftssystem der alten germanischen Mark. Wie auf flacher Hand liegt hier der ganze Mechanismus des gesellschaftlichen Lebens. Ein strenger Plan, eine stramme Organisation umfassen hier das Tun und Lassen jedes einzelnen und fügen ihn dem Ganzen als ein Teilchen ein. Die unmittelbaren Bedürfnisse des täglichen Lebens und ihre gleichmäßige Befriedigung für alle, das ist der Ausgangspunkt und der Endpunkt der ganzen Organisation. Alle arbeiten gemeinsam für alle und bestimmen gemeinsam über alles. Woraus fließt aber und worauf gründet sich diese Organisation und die Macht der Gesamtheit über den einzelnen? Es ist nichts anderes als der Kommunismus an Grund und Boden, das heißt gemeinsamer Besitz des wichtigsten Produktionsmittels durch die Arbeitenden. Die typischen Züge der agrarkommunistischen Wirtschaftsorganisation kommen jedoch am besten zum Vorschein, wenn man sie vergleichend auf internationaler Basis studiert, um sie somit als Weltform der Produktion in ihrer historischen Mannigfaltigkeit und Biegsamkeit zu erfassen.
Wenden wir uns nach dem alten Inkareich in Südamerika. Das Gebiet dieses Reiches, das die heutigen Republiken Peru, Bolivia und Chile, also ein Gebiet von [3.364.600 kmª] mit einer heutigen Bevölkerung von [12 Millionen Einwohnern], umfaßt, war zur Zeit der spanischen Eroberung durch Pizarro noch in derselben Weise bewirtschaftet wie lange Jahrhunderte ehedem. Zunächst finden wir hier genau dieselben Einrichtungen wie bei den alten Germanen. Jede Geschlechtsgenossenschaft, zugleich eine Hundertschaft wehrfähiger Männer, nimmt ein bestimmtes Gebiet ein, das ihr als Mark gehört und merkwürdigerweise bis auf den Namen Marca der germanischen gleicht. Vom Markgebiet war das Ackerland abgeschieden, in Lose geteilt und jährlich vor der Aussaat unter die Familien verlost. Die Größe der Lose richtete sich nach der Größe der Familien, also nach ihren Bedürfnissen. Die Dorfvorsteher, deren Amt zur Zeit der Ausbildung des Inkareiches, also um das 10.-11. Jahrhundert, bereits von |657| der Wählbarkeit zur Erblichkeit übergegangen war, erhielten den größten Losanteil. In Nordperu bebaute nicht jeder Familienvater seinen Ackeranteil einzeln, sondern sie arbeiteten in Zehnerschaften unter Leitung eines Führers - eine Einrichtung, auf die bestimmte Tatsachen auch bei den alten Germanen hinweisen. Die Zehnerschaft bestellte nach der Reihe die Anteile aller Mitglieder, auch der abwesenden, die den Kriegsdienst oder den Frondienst für die Inkas leisteten. Jede Familie bekam die Früchte, die auf ihrem Anteil gewachsen waren. Auf ein Ackerlos hatte nur Anspruch, wer in der Mark wohnte und dem Geschlecht angehörte. Jedermann war jedoch verpflichtet, seinen Anteil auch selbst zu bebauen. Wer ihn eine Reihe von Jahren (in Mexiko drei Jahre) unbebaut ließ, verlor sein Anrecht auf den Anteil. Die Anteile durften nicht verkauft oder verschenkt werden. Streng verboten war es, die eigene Mark zu verlassen und sich in einer fremden anzusiedeln, was wohl mit den starken Blutsbanden der Dorfsippen zusammenhing. Der Ackerbau in den Küstengegenden, wo nur periodisch Regen fällt, erforderte seit jeher künstliche Bewässerung durch Kanäle, die durch gemeinschaftliche Arbeit der ganzen Mark erbaut wurden. Über den Gebrauch des Wassers und seine Verteilung unter einzelne Dörfer und innerhalb derselben bestanden strenge Regeln. Jedes Dorf hatte auch »Armenfelder«, die von sämtlichen Markgenossen bebaut wurden und deren Ernte die Dorfvorsteher unter die Altersschwachen, Witwen und sonstige Bedürftige verteilten. Alles übrige Gebiet außer Ackerfeldern war Marcapacha = Allmende. Im gebirgigen Teil des Landes, wo der Feldbau nicht gedieh, war bescheidene Viehzucht, deren fast einzigen Gegenstand die Lamas bildeten, die Grundlage der Existenz der Bewohner, die von Zeit zu Zeit ihr Hauptprodukt - Wolle - ins Tal trugen, um dafür von den Ackerbauern Mais, Pfeffer und Bohnen einzutauschen. Hier im Gebirge gab es schon zur Zeit der Eroberung Privatherden und bedeutende Vermögensunterschiede. Ein gemeiner Markgenosse besaß wohl 3-10 Lamas, ein Oberhäuptling mochte ihrer 50 bis 100 haben. Allein der Boden, Wald und Weide war auch hier Gemeineigentum, und außer privaten Herden gab es Dorfherden, die nicht verteilt werden durften. Zu bestimmten Zeiten wurde ein Teil der Gemeindeherde geschlachtet und Fleisch und Wolle unter die Familien verteilt. Besondere Handwerker gab es nicht, jede Familie verfertigte alles Nötige im Haushalte, doch gab es Dörfer, die sich besonders in irgendeinem Handwerk, als Weber, Töpfer oder Metallarbeiter, geschickt erwiesen. An der Spitze jedes Dorfes stand ursprünglich der gewählte, dann erbliche Dorfvorsteher, der die Aufsicht über den Feldbau führte, in jeder wichti- |658| geren Angelegenheit aber mit der Versammlung der Volljährigen Rat pflog, die er durch Muscheltrompete zusammenberief.
Soweit bietet die alte peruanische Markgenossenschaft ein getreues Abbild der germanischen in allen wesentlichen Zügen. Doch ist sie geeignet, unser Eindringen in das Wesen dieses sozialen Systems fast noch mehr zu fördern dadurch, worin sie von dem uns bekannten typischen Bilde abweicht, als durch das, worin sie ihm entspricht. Das eigentümliche an dem alten Inkareich ist, daß es ein erobertes Land war, in dem sich Fremdherrschaft festgesetzt hatte. Die eingewanderten Eroberer, die Inkas, gehörten zwar auch zu den Indianerstämmen, sie unterwarfen sich aber die friedlichen seßhaften Vechuastämme gerade dank der Weltabgeschiedenheit, in der diese in ihren Dörfern lebten, jede Mark nur für sich sorgend in ihren vier Pfählen, ohne Zusammenhang auf größeren Gebieten, ohne Interessen für alles, was außerhalb der Markgrenzen lag und vorgehen mochte. Diese im höchsten Grade partikulariatische soziale Organisation, die den Inkas ihren Eroberungsfeldzug sosehr erleichtert hatte, wurde von ihnen im allgemeinen unangetastet gelassen. Sie pfropften aber auf dieselbe ein raffiniertes System der wirtschaftlichen Ausbeutung und der politischen Herrschaft auf. Jede eroberte Mark mußte einige Ländereien als »Inkafelder« und »Sonnenfelder« ausscheiden, die zwar ihr Eigentum blieben, deren Ertrag aber in Naturalien an den Herrscherstamm der Inkas wie an deren Priesterkaste abgeführt wurde. Ebenso mußten die viehzüchtenden Gebirgsmarken einen Teil der Herden als »Herrenherden« abstempeln und für die Herrscher reservieren. Das Hüten dieser Herden sowie die Bearbeitung der Inka- und der Priesterfelder lag als Frondienet der Gesamtheit der Markgenossen ob. Dazu kamen noch Fronden an Minenarbeiten, an öffentlichen Arbeiten, wie Wege und Brückenbauten, deren Leitung die Herrscher in die Hand nahmen, ein streng disziplinierter Heeresdienst, endlich ein Tribut an jungen Mädchen, die teils als Opfer für Kultzwecke, teils als Kebsweiber von den Inkas benutzt wurden. Dieses straffe System der Ausbeutung beließ jedoch das Markleben im Innern sowie seine kommunistisch-demokratischen Einrichtungen beim alten; die Fronden und Abgaben selbst wurden als gemeinsame Lasten der Marken kommunistisch getragen. Was das Merkwürdige jedoch ist, die kommunistische Dorforganisation erwies sich nicht bloß, wie schon sovielmal in der Geschichte, als solide und geduldige Basis für ein jahrhundertelanges System der Ausbeutung und der Knechtschaft, sondern dieses System seinerseits war auch kommunistisch organisiert. Die Inkas nämlich, die sich auf dem Rücken der unterworfenen peruanischen Stämme wohnlich ein- |659| richteten, lebten selbst in Geschlechtsverbänden und markgenossenschaftlichen Verhältnissen. Ihr Hauptsitz, die Stadt Cuzco, war nichts anderen als die Zusammenfassung von anderthalb Dutzend Massenquartieren, jedes der Sitz eines kommunistischen Haushalts des ganzen Geschlechts mit einem gemeinsamen Begräbnisplatz im Innern, also auch einem gemeinsamen Kultus. Um diese großen Sippenhäuser herum lagen die Markgebiete der Inkageschlechter mit ungeteilten Wäldern und Weiden und geteiltem Ackerland, das gleichfalls gemeinschaftlich bearbeitet wurde. Als primitives Volk hatten diese Ausbeuter und Herrscher nämlich der Arbeit noch nicht entsagt, sie gebrauchten ihre Herrscherstellung nur dazu, besser zu leben als die Beherrschten und ihrem Kultus reichlichere Opfer darzubringen. Die moderne Kunst, sich ausschließlich von fremder Arbeit ernähren zu lassen und die eigene Nichtarbeit zum Attribut der Herrschaft zu machen, war dem Wesen dieser Gesellschaftsorganisation, in der Gemeineigentum und allgemeine Arbeitspflicht tiefgewurzelte Volkssitte waren, noch fremd. Auch die Ausübung der politischen Herrschaft wurde als gemeinsame Funktion der Inkageschlechter organisiert. Die in die Provinzen Perus gesetzten Inkaverwalter, in ihrem Amte dem holländischen Residenten auf dem Malaiischen Archipel analog, wurden als Delegierte ihrer Geschlechter in Cuzco betrachtet, wo sie im Massenquartier den Wohnsitz beibehielten und an der eigenen Mark partizipierten. Alljährlich kehrten diese Delegierten zum Sonnenfest nach Cuzco heim, um Rechenschaft von ihrer Amtsleitung abzulegen und mit ihren Stammesgenossen das große religiöse Fest zu feiern.
