Unser Kampf | | | IV. 1. | | | Inhalt | | | III. 1. | | | Rosa Luxemburg |
Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Einführung in die Nationalökonomie«, S. 687-697.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|687| Mit der russischen Dorfgemeinde ist der wechselvolle Lauf der Schicksale des primitiven Agrarkommunismus erschöpft, der Kreis geschlossen. Beginnend als ein naturwüchsiges Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung, als die beste Garantie des wirtschaftlichen Fortschritts, des materiellen und geistigen Gedeihens der Gesellschaft, endet die Markgenossenschaft hier als ein mißbrauchtes Werkzeug der politischen und wirtschaftlichen Rückständigkeit. Der russische Bauer, der von seinen eigenen Markgenossen im Dienste des zarischen Absolutismus mit Ruten gezüchtigt wird - das ist die grausamste historische Kritik auf die engen Schranken des Urkommunismus und der sinnfälligste Ausdruck der Tatsache, daß auch diese Gesellschaftsform der dialektischen Regel unterliegt: Vernunft wird Unsinn, Wohltat - Plage.
Zwei Tatsachen springen vor allem in die Augen, wenn man die Schicksale der Markgenossenschaft in verschiedenen Ländern und Weltteilen aufmerksam betrachtet. Weit entfernt, eine starre, unwandelbare Schablone zu sein, weist diese höchste und letzte Form des urkommunistischen |688| Wirtschaftssystems vor allem eine unendliche Mannigfaltigkeit, Biegsamkeit und Anpassungsfähigkeit auf, erscheint je nach dem historischen Milieu in verschiedensten Formen. Sie macht dabei in jedem Milieu und unter allen Verhältnissen einen stillen Umwandlungsprozeß durch, der infolge seiner Langsamkeit nach außen zunächst kaum in die Erscheinung treten mag, im Innern der Gesellschaft jedoch stets neue Formen an Stelle veralteter setzt und so, unter jedem politischen Überbau einheimischer oder fremder Staatseinrichtungen, im wirtschaftlichen und sozialen Leben unaufhörlich Entstehen und Vergehen, Entwicklung oder Verfall erlebt.
Zugleich zeigt diese Gesellschaftsform gerade dank ihrer Elastizität und Anpassungsfähigkeit eine außerordentliche Zähigkeit und Dauerhaftigkeit. Sie trotzt allen Stürmen der politischen Geschichte, oder vielmehr, sie verträgt sie alle passiv, läßt sie alle über sich dahinfegen und erträgt geduldig jahrhundertelang den Druck jeder Eroberung, Fremdherrschaft, Despotie und Ausbeutung. Nur eine Berührung verträgt und überlebt sie nicht: Es ist die Berührung mit der europäischen Zivilisation, das heißt mit dem Kapitalismus. Der Zusammenstoß mit diesem ist für die alte Gesellschaft überall ohne Ausnahme tödlich, und er vollbringt, was Jahrtausende und was die wildesten orientalischen Eroberer nicht vermocht hatten: die ganze gesellschaftliche Struktur in ihrem Innern aufzulösen, alle traditionellen Bande zu zerreißen und die Gesellschaft in kürzester Zeit in einen formlosen Schutthaufen zu verwandeln.
Aber der Todeshauch des europäischen Kapitalismus ist bloß der letzte, nicht der einzige Faktor, der den Untergang der primitiven Gesellschaft früher oder später unabwendbar macht. Die Keime dazu liegen im Innern dieser Gesellschaft selbst. Fassen wir die verschiedenen Methoden ihres Untergangs zusammen, wie wir sie an verschiedenen Beispielen kennengelernt haben, so ergibt sich eine gewisse geschichtliche Reihenfolge. Der kommunistische Besitz der Produktionsmittel gewährte als Grundlage einer streng organisierten Wirtschaftsweise für lange Epochen den produktivsten Arbeitsprozeß der Gesellschaft und die beste materielle Sicherung ihres Fortbestandes und ihrer Entwicklung. Aber gerade der durch sie gesicherte, wenn auch sehr langsame Fortschritt der Produktivität der Arbeit mußte mit der kommunistischen Organisation mit der Zeit in einen gewissen Konflikt geraten. Nachdem im Schoße dieser Organisation der entscheidende Fortschritt zum höheren Ackerbau - zum Gebrauch der Pflugschar - vollzogen war und die Markgenossenschaft auf dieser Grundlage ihre festen Formen erhalten hatte, mußte nach einer gewissen Zeit der weitere Schritt in der Entwicklung der Produktionstechnik die intensivere |689| Bodenbebauung erforderlich machen, die ihrerseits auf dem damaligen Stadium der landwirtschaftlichen Technik nur durch intensiveren Kleinbetrieb, durch festere, eingehendere Verbindung der persönlichen Arbeitskraft mit dem Boden erreicht werden konnte. Die längere Benutzung ein und derselben Parzelle durch die einzelne Bauernfamilie wurde zur Vorbedingung