Hier haben wir also vor uns gewissermaßen zwei übereinandergelagerte soziale Schichten, die, beide kommunistisch im Innern organisiert, zueinander in einem Verhältnis der Ausbeutung und Knechtung standen. Dieses Phänomen mag auf den ersten Blick unbegreiflich, weil mit den Prinzipien der Gleichheit, Brüderlichkeit und Demokratie, die der Organisation der Markgenossenschaft zur Basis dienten, im schroffsten Widerspruch erscheinen. Aber hier gerade haben wir einen lebendigen Beweis dafür, wie wenig die urkommunistischen Einrichtungen in Wirklichkeit mit irgendwelchen Prinzipien von allgemeiner Gleichheit und Freiheit der Menschen zu tun hatten. Diese in ihrer sich wenigstens auf die »zivilisierten« Länder, das heißt auf Länder der kapitalistischen Kultur, erstreckenden allgemeinen Gültigkeit, sich auf den abstrakten »Menschen«, also auf alle Menschen beziehenden »Prinzipien« sind erst spätes Produkt der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft, deren Revolutionen - in Amerika wie in Frankreich - sie auch zum erstenmal proklamiert haben. Die urkommu- |660| nistische Gesellschaft kannte keine allgemeinen Prinzipien für alle Menschen; ihre Gleichheit und Solidarität erwuchs aus den Traditionen der gemeinsamen Blutsbande und aus dem gemeinsamen Besitz der Produktionsmittel. So weit diese Blutsbande und dieser Besitz reichten, so weit reichten auch Gleichheit der Rechte und Solidarität der Interessen. Was außerhalb dieser Schranken lag - und sie waren so eng wie die vier Pfähle eines Dorfes, im weitesten Sinne wie die Gebietsgrenzen eines Stammes -, war fremd, konnte also auch feindlich sein. Ja, die im Innern auf wirtschaftlicher Solidarität beruhenden Gemeinwesen konnten und mußten durch die tiefe Stufe der Produktionsentwicklung, durch Unergiebigkeit oder Erschöpfung der Nahrungsquellen bei zunehmender Bevölkerung periodisch dazu getrieben werden, mit andern gleichgearteten Gemeinwesen in tödlichen Interessenkonflikt zu geraten, in dem der tierische Kampf, der Krieg, entscheiden mußte und dessen Ausgang die Ausrottung einer der streitenden Seiten oder - viel häufiger - die Etablierung eines Ausbeutungsverhältnisses war. Es war nicht die Hingebung an abstrakte Grundsätze der Gleichheit und Freiheit, was dem Urkommunismus zugrunde lag, sondern die eherne Notwendigkeit der niedrigen Entwicklung der menschlichen Kultur, der Hilflosigkeit der Menschen der äußeren Natur gegenüber, die ihnen das feste Zusammenhalten in größeren Verbänden und das planmäßige vereinigte Vorgehen bei der Arbeit, bei dem Kampfe um die Existenz als absolute Existenzbedingung aufzwangen. Dieselbe geringe Beherrschung der Natur aber war es andererseits, die zugleich den gemeinsamen Plan und das gemeinsame Vorgehen bei der Arbeit nur auf ein verhältnismäßig ganz geringes Gebiet natürlicher Wiesen oder urbar gemachter Dorfansiedlungen beschränkte und sie für ein gemeinsames Vorgehen auf größerem Maßstab ganz ungeeignet machte. Der primitive Stand der Landwirtschaft gestattete damals keine größere Kultur als die einer Dorfmark, und damit steckte sie dem Spielraum der Interessensolidarität ganz enge Schranken. Und dieselbe mangelhafte Entwicklung der Produktivität der Arbeit war es endlich, die zugleich auch den periodischen Interessengegensatz zwischen den einzelnen sozialen Verbänden hervorbrachte und damit die rohe Gewals das einzige Mittel, diesen Gegensatz zu lösen. Der Krieg war damit als ständige Methode der Lösung von Interessenkonflikten zwischen sozialen Gemeinwesen geschaffen, eine Methode, die so lange vorherrschen sollte, bis die höchste Entwicklung der Produktivität der Arbeit, das heißt die völlige Beherrschung der Natur durch die Menschen, ihren materiellen Interessengegensätzen ein Ziel setzen wird. War aber der Zusammenstoß verschiede- |661| ner urkommunistischer Gemeinwesen als ständige Erscheinung gegeben, dann entschied über den Ausgang wieder die jeweilige Entwicklung der Produktivität der Arbeit. Wo es sich um den Konflikt zweier viehzüchtender Nomadenvölker handeln mochte, die um Viehweiden in den Kampf geraten waren, da konnte die rohe Gewnur bestimmen, wer als Herr auf dem Platze bleiben und wer in unwirtliche dürre Gegenden verdrängt oder aber ausgerottet werden sollte. Wo aber der Ackerbau bereits so weit gediehen war, daß er seine Leute gut und sicher ernähren konnte, ohne die gesamten Arbeitskräfte und die gesamte Lebenszeit der Betreffenden in Anspruch zu nehmen, da war auch die Grundlage für eine systematische Ausbeutung dieser Ackerbauer durch fremde Eroberer gegeben. Und so sehen wir denn auch solche Verhältnisse entstehen wie in Peru, wo sich ein kommunistisches Gemeinwesen als Ausbeuter eines anderen festsetzt. Diese eigentümliche Struktur des Inkareiches ist deshalb wichtig, weil sie uns den Schlüssel zum Verständnis einer ganzen Reihe ähnlicher Gebilde im klassischen Altertum, namentlich an der Schwelle der griechischen Geschichte, bietet. Wenn uns zum Beispiel durch die geschriebene Geschichte die kurze Nachricht überliefert wird, daß auf der Insel Kreta, die von den Doriern beherrscht war, die Unterjochten den ganzen Ertrag ihrer Äcker abzüglich des für sie und ihre Familie erforderlichen Unterhalts an die Gesamtgemeinde abliefern mußten, woraus die Kosten der gemeinsamen Mahlzeiten der Freien (das heißt der herrschenden Dorier) bestritten wurden, oder daß es in Sparta, gleichfalls einer dorischen Gemeinde, »Staatssklaven«, die Heloten, gab, die »vom Staate« einzelnen überlassen wurden, um ihre Ackerlose zu bebauen, so sind diese Verhältnisse zunächst ein Rätsel. Und ein bürgerlicher Gelehrter wie zum Beispiel der Heidelberger Professor Max Weber stellt vom Standpunkte der heutigen Verhältnisse und Begriffe die kuriosesten Hypothesen auf, um jene merkwürdigen Überlieferungen der Geschichte zu erklären. »Die beherrschte Bevölkerung wird hier (in Sparta - R. L.) als in Staatssklaverei bzw. -hörigkeit befindlich behandelt; aus ihren Naturalbeiträgen wird des Unterhder Krieger bestritten, teils in gleich zu erwähnender Art gemeinschaftlich, teils so, daß der einzelne auf den Ertrag bestimmter, von Sklaven bewirtschafteter Landflächen angewiesen ist, die ihm in verschiedenem Maße, später zunehmend erblich, appropriiert sind. Neuzuweisungen von Losen und anderweite Verteilung derselben galten auch in historischer Zeit als praktikabel und scheinen vorzukommen. Sie sind natürlich keine Ackerumteilungen (»natürlich« darf ein bürgerlicher Professor solche, wo es irgend geht, nicht zugeben - R. L.), sondern gewissermaßen |662| Rentenfondsumteilungen. Militärische Gesichtspunkte, besonders eine militärische Bevölkerungspolitik, entscheiden über alle Einzelheiten ... Der stadtfeudalistische Charakter dieser Politik äußert sich in charakteristischer Form darin, daß jenem militaristischen Sonderrecht in Gortyn die mit Hörigen besetzten Grundstücke des Nachlasses eines Freien unterliegen: sie bilden den Klaros, der im Interesse der Sustentation der Wehrfamilie gebunden ist. (Aus dem professoralen in gewöhnliches Deutsch übersetzt: Die Ackerlose sind Eigentum der gesamten Gemeinde, dürfen deshalb nicht veräußert und nach dem Tode des Loseigners nicht verteilt werden, was Professor Weber an einer anderen Stelle als eine weise Maßregel »zur Verhinderung der Vermögenszersplitterung« und »im Interesse der Erhaltung standesgemäßer Kriegerlose« erklärt. - R. L.) Die Organisation gipfelt bei voller Durchführung in dem kasinoartigen gemeinsamen Mittagstisch der Krieger, den 'Syssitien', und der kadettenartigen gemeinsamen Erziehung der Kinder von Staats wegen zu Kriegern.«(2) Womit die Griechen der Heroenzeit, der Hektor und Achill, glücklich in die Begriffe der preußischen Fideikommisse und Rentenanstalten, der Offizierskasinos mit ihren »standesgemäßen« Sektgelagen und die blühenden nackten Jünglinge und Mädchen Spartas, die gemeinsame Volkserziehung genossen, in eine zuchthausartige KadettenanstGroß-Lichterfelde bei Berlin verwandelt sind.
Wer die innere Struktur des Inkareiches kennt, dem bieten die oben geschilderten Verhältnisse gar keine Schwierigkeiten. Sie sind zweifellos das Produkt lauter solcher parasitärer Doppelgebilde, die aus der Unterjochung einer ackerbauenden Markgenossenschaft durch ein anderes kommunistisches Gemeinwesen entstanden sind. Wieweit sich in den Sitten der Herrschenden wie in der Lage der Unterjochten dabei die kommunistische Grundlage erhalten hat, hängt von der Entwicklungsstufe, der Dauer, der Umgebung dieser Gebilde ab, die eine ganze Skala von Abstufungen darbieten können. Das Inkareich, in dem die Herrschenden noch selbst arbeiten, das Grundeigentum des Unterworfenen im ganzen noch nicht angetastet ist und jede Gesellschaftsschicht für sich geschlossen organisiert ist, kann wohl als die ursprünglichste Form solcher Ausbeu- |663| tungsverhältnisse betrachtet werden, die sich nur dank der verhältnismäßig primitiven Kulturstufe und der Weltabgeschiedenheit des Landes jahrhundertelang konservieren konnte. Auf ein vorgerücktes Stadium weisen die Überlieferungen Kretas hin, wo die unterworfene Bauerngemeinde den ganzen Ertrag ihrer Arbeit abzüglich ihres Unterhalts abliefern mußte, wo sich also die herrschende Gemeinde nicht aus eigener Feldarbeit, sondern aus den Abgaben der ausgebeuteten Markgenossenschaft erhielt, diese aber noch unter sich kommunistisch verzehrte. In Sparta finden wir - einen Schritt weiter in der Entwicklung -, daß der Grund und Boden nicht mehr als Eigentum der unterworfenen Gemeinde, sondern als Eigentum der Herrschenden gilt und unter ihnen in markgenossenschaftlicher Weise umgeteilt und verlost wird. Die gesellschaftliche Organisation der Unterworfenen ist durch den Verlust ihrer Basis, des Eigentumsrechtes am Grund und Boden, gesprengt, sie sind selbst Eigentum der herrschenden Gemeinde, die sie kommunistisch »von Staats wegen«, gleich den Ackerlosen an die einzelnen Markgenossen als Arbeitskraft überläßt. Die herrschenden Spartaner leben selbst noch in streng markgenossenschaftlichen Verhältnissen. Und ähnliche Verhältnisse dürften in dieser oder jener Abstufung in Thessalien geherrscht haben, wo die früheren Bewohner, die Penesten oder »arme Leute«, von Äoliern unterworfen wurden, in Bithynien, wo die Mariandyner von thrakischen Stämmen in eine ähnliche Lage gebracht wurden. Doch führt das parasitäre Dasein unaufhaltsam dazu, auch in die herrschende Gemeinde den Keim der Zersetzung zu tragen. Schon die Eroberung und die Notwendigkeit, die Ausbeutung als ständige Einrichtung zu festigen, führt zur starken Ausbildung des Kriegswesens, was wir sowohl im Inkastaat wie in den spartanischen Staaten sehen. Damit ist die erste Grundlage zur Ungleichheit, zur Ausbildung bevorrechteter Stände im Schoße der ursprünglich freien und gleichen Bauernmasse gelegt. Es bedarf dann nur günstiger geographisch-kulturhistorischer Umstände, die durch den Zusammenstoß mit höher gebildeten Völkern verfeinerte Lebensbedürfnisse und lebhaften Austausch wecken, damit die Ungleichheit auch innerhalb der Herrschenden rasche Fortschritte macht, den kommunistischen Zusammenhschwächt, dem Privateigentum mit seiner Spaltung in Reiche und Arme Platz macht. Ein klassisches Beispiel dieser Vorgänge bleibt die früheste Geschichte der griechischen Welt nach ihrem Zusammenstoß mit den alten Kulturvölkern des Orients. So ist das Ergebnis der Unterwerfung einer urkommunistischen Gesellschaft durch eine andere, ob früher oder später, stets dasselbe: die Sprengung der kommunistischen traditionellen Gesellschaftsbande bei den Herrschern |664| wie bei den Beherrschten und die Geburt einer ganz neuen Gesellschaftsformation, in der das Privateigentum mit der Ungleichheit und Ausbeutung, einander gegenseitig erzeugend, zugleich auf die Welt kommt. Und so mündet die Geschichte der alten Markgenossenschaft im klassischen Altertum einerseits in den Gegensatz einer verschuldeten Masse von Kleinbauern zu dem Adel, der sich den Militärdienst, die öffentlichen Ämter, den Handel und die ungeteilten Gemeindeländereien als Großgrundbesitz angeeignet hat, andererseits in den Gegensatz zwischen dieser Gesellschaft der Freien im ganzen und den ausgebeuteten Sklaven. Von jener mannigfaltig abgestuften Form der naturalwirtschaftlichen Ausbeutung kriegerisch Unterworfener durch eine Gemeinde war nur ein Schritt zur Einführung gekaufter Sklaven durch einzelne. Und diesen Schritt hat in Griechenland der Seeverkehr und der internationale Handel mit seinen Folgen in den Küsten und Inselstaaten rasch vollzogen. Auch Ciccotti unterscheidet zwei Typen der Sklaverei: »Die älteste, bedeutendste und ausgebreitetste Form wirtschaftlicher Dienstbarkeit«, sagte er, »die wir auf der Schwelle der griechischen Geschichte finden, ist nicht die Sklaverei, sondern eine Form von Hörigkeit, die ich fast Vasallentum nennen möchte. So bemerkte Theopomp: 'Als erste unter allen Hellenen nach den Thessaliern und den Lazedämoniern benutzten die Chioten (Einwohner der kleinasiatischen Insel Chios) Sklaven, aber sie erwarben sie nicht in derselben Weise wie jene ... Man kann sehen, daß die Lazedämonier und die Thessalier ihre Sklavenklasse aus Hellenen gebildet haben, die vor ihnen den Boden bewohnten, den sie jetzt besitzen, so daß sie die Achäer, die Thessalier, die Perreben und die Magneten in ihren Dienst zwangen und die Unterworfenen Heloten und Penesten nannten. Die Chioten dagegen erwarben Barbaren (Nichtgriechen) als Sklaven und bezahlten für sie einen Preis.' Und der Grund des Unterschieds«, fügte Ciccotti mit Recht hinzu, »lag in dem verschiedenen Entwicklungsgrade der Binnenvölker auf der einen und die Inselvölker auf der anderen Seite. Das absolute Fehlen oder die Unbedeutendheit des angehäuften Reichtums sowie die mangelhafte Entwicklung des Handelsverkehrs schlossen in dem einen Lande eine direkte und wachsende Produktion der Besitzer wie die direkte Verwendung von Sklaven aus und führten statt dessen zu der mehr rudimentären Form des Tributs und zu einer Arbeitsteilung und Klassenbildung, die aus der herrschenden Klasse ein Heer in Waffen und aus der unterworfenen einen Ackerbauernstand machte.«(3)
Die innere Organisation des peruanischen Inkastaates hat uns eine wich- |665| tige Seite im Wesen der primitiven Gesellschaftsform enthüllt und zugleich eine bestimmte historische Methode ihres Untergangs aufgezeigt. Eine andere Wendung in den Schicksalen dieser Gesellschaftsform wird sich vor uns zeigen, wenn wir das weitere Kapitel in der Geschichte der Peru-Indianer wie der sonstigen spanischen Kolonien in Amerika verfolgen. Hier tritt uns vor allem eine ganz neue Methode des Eroberung [entgegen], von der zum Beispiel die Inkaherrschaft nichts Ähnliches kennt: Die Herrschaft der Spanier als der ersten Europäer in der Neuen Welt begann sogleich mit einer unbarmherzigen Ausrottung der unterworfenen Bevölkerung. Nach eigenen Zeugnissen der Spanier selbst erreicht die Zahl der Indianer, die von ihnen binnen weniger Jahre nach der Entdeckung Amerikas ausgerottet worden sind, 12 - 15 Millionen. »Wir sehen uns berechtigt zu behaupten«, sagt Las Casas, »daß die Spanier durch ihre ungeheuerliche und unmenschliche Behandlung 12 Millionen Menschen ausgerottet haben, darunter Frauen und Kinder; nach meiner persönlichen Meinung«, sagt er weiter, »übertrifft die Zahl der in dieser Zeit dahingerafften Eingeborenen selbst 15 Millionen.«(4) »Auf der Insel Haiti«, sagt Handelmann, »belief sich die Zahl der von den Spaniern vorgefundenen Eingeborenen im Jahre 1492 auf 1 Million, im Jahre 1508 sind von dieser millionenköpfigen Bevölkerung nur 60.000 übriggeblieben und neun Jahre später nur noch 14.000, so daß die Spanier, um die nötige Zahl von Arbeitshänden zu haben, zur Einfuhr von Indianern aus benachbarten Inseln greifen mußten. Im Jahre 1508 allein wurden auf die Insel Haiti transportiert und in Sklaven verwandelt 40.000 Eingeborene von den Bahama-Inseln.«(5) Die Spanier machten regelrechte Jagd auf die Rothäute, die uns von einem Augenzeugen und Teilnehmer, dem Italiener Girolamo Benzoni, beschrieben worden ist. »Teils vor Nahrungsmangel, teils vor Kummer infolge der Trennung von ihren Vätern, Müttern und Kindern«, sagt Benzoni nach einer solchen Jagd auf der Insel Kumagna, in der 4.000 Indianer gefangengenommen wurden, »war der größte Teil der versklavten Eingeborenen auf dem Wege zum Hafen Kumani gestorben. Jedesmal, wo diese oder jene von den Sklaven vor Müdigkeit nicht imstande waren, ebenso schnell zu marschieren wie ihre Kameraden, durchbohrten sie die Spanier, vor Angst, daß sie zurückbleiben und einen Rückenangriff ausführen möchten, mit ihren Dolchen von hinten und ermordeten sie unmenschlich. Es war ein herzzerreißender Anblick, diese |666| unglücklichen Wesen zu sehen, ganz nackt, ermüdet, verwundet und so durch den Hunger erschöpft, daß sie kaum auf den Füßen stehen konnten. Eiserne Ketten fesselten ihren Hals, Hände und Füße. Es gab nicht eine Jungfrau unter ihnen, die nicht vergewaltigt wäre durch diese Räuber (Spanier), die sich in diesem Fall einer so ekelerregenden Ausschweifung hingaben, daß viele von ihnen für immer ganz von Syphilis zerfressen blieben ... Alle in Sklaverei getanen Eingeborenen werden mit glühendem Eisen gezeichnet. Darauf lassen die Kapitäne einen Teil für sich, die übrigen verteilen sie unter die Soldaten. Diese verspielen sie entweder aneinander oder verkaufen sie an die spanischen Kolonisten. Kaufleute, die diese Ware gegen Wein, Mehl, Zucker und andere tägliche Bedürfnisse eingetauscht haben, transportieren die Sklaven in jene Teile der spanischen Kolonien, wo die größte Nachfrage nach ihnen besteht. Während des Transports geht ein Teil dieser Unglücklichen zugrunde infolge des Mangels an Wasser und der schlechten Luft in den Kajüten, was daher kommt, weil die Kaufleute alle Sklaven in dem untersten Schiffsraume zusammenpferchen, ohne ihnen genügend Platz zum Sitzen noch Luft zum Atmen zu lassen.«(6) Um sich jedoch selbst der Mühe der Jagd auf die Rothäute und der Kosten ihrer käuflichen Erwerbung zu entheben, führten die Spanier in ihren westindischen Besitzungen und auf dem amerikanischen Festlande das System der sogenannten Repartimientos, das heißt der Aufteilung des Landes, ein. Das ganze eroberte Gebiet wurde von den Gouverneuren in Gehege eingeteilt, deren Dorfvorsteher, »Kaziken«, einfach verpflichtet waren, die von ihnen geforderte Anzahl der Eingeborenen als Sklaven selbst an die Spanier zu liefern. Jeder spanische Kolonist erhielt periodisch vom Gouverneur eine beliebige Zahl von Sklaven geliefert, unter der Bedingung »für ihre Bekehrung zum Christentum Sorge zu tragen« (7). Die Mißhandlung der Sklaven durch die Kolonisten überstieg alle Begriffe. Selbstmord wurde zur Erlösung für die Indianer. »Alle von den Spaniern gefangengenommenen Eingeborenen«, sagt ein Zeitgenosse, »werden von ihnen zu ermüdenden und anstrengenden Arbeiten in den Bergwerken gezwungen, fern von der Heimat und Familie und unter Drohung ständiger körperlicher Züchtigungen. Kein Wunder, daß ganze Tausende von Sklaven, die keine anderen Möglichkeiten sehen, ihrem |667| grauenhaften Schicksal zu entrinnen, nicht bloß ihr eigenes Leben gewaltsam beenden, sei es durch Erhängen, Ersäufen oder sonstwie, sondern vorher auch ihre Frauen und Kinder töten, um so auf einmal ihrer gemeinsamen unglücklichen und ausweglosen Lage ein Ende zu machen. Andererseits nehmen die Frauen zur Abtreibung ihrer Kinder im Mutterleibe Zuflucht oder vermeiden den Verkehr mit Männern, da sie keine Sklaven gebären wollen.«(8)
Endlich gelang es den Kolonisten durch die Vermittlung des kaiserlichen Beichtvaters, des frommen Paters Garzia de Loyosa, von dem Habsburger Karl V. ein Dekret zu erwirken, das die Indianer summarisch zu erblichen Sklaven der spanischen Kolonisten erklärte. Benzoni meint zwar, das Dekret habe sich nur auf die karaibischen Menschenfresser bezogen, es war aber ausgelegt und angewendet auf alle Indianer überhaupt. Um ihre Greuel zu rechtfertigen, verbreiteten nämlich die spanischen Kolonisten planmäßig die größten Schauermären über die Menschenfresserei und die sonstigen Laster der Indianer, so daß zum Beispiel ein zeitgenössischer französischer Historiker, Marly de Châtel, in seiner »Allgemeinen Geschichte Westindiens« (Paris 1569) von ihnen schreiben konnte: »Der Gott hat sie mit Sklaverei bestraft, für ihre Bosheit und ihre Laster, denn selbst Ham [2] hat sich nicht in diesem Maße gegen seinen Vater Noah versündigt wie die Indianer gegen den Herrgott.«[3] Und doch schrieb ungefähr um dieselbe Zeit ein Spanier, Acosta, in seiner »Historia natural y moral de las Indias« (Barcelona 1591) über dieselben Indianer, sie seien ein »gutmütiges Volk, das stets bereit sei, den Europäern eine Gefälligkeit zu erweisen, ein Volk, das in seinem Benehmen eine so rührende Harmlosigkeit und Aufrichtigkeit zeige, daß Leute, die nicht ganz von allen Eigenschaften der menschlichen Natur entblößt seien, sie unmöglich anders als mit Zärtlichkeit und Liebe behandeln könnten« [4].
Freilich gab es auch Versuche, den Greueln entgegenzuwirken. Im Jahre 1531 erließ Papst Paul III. eine Bulle, in der er die Indianer als zur Menschengattung gehörig und deshalb von der Sklaverei frei erklärte. Auch der spanische kaiserliche Rat für Westindien erklärte sich später |668| gegen die Sklaverei, wovon die wiederholten Dekrete mehr die Fruchtlosigkeit als die Aufrichtigkeit dieser Bestrebungen bezeugen.
Was die Indianer von der Sklaverei befreite, war nicht die fromme Aktion der katholischen Geistlichkeit oder die Proteste der spanischen Könige, sondern die einfache Tatsache, daß die Indianer ihrer physischen und geistigen Konstitution nach zur schweren Sklavenarbeit absolut nicht taugten. Gegen diese nackte Unmöglichkeit halfen auf die Dauer die größten Grausamkeiten der Spanier nicht; die Rothäute fielen in der Sklaverei wie die Fliegen, entflohen, entleibten sich, kurz - das Geschäft wurde höchst unrentabel. Und erst als der warme und unermüdliche Verteidiger der Indianer, Bischof Las Casas, die Idee erfand, anstatt der untauglichen Indianer die robusteren Neger aus Afrika als Sklaven zu importieren, wurden die unnützen Experimente mit den Indianern zunächst eingestellt. Diese praktische Erfindung hat rascher und durchgreifender gewirkt als alle Pamphlete Las Casas' über die Grausamkeiten der Spanier. Die Indianer wurden nach einigen Jahrzehnten von der Sklaverei befreit, und die Sklaverei der Neger hub an, die von nun an vier Jahrhunderte dauern sollte. Zu Ende des 18. Jahrhunderts führte ein biederer Deutscher, der »brave alte Nettelbeck« aus Kolberg, als Schiffskapitän auf seinem Schiffe von Guinen nach Guayana in Südamerika, wo andere »brave Ostpreußen« Plantagen ausbeuteten, Hunderte von Negersklaven, die er nebst anderen Waren in Afrika eingehandelt hatte und die er genauso im unteren Schiffsraum eingepfercht hielt wie die spanischen Kapitäne des 16. Jahrhunderts. Der Fortschritt des humanen Aufklärungszeitalters zeigte sich darin, daß Nettelbeck seine Sklaven zur Verhütung der Schwermut und des Aussterbens unter ihnen jeden Abend auf dem Schiffsdeck unter Musik und Peitschenknall tanzen ließ, worauf die rohen spanischen Sklavenhändler noch nicht verfallen waren. Und Ende des 19. Jahrhunderts, 1871, schrieb der edle David Livingstone, der 30 Jahre in Afrika verbracht hatte, um die Nilquellen aufzufinden, in seinem berühmten Briefe an den Amerikaner Gordon Bennett: »Sollten meine Enthüllungen über die Verhältnisse in Udjidji dem entsetzlichen Sklavenhandel in Ostafrika ein Ende machen, so würde ich diese Errungenschaft höher erachten als die Entdeckungen aller Nilquellen miteinander. Bei Ihnen zu Hause ist die Sklaverei überall abgeschafft, reichen Sie uns Ihre mächtige hilfreiche Hand, auch das noch zu erreichen. Dieses schöne Land ist wie mit Mehltau oder mit dem Fluche des Höchsten belastet.«[5]
|669| Übrigens war das Los der Indianer in den spanischen Kolonien durch diesen Umschwung noch durchaus nicht gebessert. Es war nur ein anderes Kolonisationssystem an Stelle des früheren getreten. Statt der Repartimientos, die auf direkte Sklaverei der Bevölkerung eingerichtet waren, führte man die sogenannte »Encomiendas« ein.[6] Formell wurde dabei den Einwohnern persönliche Freiheit und volles Eigentum am Grund und Boden zuerkannt. Nur wurden die Gebiete unter die administrative Leitung der spanischen Kolonisten, vor allem der Nachkommen der ersten Konquistadores, der Eroberer, gestellt, die als Encomenderos über die für unmündig erklärten Indianer Vormundschaft führen und namentlich auch das Christentum unter ihnen verbreiten sollten. Zur Deckung der Kosten des Kirchenbaues für die Eingeborenen sowie auch zur Entschädigung für die eigene Mühewaltung bei dem Amt der Vormundschaft erhielten die Encomenderos gesetzlich das Recht, »mäßige Geld und Naturalabgaben« von der Bevölkerung zu fordern. Diese Bestimmungen genügten, um die Encomiendas bald für die Indianer zur Hölle zu machen. Grund und Boden wurde ihnen freilich belassen, und zwar als ungeteiltes Eigentum der Stämme. Allein darunter verstanden oder wollten verstehen die Spanier nur das Ackerland, das unter dem Pfluge war. Die ungeteilte Mark sowie unbenutzte Ländereien, ja häufig selbst die unter Brache gelassenen Fluren wurden als »wüstes Land« von den Spaniern an sich gerissen. Und das mit solcher Gründlichkeit und Schamlosigkeit, daß Zurita darüber schreibt: »Es gibt nicht eine Bodenparzelle, nicht eine Farm, die nicht als Eigentum der Europäer erklärt worden wäre, ungeachtet der Beeinträchtigung der Interessen und der Eigentumsrechte der Eingeborenen, die auf diese Weise gezwungen werden, die von ihnen seit uralten Zeiten bewohnten Gebiete zu verlassen. Nicht selten nimmt man ihnen selbst bebaute Ländereien unter dem Vorwande, sie hätten sie nur zu dem Behufe besät, um die Aneignung durch die Europäer zu verhindern. Dank diesem System haben die Spanier in einigen Provinzen ihren Besitz so ausgedehnt, daß den Eingeborenen gar kein Land mehr zum Bebauen übrigbleibt.«(9) Zugleich wurden die »mäßigen« Abgaben von den spanischen Encomenderos so schamlos gesteigert, daß die Indianer unter ihrer Last erdrückt wurden. »Das ganze Hab und Gut des Indianers«, sagt derselbe Zurita, »reicht nicht aus, um die auf ihn gelegten Steuern zu entrichten. Man begegnet vielen Leuten unter den Rothäuten, deren |670| Vermögen nicht mal einen Peso ausmacht und die von täglicher Lohnarbeit leben; auf diese Weise verbleiben den Unglücklichen nicht einmal genügend Mittel, um die Familie zu erhalten. Dies ist der Grund, weshalb sooft junge Leute den unehelichen Verkehr dem ehelichen vorziehen, besonders wenn ihre Eltern nicht einmal über vier oder fünf Real verfügen. Die Indianer können sich nur schwer den Luxus einer Bekleidung gestatten; viele, die keine Mittel haben, um sich ein Kleid zu kaufen, sind nicht in der Lage, den Gottesdienst zu besuchen. Kein Wunder, daß die Mehrzahl von ihnen in Verzweiflung gerät, da sie keine Mittel finden, ihren Familien die nötige Nahrung zu verschaffen ... Während meiner jüngsten Reisen erfuhr ich, daß viele Indianer sich vor Verzweiflung erhängt haben, nachdem sie ihren Frauen und Kindern erklärt hatten, sie täten dies angesichts der Unmöglichkeit, die von ihnen geforderten Steuern zu entrichten.«(10)
Endlich kam zur Ergänzung des Landdiebstahls und des Steuerdruckes die Zwangsarbeit. Anfangs des 17. Jahrhunderts kehren die Spanier offen zu dem im 16. Jahrhundert formell aufgegebenen System zurück. Zwar ist die Sklaverei für die Indianer abgeschafft, aber an ihre Stelle tritt ein eigentümliches System der Zwangslohnarbeit, das sich im Wesen fast durch nichts von jener unterscheidet. Schon um die Mitte des 16, Jahrhunderts schildert uns Zurita folgendermaßen die Lage der indianischen Lohnarbeiter bei den Spaniern: »Die Indianer kriegen in dieser ganzen Zeit keine anderen Nahrungsmittel als Maisbrote ... Der Encomendor läßt sie vom Morgen bis in die Nacht arbeiten, wobei er sie im Morgen- und Abendfrost, unter Sturm und Gewitter nackt läßt, ohne ihnen eine andere Nahrung zu geben als halbverfaulte Brote ... Die Indianer verbringen die Nacht unter freiem Himmel. Da der Lohn erst am Ende der Periode der Zwangsarbeit ausgezahlt wird, so haben die Indianer keine Mittel, um sich die nötige warme Kleidung zu kaufen. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen bei den Encomenderos die Arbeit für sie äußerst ermüdend ist und als eine der Ursachen ihres raschen Aussterbens erkannt werden kann.«(11) Dieses System der Zwangslohnarbeit wurde nun anfangs des 17. Jahrhunderts von der spanischen Krone offiziell und allgemein gesetzlich eingeführt. Als Grund gibt das Gesetz an, daß die Indianer freiwillig nicht arbeiten wollten, ohne sie aber die Bergwerke selbst bei der vorhandenen Zahl der Neger nur äußerst schwer betrieben werden könn- |671| ten. Die indianischen Dörfer werden nun verpflichtet, die erforderliche Zahl der Arbeiter zu stellen (in Peru den siebenten Teil, in Neuspanien vier Prozent der Bevölkerung), die den Encomenderos auf Gnade und Ungnade ausgeliefert werden. Die tödlichen Folgen dieses Systems werden alsbald sichtbar. In einer anonymen Denkschrift an Philipp IV., die den Titel trägt »Bericht über den gefährlichen Zustand des Königreichs Chile in weltlicher und geistlicher Hinsicht«, heißt es: »Die bekannte Ursache der raschen Abnahme der Zahl der Eingeborenen ist das System der Zwangsarbeit in den Bergwerken und auf den Feldern der Encomenderos. Obwohl die Spanier über eine enorme Zahl Neger verfügen, obwohl sie die Indianer mir Steuern belegt haben, die unvergleichlich höher sind, als jene ihren Häuptlingen vor der Eroberung gezahlt hatten, halten sie es nichtsdestoweniger nicht für möglich, das System der Zwangsarbeiten aufzugeben.«(12) Die Zwangsarbeiten hatten im übrigen zur Folge, daß die Indianer vielfach nicht in der Lage waren, ihre Felder zu bebauen, was den Spaniern wiederum einen Vorwand bot, sie als »Ödland« an sich zu raffen. Der Ruin der indianischen Landwirtschaft bot naturgemäß einen gedeihlichen Boden für den Wucher. »Unter ihren einheimischen Herrschern«, sagt Zurita, »kannten die Indianer keine Wucherer.«[7] Die Spanier ließen sie diese Blüte der Geldwirtschaft und des Steuerdrucks gründlich kennenlernen. Durch Schulden zerfressen, gingen massenhaft Ländereien der Indianer, die nicht einfach von den Spaniern geraubt worden waren, in die Hände spanischer Kapitalisten über, wobei noch die Einschätzung des Grundwertes dieser Güter ein besonderes Kapitel der europäischen Niedertracht für sich bildet. So schlossen sich Diebstahl an Grund und Boden, Steuern, Zwangsarbeit und Wucher zu einem eisernen Ring, in dem die Existenz der indianischen Markgenossenschaft zusammenbrach. Die traditionelle öffentliche Ordnung, die hergebrachten sozialen Bande der Indianer wurden schon durch den Zusammenbruch ihrer wirtschaftlichen Unterlage - der markgenossenschaftlichen Landwirtschaft - aufgelöst. Ihrerseits wurde diese planmäßig von den Spaniern ruiniert durch die Zerrüttung aller traditionellen Autoritäten. Die Dorfvorsteher und die Stammeshäuptlinge bedurften ja der Bestätigung der Encomenderos, was diese dazu gebrauchten, diese Ämter nur mit ihren Kreaturen, den verkommensten Subjekten der indianischen Gesellschaft, zu besetzen. Ein beliebtes Mittel der Spanier war auch das systematische |672| Aufwiegeln der Indianer gegen ihre Häuptlinge. Unter dem Vorwand der christlichen Absicht, die Eingeborenen vor der Ausbeutung durch ihre Häuptlinge zu schützen, erklärten sie jene frei von der Zahlung der von alters hergebrachten Abgaben an diese Häuptlinge. »Die Spanier«, sagt Zurita, »behaupten, gestützt darauf, was gegenwärtig in Mexiko vorgeht, daß die Häuptlinge ihre Stämme ausplündern, aber sie tragen selbst die Verantwortung für diese Erpressungen, denn sie selbst und niemand anders haben die früheren Häuptlinge ihrer Stellung und ihrer Einkünfte beraubt und sie durch neue aus der Zahl der Kreaturen ersetzt.«(13) Desgleichen suchten sie Meutereien anzuzetteln, wenn die Dorfvorsteher oder Stammeshäuptlinge gegen rechtswidrige Landveräußerungen einzelner Markmitglieder an die Spanier protestierten. Chronische Revolten und eine unendliche Kette von Prozessen um unberechtigte Landverkäufe unter den Eingeborenen selbst waren das Ergebnis. Zu Ruin, Hunger und Sklaverei trat noch Anarchie hinzu, um die Hölle im Dasein der Indianer vollkommen zu machen. Das nackte Fazit dieser spanisch-christlichen Vormundschaft ließ sich in zwei Worte schließen: Übergang des Grund und Bodens in die Hände der Spanier und Aussterben der Indianer. »In allen spanischen Gebieten in Indien«, sagt Zurita, »verschwinden die eingeborenen Stämme entweder ganz, oder sie werden wenig zahlreich, obwohl einige Personen sich entschließen, das Gegenteil zu behaupten. Die Eingeborenen verlassen ihre Wohnungen und Ländereien, die für sie den Wert verloren haben angesichts der maßlosen Natural- und Geldabgaben; sie ziehen in andere Länder aus, beständig aus einer Gegend in die andere streifend, oder verstecken sich in den Wäldern unter der Gefahr, früher oder später Opfer wilder Tiere zu werden. Viele beschließen ihr Leben durch Selbstmord, wie ich selbst mehrmals Gelegenheit hatte, mich zu überzeugen durch persönliche Beobachtung und durch Umfrage bei den östlichen Bewohnern.«(14) Und ein halbes Jahrhundert später berichtet ein anderer hoher Beamter der spanischen Regierung in Peru, Juan Ortez de Cervantes: »Die eingeborene Bevölkerung in den spanischen Kolonien wird immer dünner und dünner, sie verläßt ihre bisherigen Wohnstätten, läßt den Boden unbebaut, so daß die Spanier nur mit Mühe die notwendige Zahl der Ackerbauer und Hirten finden können. Die sogenannten Mitayos, ein Stamm, ohne den die Bearbeitung der Gold- und Silberbergwerke unmöglich ist, verlassen entweder ganz die von Spaniern bewohnten |673| Städte oder, wenn sie drin bleiben, sterben sie mit erstaunlicher Schnelligkeit aus.«(15)
Man muß in der Tat die phantastische Zähigkeit des Indianervolkes und der markgenossenschaftlichen Einrichtungen bewundern, daß sich von beiden trotz dieser Wirtschaft noch bis ins 19. Jahrhundert hinein Reste erhalten haben.
Von anderer Seite zeigt uns die Schicksale der alten Markgenossenschaft die große englische Kolonie - Indien. Hier wie in keinem anderen Winkel der Welt kann man eine ganze Musterkarte verschiedenster Formen des Grundbesitzes studieren, die wie der Herschelsche Sternhimmel zugleich eine auf eine Fläche projizierte Geschichte von Jahrtausenden darstellt. Dorfgemeinde neben Geschlechtsgemeinde, periodische Umteilungen gleicher Bodenanteile neben der Lebenslänglichkeit ungleicher Anteile, gemeinschaftliche Bodenbearbeitung neben privatem Einzelbetrieb, Gleichberechtigung aller Dorfbewohner an Gemeindeländereien neben Privilegien gewisser Gruppen, endlich neben allen diesen Formen des Gemeinbesitzes reines Privateigentum an Grund und Boden und dieses in Form bäuerlicher Zwergparzellen, kurzfristiger Pachten und enormer Latifundien - dies alles konnte man in Indien noch vor wenigen Jahrzehnten in Lebensgröße studieren. Daß die Markgenossenschaft in Indien eine uralte Einrichtung ist, bezeugen die indischen Rechtsquellen, so das älteste kodifizierte Gewohnheitsrecht Manu aus dem 9. Jahrhundert v. Chr., das zahlreiche Bestimmungen über Grenzstreitigkeiten zwischen den Marken, über ungeteilte Mark, über Neuansiedlungen von Tochterdörfern auf ungeteilten Ländereien alter Marken enthält. Das Rechtsbuch kennt nur Eigentum, das auf eigener Arbeit beruht; es erwähnt noch das Handwerk als Nebenbeschäftigung der Landwirtschaft; es sucht der ökonomischen Macht der Brahminen, das heißt der Priester, einen Riegel vorzuschieben, indem es nur erlaubt, ihnen bewegliche Habe zu schenken. Die späteren einheimischen Fürsten, die Radschas, figurieren hier noch als die gewählten Stammesoberhäupter. Auch die beiden späteren Rechtsbücher aus dem 5. Jahrhundert Jadschnawalkja und Narada erkennen den Geschlechtsverband als die soziale Organisation an, und die öffentliche Gewsowie die Gerichtsbarkeit ruht hier in den Händen der Versammlung der Markgenossen. Diese haften solidarisch für Vergehen und Verbrechen der einzelnen. An der Spitze des Dorfes steht der gewählte Markvorsteher. Beide |674| Rechtsbücher raten, die besten, friedliebendsten und gerechtesten Mitglieder zu diesem Amt zu wählen und ihnen unbedingten Gehorsam zu leisten. Das Buch Naradu unterscheidet schon zweierlei Markgenossenschaften: »Verwandte«, das heißt Geschlechtsgenossenschaften, und »Mitbewohner«, das heißt Nachbargemeinden als Ortsverbände Nichtblutsverwandter. Beide Rechtsbücher kennen aber gleichfalls das Eigentum nur auf Grundlage der eigenen Arbeit: Ein verlassener Boden gehört dem, der ihn zum Anbau nimmt, ein unrechtmäßiger Besitz wird selbst nach drei Generationen nicht anerkannt, wenn nicht eigene Bearbeitung damit verbunden war. Bis dahin sehen wir also das indische Volk noch in denselben primitiven Gesellschaftsbanden und Wirtschaftsverhältnissen begriffen, in denen es jahrtausendelang in dem Gebiete des Indus und nachher in der heroischen Zeit der Eroberung des Gangesgebietes lebte, aus der die großen Volksepen Ramayana und Mahabharata geboren wurden. Erst die Kommentare zu den alten Rechtsbüchern, die stets das charakteristische Symptom tiefer sozialer Veränderungen und des Bestrebens sind, alte Rechtsanschauungen neuen Interessen gemäß zu beugen und zu deuten, sind ein deutlicher Beweis, daß bis zum 14. Jahrhundert - der Wirkungsepoche der Kommentatoren - die indische Gesellschaft tiefgehende Verschiebungen in ihrer sozialen Struktur durchgemacht hat. Inzwischen ist nämlich eine einflußreiche Priesterkaste entstanden, die sich materiell und rechtlich über der Masse der Bauern erhebt. Die Kommentatoren suchen die deutliche Sprache der alten Rechtsbücher - genau wie ihre christlichen Kollegen im feudalen Westen - dahin »auszulegen«, um den priesterlichen Grundbesitz zu rechtfertigen, Schenkungen von Land an die Brahminen zu ermuntern und dadurch die Aufteilung der Markländereien und die Ausbildung eines geistlichen Großgrundbesitzes auf Kosten der Bauernmasse zu fördern. Der Vorgang war typisch für die Schicksale aller orientalischen Gesellschaften.
Die Lebensfrage jedes etwas vorgeschritteneren Ackerbaus in den meisten Gegenden des Orients ist die künstliche Bewässerung.[8] Wir sehen auch sowohl in Indien wie in Ägypten schon früh als solide Grundlage der Landwirtschaft großartige Berieselungswerke, Kanäle, Brunnen oder planmäßige Vorkehrungen zur Anpassung der Landwirtschaft an periodische Überschwemmungen. Alle diese großangelegten Unternehmungen überstiegen von vornherein die Kräfte, aber auch die Initiative und den Wirtschaftsplan der einzelnen Markgenossenschaften. Zu ihrer Leitung |675| und Durchführung gehört eine Autorität, die über den einzelnen Dorfmarken stand und deren Arbeitskräfte in einer höheren Einheit zusammenfassen konnte, es gehörte dazu auch eine höhere Beherrschung der Naturgesetze, als sie dem Beobachtungs- und Erfahrungsfeld der Masse der in ihren Dorfpfählen eingeschlossenen Ackerbauern zugänglich war. Aus diesen Bedürfnissen ergab sich die wichtige Funktion der Priester im Orient, die durch Naturbeobachtung, die mit jeder Naturreligion verknüpft ist wie durch die auf einer gewissen Stufe der Entwicklung eintretende Befreiung von der unmittelbaren Teilnahme an der landwirtschaftlichen Arbeit am besten befähigt waren, die großen öffentlichen Unternehmungen der Berieselung zu leiten. Aus diesen rein wirtschaftlichen Funktion erwuchs aber naturgemäß mit der Zeit auch eine besondere soziale Macht der Priester: die aus der Arbeitsteilung sich ergebende Spezialisierung eines Gesellschaftsteiles verwandelte sich in eine erbliche abgeschlossene Kaste mit Vorrechten und Ausbeutungsinteressen gegenüber der Masse des Bauerntums. Wie rasch und wie weit dieser Prozeß bei diesem oder jenem Volke gedieh, ob er in keimartigen Formen blieb, wie bei den peruanischen Indianern, oder zur förmlichen Staatsherrschaft des Priestertums, zur Theokratie, sich entwickelte, wie in Ägypten oder bei den alten Hebräern, hing jedesmal von den besonderen geographischen und historischen Umständen, namentlich von der Frage ab, ob häufige kriegerische Zusammenstöße mit den umwohnenden Völkern nicht außer der Priesterkaste auch eine mächtige Kriegerkaste aufkommen ließen, die sich als Militäradel konkurrierend neben oder über der Priesterkaste erhob. In jedem Fall war es wieder die spezifische partikularistische Beschränktheit der alten kommunistischen Mark, deren Organisation für größere Aufgaben weder wirtschaftlicher noch politischer Natur geeignet war und sich deshalb die Herrschaft außerhalb ihrer und über ihr stehender Mächte gefallen lassen mußte, die jene Funktionen übernahmen. In diesen Funktionen lag so sicher der Schlüssel zur politischen Herrschaft und wirtschaftlichen Ausbeutung der großen Bauernmasse, daß sämtliche barbarischen Eroberer des Orients - ob es Mongolen, Perser oder Araber waren - jedesmal neben der Militärgewim eroberten Lande auch die Leitung und Durchführung jener großen öffentlichen Unternehmungen in ihre Hände nahmen, die die Lebensbedingung der Landwirtschaft darstellen. Genauso wie die Inkas in Peru die Oberaufsicht über die künstlichen Bewässerungsunternehmungen sowie den Wege und Brückenbau als ihr Vorrecht, aber auch als ihre Pflicht betrachteten, so ließen sich in Indien die verschiedenen im Laufe der Jahrhunderte einander ablösenden asia- |676| tischen Despotendynastien dieselbe Mühe angelegen sein. Und trotz Kastenbildung, trotz despotischer Fremdherrschaft, die sich über dem Lande lagerte, trotz politischer Umwälzungen fristete in den Niederungen der indischen Gesellschaft das stille Dorf sein bescheidenes Dasein. Und im Innern jedes Dorfes herrschten die uralten traditionellen Satzungen der Markenverfassung, die unter der Decke der stürmischen politischen Geschichte ihre eigene stille und unmerkliche innere Geschichte durchmachten, alte Formen abstreiften, neue annahmen, Blüte, Verfall, Auflösung und Neubildung zeitigten. Kein Chronist hat diese Vorgänge aufgezeichnet, und wahrend die Weltgeschichte den kühnen Zug Alexanders von Mazedonien nach den Quellen des Indus beschreibt und von dem Waffenlärm des blutigen Timur Lenk und seiner Mongolen erfüllt ist, schweigt sie gänzlich über die innere wirtschaftliche Geschichte des indischen Volkes. Nur aus Überbleibseln aller alten Schichtungen dieser Geschichte können wir ein mutmaßliches Entwicklungsschema der indischen Gemeinde rekonstruieren, und es ist das Verdienst Kowalewskis, diese wichtige wissenschaftliche Aufgabe gelöst zu haben. Nach Kowalewski lassen sich die verschiedenen noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Indien beobachteten Typen der ländlichen Gemeinde in die folgende historische Reihenfolge ordnen.
1. Als älteste Form ist die reine Geschlechtsgemeinde aufzufassen, die die Gesamtheit der Blutsverwandten eines Geschlechts (einer Sippe) umfaßt, den Grund und Boden gemeinsam besitzt und ihn auch gemeinsam bearbeitet. Auch die Feldmark ist hier demnach ungeteilte Mark, und der Verteilung unterliegen bloß die geernteten und in gemeinsamen Dorfspeichern aufbewahrten Früchte. Dieser primitivste Typus der Dorfgemeinde hat sich nur in wenigen Gegenden Nordindiens erhalten, ihre Einwohnerschaft jedoch war meistens nur noch auf einige Zweige (»putti«) der alten Gens beschränkt. Kowalewski sieht darin, nach Analogie mit der bosnischen und herzegowinischen »Zadruga«, das Produkt der Auflösung der ursprünglichen Blutsverwandtschaft, die sich mit der Zeit infolge des Bevölkerungszuwachses in einige Großfamilien spaltet, die auch mit ihren Ländereien ausscheiden. Noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es ansehnliche Dorfgemeinden dieses Typus, von denen einige zum Bei- |677| spiel über 150, andere aber auch 400 Mitglieder umfaßten. Vorwiegend jedoch war der Typus kleiner Dorfgemeinden, die nur in außerordentlichen Fällen, zum Beispiel bei Veräußerungen des Grundbesitzes, zu größeren Verwandtschaften im Bereiche der alten Gens zusammentraten. Im gewöhnlichen Leben führten sie das abgeschiedene, streng geregelte Dasein, das Marx nach englischen Quellen in seinem »Kapital« in knappen Zügen schildert [9]:
»Jene uraltertümlichen, kleinen indischen Gemeinwesen z.B., die zum Teil noch fortexistieren, beruhn auf gemeinschaftlichem Besitz des Grund und Bodens, auf unmittelbarer Verbindung von Agrikultur und Handwerk und auf einer festen Teilung der Arbeit, die bei Anlage neuer Gemeinwesen als gegebner Plan und Grundriß dient. Sie bilden sich selbst genügende Produktionsganze, deren Produktionsgebiet von 100 bis auf einige 1.000 Acres wechselt. Die Hauptmasse der Produkte wird für den unmittelbaren Selbstbedarf der Gemeinde produziert, nicht als Ware, und die Produktion selbst ist daher unabhängig von der durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit im großen und ganzen der indischen Gesellschaft. Nur der Überschuß der Produkte verwandelt sich in Ware, zum Teil selbst wieder erst in der Hand des Staats, dem ein bestimmtes Quantum seit undenklichen Zeiten als Naturalrente zufließt. Verschiedne Teile Indiens besitzen verschiedne Formen des Gemeinwesens. In der einfachsten Form bebaut die Gemeinde das Land gemeinschaftlich und verteilt seine Produkte unter ihre Glieder, während jede Familie Spinnen, Weben usw. als häusliches Nebengewerb treibt. Neben dieser gleichartig beschäftigten Masse finden wir den 'Haupteinwohner', Richter, Polizei und Steuereinnehmer in einer Person; den Buchhalter, der die Rechnung über den Ackerbau führt und alles darauf Bezügliche katastriert und registriert; einen dritten Beamten, der Verbrecher verfolgt und fremde Reisende beschützt und von einem Dorf zum andren geleitet; den Grenzmann, der die Grenzen der Gemeinde gegen die Nachbargemeinden bewacht; den Wasseraufseher, der das Wasser aus den gemeinschaftlichen Wasserbehältern zu Ackerbauzwecken verteilt; den Brahminen, der die Funktionen des religiösen Kultus verrichtet; den Schulmeister, der die Gemeindekinder im Sand schreiben und lesen lehrt; den Kalenderbrahminen, der als Astrolog die Zeiten für Saat, Ernte und die guten und bösen Stunden für alle besondren Ackerbauarbeiten angibt; einen Schmied und einen Zimmermann, welche alle Ackerbauwerkzeuge verfertigen und ausbessern; den Töpfer, der alle Gefäße für das Dorf macht; den Barbier, den |678| Wäscher für die Reinigung der Kleider, den Silberschmied, hier und da den Poeten, der in einigen Gemeinden den Silberschmied, in andren den Schulmeister ersetzt. Dies Dutzend Personen wird auf Kosten der ganzen Gemeinde erhalten. Wächst die Bevölkerung, so wird eine neue Gemeinde nach dem Muster der alten auf unbebautem Boden angesiedelt ... Das Gesetz, das die Teilung der Gemeindearbeit regelt, wirkt hier mit der unverbrüchlichen Autorität eines Naturgesetzes ... Der einfache produktive Organismus dieser selbstgenügenden Gemeinwesen, die sich beständig in derselben Form reproduzieren und, wenn zufällig zerstört, an demselben Ort, mit demselben Namen wieder aufbauen, liefert den Schlüssel zum Geheimnis der Unveränderlichkeit asiatischer Gesellschaften, so auffallend kontrastiert durch die beständige Auflösung und Neubildung asiatischer Staaten und rastlosen Dynastenwechsel. Die Struktur der ökonomischen Grundelemente der Gesellschaft bleibt von den Stürmen der politischen Wolkenregion unberührt.«[16] [Hervorhebungen - R. L.]
2. Zur Zeit der englischen Eroberung war die ursprüngliche Geschlechtsgemeinde mit ungeteiltem Boden meist schon aufgelöst. Aus ihrer Auflösung war aber eine neue Form entstanden: eine Verwandtschaftsgemeinde mit verteiltem Ackerland, doch nicht mit gleichen, sondern mit ungleichen Familienanteilen, deren Größe genau von dem Grad der Verwandtschaft mit dem Urahnen abhing. Diese Form war sehr verbreitet im nordwestlichen Indien sowie im Fünfstromland. Die Anteile sind hier weder lebenslänglich noch erblich, sie bleiben im Besitz der Familien so lange, bis der Zuwachs der Bevölkerung oder die Notwendigkeit, zeitweilig abwesend gewesene Verwandte zum Anteil an der Feldmark zuzulassen, eine Neuumteilung erforderlich machen. Häufig jedoch werden neue Ansprüche nicht durch allgemeine Umteilung, sondern durch Zuweisung neuer Parzellen auf unbebautem Markland befriedigt. Auf diese Weise werden die Familienanteile oft - wenn nicht rechtlich, so doch faktisch - lebenslänglich und sogar erblich. Neben dieser so ungleich verteilten Feldmark bleiben aber Wälder, Sümpfe, Wiesen, unbebaute Ländereien Gemeinbesitz aller Familien, die sie auch gemeinsam benutzen. Diese merkwürdige, auf Ungleichheit basierte kommunistische Organisation gerät jedoch mit der Zeit in Widerspruch mir neuen Interessen. Mit jeder späteren Generation wird die Feststellung des Verwandtschaftsgrades jedes einzelnen immer schwieriger, die Tradition der Blutsbande verblaßt, und die Ungleichheit der Familienanteile wird immer mehr von den |679| Benachteiligten als Ungerechtigkeit empfunden. Andererseits tritt in vielen Gegenden unvermeidlich eine Vermischung der Bevölkerung durch Abwanderung eines Teils der Verwandten, durch Kriege und Ausrottung eines anderen Teiles der angesessenen Bevölkerung, durch Ansiedlung und Aufnahme neuer Ankömmlinge [ein]. So wird trotz aller scheinbaren Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit der Verhältnisse die Bevölkerung der Gemeinden gewiß nach Bodengüte in Fluren (»wund«) eingeteilt, und jede Familie kriegt einzelne Streifen sowohl in den besseren, bewässerten Fluren (die »sholgura«, von »shola« = Reis, heißen) wie in den schlechteren (»culmee«). Umlosungen waren zunächst, wenigstens vor der englischen Eroberung, nicht periodisch, sondern sie fanden jedesmal statt, wenn der natürliche Zuwachs der Bevölkerung eine tatsächliche Ungleichheit in der wirtschaftlichen Lage der Familien hervorgerufen hat. Namentlich dauerte dies in länderreichen Gemeinden, die einen Vorrat an brauchbaren Fluren hatten. In kleineren Gemeinden wurde die Umteilung alle 10, 8, 5 Jahre, oft jedes Jahr, vorgenommen. Letzteres fand besonders dort statt, wo Mangel an guten Fluren ihre gleichmäßige Verteilung an alle Markgenossen jedes Jahr unmöglich machte, wo also nur durch die abwechselnde Benutzung verschiedener Fluren die ausgleichende Gerechtigkeit betätigt werden kann. So endet die indische Geschlechtsgemeinde in ihrer Zersetzung mit der Form, die geschichtlich als die ursprüngliche germanische Markgenossenschaft festgestellt ist.
Wir haben in Britisch-Indien und in Algerien [10] zwei klassische Beispiele des Verzweiflungskampfes und des tragischen Endes der alten kommunistischen Wirtschaftsorganisation in ihrem Zusammenstoß mit dem europäischen Kapitalismus kennengelernt. Das Bild der wechselvollen Schicksale der Markgenossenschaft wäre nicht vollständig, wenn wir zum Schluß nicht das merkwürdige Beispiel eines Landes berücksichtigen würden, wo scheinbar die Geschichte einen ganz anderen Lauf genommen hat, wo nämlich der Staat nicht gewaltsam das bäuerliche Gemeineigentum zu zerstören, sondern gerade umgekehrt es mit allen Mitteln zu retten und zu konservieren suchte. Dies Land ist das zarische Rußland.
Wir haben uns hier nicht mit dem großen theoretischen Streit zu befas- |680| sen, der jahrzehntelang um den Ursprung der russischen bäuerlichen Feldgemeinschaft geführt wurde. Es war nur natürlich und stimmt ganz mit der allgemeinen, dem Urkommunismus feindlichen Gesinnung der heutigen bürgerlichen Wissenschaft überein, daß die »Entdeckung« des russischen Professors Tschitscherin aus dem Jahre 1858, wonach die Feldgemeinschaft in Rußland gar nicht ein ursprüngliches historisches Produkt, sondern ein künstliches Produkt der fiskalischen Politik des Zarismus gewesen sein soll, bei den deutschen Gelehrten willige Aufnahme und Zustimmung fand.(17) Tschitscherin, der wieder einmal den Beweis liefert, daß die liberalen Gelehrten als Historiker meist viel untauglicher sind als ihre reaktionären Kollegen, nimmt noch für die Russen die seit Maurer für Westeuropa definitiv aufgegebene Theorie der Einzelsiedelungen an, aus denen erst im 16. und 17. Jahrhundert die Gemeinden entstanden sein sollen. Dabei leitet Tschitscherin die gemeinsame Feldwirtschaft und den Flurzwang aus der Gemengelage der Feldstreifen, den gemeinsamen Bodenbesitz aus Grenzstreitigkeiten, die öffentliche Gewder Markgenossenschaft aus der fiskalischen Solidarhaft für die im 16. Jahrhundert eingeführte Kopfsteuer ab, stellt also so ziemlich alle historischen Zusammenhänge, Ursache und Wirkung höchst liberal auf den Kopf.
Wie man aber auch über die Altertümlichkeit und den Ursprung der bäuerlichen Feldgemeinschaft in Rußland denken mag, jedenfalls überdauerte sie die ganze lange Geschichte der Leibeigenschaft und auch ihre Abstreifung bis in die letzten Zeiten hinein. Uns interessieren hier nur ihre Schicksale im 19. Jahrhundert.
Als Zar Alexander II. seine sogenannte »Bauernbefreiung« durchführte, wurde den Bauern - ganz nach preußischem Muster - ihr eigenes Land von den Herren verkauft, wobei diese für die schlechtesten Teile der angeblichen Herrengüter vom Fiskus in Wertpapieren reichlich abgefunden und auf das den Bauern »verliehene« Land eine Schuld im Betrage von [900 Millionen Rubel] gelegt wurde, die mit jährlichen Ablösungsraten von 6 Prozent binnen 49 Jahren an den Fiskus zu tilgen war. Dieses Land wurde aber nicht wie in Preußen einzelnen Bauernfamilien in Privateigentum, sondern ganzen Gemeinden als unveräußerliches und unverpfändbares Gemeineigentum zugewiesen. Für die Ablösungsschuld wie für sämtliche Steuern und Abgaben hafteten die Gemeinden solidarisch und waren in der Veranlagung unter ihre einzelnen Mitglieder frei. In dieser |681| Weise wurde das ganze gewaltige Gebiet der großrussischen Bauernmasse eingerichtet. Zu Beginn der neunziger Jahre war die Einteilung des gesamten Bodenbesitzes im europäischen Rußland (ohne Polen, Finnland und das Donsche Kosakengebiet) die folgende: Die Staatsdomänen, die meist aus enormen Waldgebieten des Nordens und aus Ödland bestehen, umfaßten 150 Millionen Deßjatinen,(18) kaiserliche Apanagen 7 Millionen, im Besitz der Kirche und der Städte befanden sich weniger als 9 Millionen, im Privatbesitz 93 Millionen - wovon nur 5 Prozent den Bauern, der Rest dem Adel gehörte, 131 Millionen Deßjatinen aber waren bäuerlicher Gemeinbesitz. Noch im Jahre 1900 befanden sich in Rußland 122 Millionen Hektar im Gemeinbesitz der Bauern und nur 22 Millionen im bäuerlichen Privatbesitz.
Sieht man sich die Wirtschaft des russischen Bauerntums auf diesem enormen Gebiete an, wie sie bis in die letzte Zeit, zum Teil heute noch, geführt wird, so erkennt man mit Leichtigkeit die typischen Einrichtungen der Markgenossenschaft wieder, wie sie in Deutschland so gut wie in Afrika, am Ganges so gut wie in Peru zu allen Zeiten üblich waren. Es gab geteilte Feldmark, während Wald, Wiese, Wasser ungeteilte Allmende bildeten. Bei der allgemeinen Vorherrschaft der primitiven Dreifelderwirtschaft wurde Sommer wie Winterfeld nach Bodengüte in Fluren (»Karten«) geteilt, jede Flur in einzelne Streifen. Die Sommerfluren pflegte man im April, die Winterfluren im Juni zu verteilen. Bei der peinlichen Beobachtung der gleichmäßigen Verteilung des Bodens wurde die Gemengelage so stark entwickelt, daß zum Beispiel im Moskauer Gouvernement im Durchschnitt auf das Sommer und das Winterfeld je 11 Fluren entfielen, so daß jeder Bauer mindestens 22 zerstreute Parzellen zu bebauen hatte, Die Gemeinde sonderte gewöhnlich Grundstücke aus, die für Notfälle zu Gemeindezwecken bebaut wurden, oder legte Vorratsmagazine zum gleichen Zwecke an, in die einzelne Mitglieder Korn zu liefern hatten. Für den technischen Fortschritt der Wirtschaft war in der Weise gesorgt, daß jede Bauernfamilie ihren Anteil 10 Jahre lang behalten durfte, unter der Bedingung, daß sie ihn düngte, oder aber wurden in jeder Flur von vornherein Parzellen abgeteilt, die gedüngt wurden und nur alle 10 Jahre zur Umteilung gelangten. Derselben Regel unterlagen meist Flachsfelder, Obst und Gemüsegärten.
Die Verteilung der Gemeindeherden auf verschiedene Wiesen und Weiden, die Aufdingung der Hirten, Einzäunung der Weiden, Flurschutz sowie Bestimmung des Feldsystems, des Zeitpunkts für einzelne Feld- |682| arbeiten, des Termins und der Art der Umteilungen - das alles war Sache der Gemeinde, das heißt der Dorfversammlung. Was die Häufigkeit der Umteilungen betrifft, so herrschte große Mannigfaltigkeit. In einem einzigen Gouvernement, Saratow zum Beispiel, unternahmen im Jahre 1877 von 278 untersuchten Dorfgemeinden nahezu die Hälfte die Umlosung jährlich, die übrigen aber alle 2, 3, 5, 6, 8 und 11 Jahre, während 38 Gemeinden, die allgemein das Düngen praktizierten, die Umteilungen ganz aufgegeben hatten.(19)
Das merkwürdigste an der russischen Markgenossenschaft ist die Art der Bodenverteilung. Hier herrschte nicht das Prinzip gleicher Lose, wie bei den alten Deutschen, oder der Größe der Familienbedürfnisse, wie bei den Peruanern, sondern einzig [und] allein das Prinzip der Steuerkraft. Das fiskalische Steuerinteresse beherrschte seit der »Bauernbefreiung« das gesamte Leben der Dorfgemeinde, um die Steuern drehten sich alle Einrichtungen im Dorfe. Für die zarische Regierung existierten zwar als Grundlage der Besteuerung nur die sogenannten »Revisionsseelen«, das heißt alle männlichen Einwohner der Gemeinde ohne Altersunterschied, wie sie seit der ersten Bauernzählung unter Peter dem Großen etwa alle 20 Jahre durch die berühmten »Revisionen« festgestellt wurden, die der Schrecken des russischen Volkes waren und vor denen ganze Dörfer auseinanderliefen.(20)
Die Regierung besteuerte die Dörfer nach der Zahl der revidierten »Seelen«. Die Gemeinde aber veranlagte die auf sie entfallende Pauschalsumme der Steuern auf die Bauernhöfe nach Arbeitskräften, und nach der so berechneten Steuerleistungsfähigkeit wurde der Bodenanteil jedes Hofes bemessen. Der Bodenanteil erschien somit in Rußland seit 1861 von vornherein nicht als Grundlage der Ernährung der Bauern, sondern als Grundlage der Steuerleistung, er war nicht eine Wohltat, auf die der einzelne Bauernhof Anspruch hatte, sondern er war Pflicht, die jedem Mitglied von der Gemeinde als Staatsdienst aufgedrungen wurde. Nichts Originelleres deshalb als eine russische Dorfversammlung, bei der die Boden- |683| umteilung stattfand. Allenthalben konnte man Proteste gegen zu große zugewiesene Anteile hören, arme Familien ohne richtige Arbeitskräfte, mit vorwiegend weiblichen oder minderjährigen Mitgliedern wurden wegen »Kraftlosigkeit« im Gnadenwege mit dem Anteil überhaupt verschont, reichen Bauern wurden aber von der Masse der ärmeren die größten Anteile aufgezwungen. Die Steuerlast, die so im Mittelpunkt des russischen Dorflebens steht, ist auch eine enorme. Zu den Ablösungssummen kamen zunächst noch die Kopfsteuer, Gemeindesteuer, Kirchensteuer, Salzsteuer usw. In den achtziger Jahren wurde die Kopfsteuer und die Salzsteuer abgeschafft, trotzdem blieb die Steuerlast so enorm, daß sie alle wirtschaftlichen Mittel des Bauerntums verschlang. Nach einer Statistik aus den neunziger Jahren schlugen 70 Prozent der Bauernschaft aus ihrem Bodenanteile weniger als das Existenzminimum heraus, 20 Prozent waren imstande, sich selbst zu ernähren, nicht aber Vieh zu halten, und nur etwa 9 Prozent konnten einen Überschuß über den eigenen Bedarf zum Verkauf bringen. Eine ständige Erscheinung des russischen Dorfes wurden deshalb gleich nach der »Bauernbefreiung« die Steuerrückstände. Schon in den siebziger Jahren erwies sich bei einem durchschnittlichen jährlichen Eingang von 50 Millionen Rubel Kopfsteuer ein jährlicher Rückstand von 11 Millionen. Nach der Aufhebung der Kopfsteuer wuchs das Elend des russischen Dorfes dank der gleichzeitig seit den achtziger Jahren immer höher geschraubten indirekten Besteuerung immer mehr. Im Jahre 1904 betrugen die Steuerrückstände 127 Millionen Rubel, die bei der völligen Unmöglichkeit der Eintreibung und angesichts der revolutionären Gärung fast ganz erlassen wurden. Die Steuern verschlangen bald nicht bloß fast den ganzen Erwerb der Bauernwirtschaft, sondern zwangen die Bauern, Nebenverdienst zu suchen. Einerseits waren es ländliche Saisonarbeiten, die zur Erntezeit auch heute namentlich ganze Völkerwanderungen im Inneren Rußlands hervorrufen, wobei die kräftigsten männlichen Dorfeinwohner auf die großen herrschaftlichen Güter ziehen, um sich hier zum Tagelohn zu verdingen, während sie ihre eigenen Parzellen auf schwächere Kräfte alter, weiblicher und halbwüchsiger Arbeiter zurücklassen. Andererseits winkte die Stadt, die Fabrikindustrie. So bildete sich namentlich im zentralen Industrierayon jene Schicht der zeitweisen Arbeiter, die nur zum Winter in die Städte, meist in die Textilfabriken, zogen, um im Frühling mit dem Verdienst in ihr Dorf zu Feldarbeiten zurückzukehren. Endlich kam in vielen Gegenden noch industrielle Hausarbeit oder landwirtschaftlicher zufälliger Nebenbetrieb, wie Fuhrgeschäft oder Holzhacken, hinzu. Und bei alledem konnte die größte Klasse der Bauern kaum das |684| nackte Leben fristen. Nicht nur alle Früchte des Ackerbaus, sondern auch sämtlicher industrieller Nebenerwerb wurden von den Steuern verschlungen. Die Markgenossenschaft, die für die Steuern solidarisch haftete, war mit strengen Machtmitteln gegenüber ihren Mitgliedern vom Staate ausgerüstet. Sie konnte Steuerrückständler nach auswärts zu Lohnarbeiten vermieten und das von ihnen verdiente Geld mit Beschlag belegen, sie verlieh oder verweigerte ihren Mitgliedern den Paß, ohne den sich der Bauer aus seinem Dorfe nicht entfernen konnte. Sie hatte endlich das gesetzliche Recht, ihre Mitglieder als hartnäckige Steuerrückständler körperlich zu züchtigen. Und nun bot das russische Dorf periodisch auf der ganzen gewaltigen Strecke des inneren Rußlands ein ganz eigentümliches Bild. Bei Ankunft von Steuerexekutoren im Dorf begann eine Prozedur, für die das zarische Rußland den technischen Namen »Herausprügeln der Rückstände« erfunden hat. Die Dorfversammlung erschien vollzählig, die »Rückständler« mußten die Hosen ausziehen, sich auf die Bank legen, worauf sie von ihren eigenen Markgenossen einer nach dem anderen mit Rutenhieben blutig gepeitscht wurden. Stöhnen und lautes Weinen der Geprügelten - meist bärtiger Familienväter, oft weißhaariger Greise - begleiteten die hohe Obrigkeit, die nach getaner Arbeit auf Troikas mit Schellengeläute in ein anderes Dorf jagte, um dort Gleiches zu vollbringen. Nicht selten retteten sich die Bauern vor der öffentlichen Exekution durch Selbstmord. Eine andere originelle Blüte dieser Verhältnisse war der »Steuerbettel«, bei dem verarmte alte Bauern mit dem Bettelstab auf die Wanderschaft zogen, um die fälligen Steuern zusammenzuscharren und ins Dorf zurückzubringen. Die so in eine Steuerdruckmaschine verwandelte Markverfassung bewachte der Staat mit Strenge und Ausdauer. Das Gesetz vom Jahre 1881 bestimmt zum Beispiel, daß das Bauernland durch ganze Gemeinden nur veräußert werden dürfe, wenn zwei Drittel der Bauern den Beschluß fassen, wobei noch die Zustimmung der Minister des Innern, der Finanzen und der Domänen erforderlich war. Einzelne Bauern durften auch ihre erworbenen Erbgüter nur an Mitglieder ihrer Markgenossenschaft veräußern. Hypothekenaufnahme auf das Bauernland war verboten. Unter Alexander III. wurde die Dorfgemeinde jeder Autonomie beraubt und unter die Fuchtel der »Landhauptleute« - eine den preußischen Landräten ähnliche Institution - gestellt. Beschlüsse der Gemeindeversammlung bedurften der Zustimmung dieser Beamten, Landumteilengen wurden unter ihrer Aufsicht vollzogen, ebenso Steuerveranlagung und Eintreibung des Steuern. Das Gesetz vom Jahre 1893 macht dem Drang der Zeit eine teilweise Konzession, indem es Umteilungen nur alle 12 Jahre |685| für zulässig erklärt. Zugleich aber wird die Ausscheidung aus der Markgenossenschaft an die Einwilligung der Gemeinde und an die Bedingung geknüpft, daß der Betreffende die auf ihn entfallende Ablösungsschuld im vollen Betrage tilgt.
Trotz all dieser künstlichen Gesetzesklammern, in die die Dorfgemeinde gepreßt war, trotz der Vormundschaft dreier Ministerien und eines Schwarms von Tschinowniks ließ sich die Auflösung nicht mehr aufhalten. Die erdrückende Steuerlast, der Verfall der bäuerlichen Wirtschaft infolge des landwirtschaftlichen und industriellen Nebenerwerbs, Mangel an Boden, namentlich an Weide und Wald, die schon bei der Ablösung meist von dem Adel an sich gerafft wurden, aber auch an brauchbarem Ackerland bei zunehmender Bevölkerung, das alles erzeugte zweierlei entscheidende Erscheinungen im Leben der Dorfgemeinde: Flucht in die Stadt und Aufkommen des Wuchers im Innern des Dorfes. In dem Maße, wie der Landteil mitsamt dem industriellen oder anderweitigen Nebenerwerb immer mehr doch nur dazu diente, die Steuern abzutragen, ohne sie je wirklich abtragen und ohne das notdürftige Leben fristen zu können, wurde die Zugehörigkeit zur Markgenossenschaft zu einer eisernen Fessel, zur Hungerkette am Halse des Bauern. Und dieser Kette zu entrinnen wurde das natürliche Ziel der Sehnsucht für ganze Massen der ärmeren Gemeindemitglieder. Hunderte Flüchtiger wurden als paßlose Vagabunden von der Polizei in ihre Gemeinde zurückgeliefert und hier von den Markgenossen exemplarisch auf der Bank mit Ruten gezüchtigt. Aber die Rute und der Paßzwang erwiesen sich als ohnmächtig gegen die Massenflucht der Bauern, die bei Nacht und Nebel aus der Hölle ihres »Dorfkommunismus« in die Stadt flohen, um hier in dem Meer des Industrieproletariats definitiv unterzutauchen. Andere, denen die Familienbande oder sonstige Umstände die Flucht nicht ratsam machten, suchten auf legalem Wege den Austritt aus der Feldgemeinschaft zu bewerkstelligen. Dazu war aber die Tilgung der Ablösungsschuld erforderlich, und hier half - der Wucherer aus. Sowohl die Steuerlast selbst wie der durch die Steuerentrichtung erzwungene Verkauf des Korns zu schlechtesten Bedingungen lieferten den russischen Bauer sehr früh dem Wucherer aus. Jeder Notstand, jede Mißernte machten wieder die Zuflucht zum Wucherer unabweislich. Und schließlich die Befreiung selbst aus dem Joch der Gemeinde war für die meisten nicht anders erreichbar, als indem sie sich ins Joch des Wucherers begaben, dem sie sich auf unabsehbare Zeit dienst und tributpflichtig machten. Während so die armen Bauern dem Markverband zu entrinnen suchten, um das Elend loszuwerden, kehrten ihm die reicheren |686| Bauern vielfach den Rücken und traten aus, um der lästigen Solidarhaft für die Steuern der Ärmeren zu entgehen. Aber auch wo formelle Ausscheidungen reicher Bauern unterblieben, bildeten diese - zum größten Teil zugleich Wucherer des Dorfes - in der Markversammlung gegenüber der armen Masse die herrschende Macht, die durch die verschuldete und abhängige Mehrheit sich genehme Beschlüsse durchzudrücken wußte. So bildete sich im Schoße der formell auf Gleichheit und Gemeineigentum beruhenden Dorfgemeinde eine deutliche Klassenscheidung in eine kleine, aber einflußreiche Dorfbourgeoisie und eine Masse abhängiger und tatsächlich proletarisierter Bauern. Der innere Verfall der von der Steuerlast erdrückten, vom Wucher zerfressenen, innerlich gespaltenen Dorfgemeinde machte sich endlich nach außen Luft: Hungersnot und Bauernrevolte wurden in den achtziger Jahren in Rußland zur periodischen Erscheinung, die die inneren Gouvernements mit derselben Unerbittlichkeit heimsuchte, mit der auch der Steuerexekutor und das Militär zur »Beruhigung« des Dorfes ihr auf der Spur folgten. Die russischen Fluren wurden auf weiten Gebieten zum Theater grauenhaften Aussterbens vor Hunger und blutiger Tumulte. Der russische Muschik machte das Los des indischen Bauern durch, und Orissa hieß hier: Saratow, Samara und so weiter die Wolga herunter.(21) Als endlich in den Jahren 1904 und 1905 die Revolution des städtischen Proletariats in Rußland ausbrach, fielen die bis dahin chaotischen Bauerntumulte zum erstenmal mit ihrem ganzen Schwergewicht als politischer Faktor in die Waagschale der Revolution, und die Agrarfrage wurde zu ihrem Zentralpunkt. Jetzt, als die Bauern wie eine unwiderstehliche Sturmflut über die adligen Güter sich ergossen und die »adligen Nester« in Flammen aufgehen ließen mit dem Schrei nach Land, als die Arbeiterpartei die Not der Bauernschaft in der revolutionären Forderung formulierte, den Staatsbesitz und den Großgrundbesitz unentgeltlich zu expropriieren und den Bauern zu überweisen, wich der Zarismus endlich von seiner jahrhundertelang mit eiserner Ausdauer durchgeführten Agrarpolitik zurück. Die Markgenossenschaft war nicht mehr vor dem Untergang zu retten; sie mußte aufgegeben werden. Schon im Jahre 1902 wurde an die Wurzeln selbst der Dorfgemeinde in ihrer spezifisch russischen Gestdie Axt gelegt: Die Solidarhaft für Steuern wurde aufgehoben. Freilich war diese Maßnahme durch die Finanzwirtschaft des Zarismus selbst tatkräftig vorbereitet. Der Fiskus konnte auf die Solidarhaft bei direkten Steuern leicht verzichten, nachdem die indirekten eine solche Höhe er- |687| reicht hatten, daß zum Beispiel im Budget des Jahres 1906 bei einer ordentlichen Gesamteinnahme von 2.030 Millionen Rubel nur 148 Millionen aus direkten und 1.100 Millionen aus indirekten Steuern eingingen, darunter 558 Millionen allein aus dem Branntweinmonopol, das von dem »liberalen« Minister von Witte zur Bekämpfung der Trunksucht eingeführt war. Für die pünktliche Entrichtung dieser Steuer leisteten das Elend, die Hoffnungslosigkeit und die Unwissenheit der Bauernmasse die zuverlässigste Solidarhaft. Im Jahre 1905 und 1906 wurde der verbliebene Rest der Ablösungsschuld auf die Hälfte herabgesetzt, 1907 gänzlich gestrichen. Und nun stellte sich die 1907 durchgeführte »Agrarreform« die Schaffung des kleinbäuerlichen Privateigentums offen zum Ziel. Als Mittel hierzu soll die Parzellierung der Domänen, Apanagen und zum Teil des Großgrundbesitzes dienen. So hat die proletarische Revolution des 20. Jahrhunderts selbst in ihrer ersten, unvollendeten Phase bereits den letzten Rest der Leibeigenschaft und der vom Zarismus künstlich konservierten Markgenossenschaft zugleich liquidiert.
Fußnoten von Rosa Luxemburg
(1) Genau dieselbe Stellung nahm der Handwerkes in der griechischen Gemeinde der homerischen Zeit ein: »Alle diese Leute (Metallarbeiter, Zimmermann, Spielmann, Anm. - R. L.) sind Demiurgoi (von Demos = Volk - R. L.), d.h., sie arbeiten für die Angehörigen der Gemeinde, nicht für sich selbst, sie sind persönlich frei, aber sie gelten nicht für voll, sie stehen unter den eigentlichen Gemeindeangehörigen, den kleinen Bauern. Vielfach sind sie nicht seßhaft, sie ziehen von Ort zu Ort oder werden auch, wenn sie einen Namen haben, von weither gerufen.« (Ed. Meyer: Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums [Jena 1895], S. 17.) <=
(2) [Max Weber: Agrargeschichte. I:] Agrarverhältnisse im Altertum. [In:] Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 2. Aufl., Bd. 1 [Jena 1898], S. 69. <=
(3) C., S. 37/38. [Ettore Giccoti: Der Untergang der Sklaverei im Altertum, Berlin 1910, S. 37.] <=
(4) Brevissima Relación de la destruycion de las Indias, Sevilla 1552, zit. bei: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 471. <=
(5) Heinrich Handelmann: Geschichte der Insel Hayti, Kiel 1856, S. 6. <=
(6) Girolamo Benzoni: Storia del mundo nuovo, Venezia 1565, zit. bei: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 51/52. <=
(7) Charleroix: Histoire de l'Isle Espagnole ou de St. Dominique, Paris 1730, Teil I, S. 228, zit. bei: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 50. <=
(8) Acosta: Historia natural y moral de las Indias, Barcelona 1591, zit. bei: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 52. <=
(9) Zurita, S. 57-59, zit. nach: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 62. <=
(10) Zurita, S. 329, zit. nach: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 62/63. <=
(11) Zurita, S. 295, zit. nach: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 65. <=
(12) Zit. bei: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 66. <=
(13) Zurita, S. 87, zit. nach: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 69. <=
(14) Zurita, S. 341, zit. nach: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 60. <=
(15) Memorial que presenta a su Magesdad el licenciado Juan Ortez de Cervantes, Abogado y Procurador general del Reyno del Peru y encomenderos, sobre pedir remedio del danno y diminución des los indios, 1619, zit. bei: [Maxim] Kowalewski[: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879], S. 61. <=
(16) Karl Marx: Das Kapital, Bd. I, S. 321. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 378-379.] <=
(17) Die neue Auflage des Handwörterbuchs. Plechanow und die russische Sozialdemokratie. Hingegen Engels in »Internationales aus dem 'Volksstaat'«. [Friedrich Engels: Nachwort (1894) (zu »Soziales aus Rußland«). In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 18, S. 663-674.] Eduard Meyer. <=
(18) 1 Deßjatine = 1,09 Hektar. <=
(19) Siehe [W. G.] Trirogow[: Obstschina i podat, St. Petersburg 1882], S. 49. <=
(20) Die erste »Revision«, die durch einen Ukas Peters 1719 durchgeführt wurde, war organisiert wie eine Art Strafexpedition im feindlichen Lande. Das Militär war beauftragt, säumige Gouverneure in Eisen zu legen, in ihren eigenen Kanzleien in Haft zu setzen und so lange dort zu halten, »bis sie sich besserten«. Die Popen, denen die Ausführung der Bauernlisten aufgetragen war und die dabei die Unterschlagung von »Seelen« durchgehen ließen, sollten ihres Amtes enthoben und »nach schonungsloser Züchtigung auf den Körper der Zuchthausstrafe unterworfen werden, sei auch einer in hohem Alter«. Leute, die der Verheimlichung von »Seelen« verdächtig waren, wurden der Folter unterworfen. Die späteren »Revisionen« wurden noch lange ebenso blutig, wenn auch mit abnehmender Strenge durchgeführt. <=
(21) Siehe C. Lehmann uad Parvus[: Das hungernde Rußland. Reiseeindrücke, Beobachtungen und Untersuchungen, Stuttgart 1900]. <=
Redaktionelle Anmerkungen
[1] Siehe Georg Ludwig von Maurer: Geschichte des Markenverfassung in Deutschland, Erlangen 1856, S. 119. <=
[2] R. L. verwandte im Manuskript die hebräische Bezeichnung für Ham = Cham. <=
[3] Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879. S. 49. <=
[4] Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879. S. 49. <=
[5] Siehe Horace Waller: Letzte Reise von David Livingstone in Centralafrika von 1865 bis zu seinem Tode 1873, Zweiter Band, Hamburg 1875, S. 189, S. 209 u. S. 219. <=
[6] Randnotiz R. L.: Hier Verh. wie in Indien, Algerien (Rußl.), Java etc. <=
[7] Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879. S. 68. <=
[8] Randnotiz R. L.: 1. Kanalbauten (Arbeitsteilung). Trotzdem Markgenoss. 2. Verschiedene Typen (Kowal.) der Gem. 3. Alles dies erhielt sich trotz Eroberer Mahom. Feudalisierung. 4. Engländer! <=
[9] Randnotiz R. L.: James Mill!! <=
[10] Die Abhandlung über Algerien ist im Manuskript nicht enthalten. Unmittelbar vor diesem Satz, in dem Britisch-Indien und Algerien als Beispiel genannt werden, fehlen im Manuskript, Rosa Luxemburgs ursprüngliche Paginierung zugrunde gelegt, die Blätter 44 bis 67. Diesen Abschnitt hat Rosa Luxemburg offensichtlich aus dem Manuskript der »Einführung« entnommen und für die »Akkumulation des Kapitals« verwandt, in der der Darstellung über die Kolonialwirtschaft des englischen Imperialismus in Indien eine solche über die Methoden des französischen Imperialismus in Algerien folgt. (Siehe S. 325 - 333). Diese Passage schließt inhaltlich die Lücke in der »Einführung« und entspricht auch dem Umfang nach den fehlenden Manuskriptseiten. <=
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