ihrer sorgfältigeren Behandlung. Namentlich das Düngen des Bodens ist übereinstimmend in Deutschland wie in Rußland zur Ursache seltenerer Bodenumteilungen geworden. Im allgemeinen läßt sich übereinstimmend allenthalben im Leben der Markgenossenschaft der Zug zu immer größeren Zeitabständen zwischen den Bodenumlosungen feststellen, was überall den Übergang vom Losgut zum. Erbgut früher oder später zur Folge hat. Wie die Verschiebung von Gemeineigentum zum Privateigentum mit der Intensivierung der Arbeit Schritt hält, kann man an der Tatsache verfolgen, daß Wald und Weidewirtschaft überall am längsten die Allmende tragen, währen der intensiver betriebene Ackerbau zuerst den Weg zur geteilten Mark und dann zum Erbgut bahnt. Mit des Fixierung des Privateigentums an den Ackerparzellen ist zwar die gemeinsame Wirtschaftsorganisation noch gar nicht beseitigt, diese wird noch lange durch die Gemengelage der Felder aufrechterhalten und durch die Wald- und Weidegemeinschaft erzwungen. Auch die wirtschaftliche und soziale Gleichheit ist damit im Schoße der alten Gesellschaft noch nicht beseitigt. Es bildet sich zunächst nur eine in ihren Lebensbedingungen gleichmäßige Masse von Kleinbauern, die im allgemeinen jahrhundertelang nach alten Traditionen arbeiten und leben kann. Doch sind schon durch die Erblichkeit der Güter und die damit verbundenen Erbteilungen oder Majorate, dann aber namentlich durch die Käuflichkeit und überhaupt Veräußerlichkeit der Bauerngüter der künftigen Ungleichheit die Tore geöffnet.
Allein die Unterwühlung der traditionellen Gesellschaftsorganisation durch den bezeichneten Prozeß schreitet äußerst langsam vor. Es sind andere historische Faktoren am Werke, die viel rascher und gründlicher diese Arbeit besorgen, und das sind die umfassenderen öffentlichen Aufgaben, denen die Markgenossenschaft in ihren engen Schranken von Natur nicht gewachsen ist. Wir haben bereits gesehen, welche entscheidende Bedeutung für den Ackerbau im Orient die künstliche Berieselung hat. Diese hohe Intensivierung der Arbeit und mächtige Erhöhung ihrer Produktivität führten zu ganz anders weittragenden Resultaten als zum Beispiel der Übergang zum Düngen im Westen. Die Durchführung der künstlichen Bewässerung ist von vornherein auf eine Massenarbeit im großen Maß- |690| stab, auf Großbetrieb berechnet. Als solche gerade findet sie im Schoße der markgenossenschaftlichen Organisation keine entsprechenden Organe und muß sich spezielle Organe schaffen, die über der Markgenossenschaft stehen. Wir wissen, daß die Leitung der öffentlichen Wasserwerke die tiefste Wurzel der Priesterherrschaft und jeder orientalischen Oberherrschaft war. Aber auch im Westen und überall gibt es verschiedene öffentliche Geschäfte, die, so einfach sie im Vergleich zur heutigen Staatsorganisation sind, doch in jeder primitiven Gesellschaft erledigt werden müssen, mit der Entwicklung und dem Fortschritt dieser Gesellschaft wachsen und deshalb mit der Zeit spezieller Organe bedürfen. Überall - in Deutschland wie in Peru, in Indien wie in Algerien - konnten wir als den Zug der Entwicklung feststellen, daß die öffentlichen Ämter in der primitiven Gesellschaft die Tendenz haben, von der Wählbarkeit zur Erblichkeit überzugehen.
Zunächst ist auch dieser Umschwung, der langsam und unfühlbar vor sich geht, noch kein Bruch mit den Grundlagen der kommunistischen Gesellschaft. Vielmehr ergibt sich die Erblichkeit der öffentlichen Ämter auf natürlichem Wege aus dem Umstand, daß auch hier, wie im ganzen Wesen der primitiven Gesellschaften, die Tradition und die persönlich gesammelte Erfahrung am besten die gedeihliche Erledigung des Amtes sichern. Allein mit der Zeit muß die Erblichkeit der Ämter in gewissen Familien unvermeidlich zur Ausbildung einer kleinen einheimischen Aristokratie führen, die aus Dienern des Gemeinwesens zu dessen Herrschern wird. Namentlich dienten die ungeteilten Markländereien, der Ager publicus der Römer, an denen naturgemäß die öffentliche Gewunmittelbar haftet, zur wirtschaftlichen Grundlage der Standeserhöhung dieses Adels. Der Diebstahl des ungeteilten oder unbenutzten Marklandes ist die regelmäßige Methode aller einheimischen und fremden Herrscher, die sich über die Masse des Bauernvolkes emporschwingen und sie politisch unterjochen. Handelt es sich um ein von den großen Kulturstraßen abgeschlossenes Volk, so mag der primitive Adel in seiner ganzen Lebensweise wenig von der Masse sich unterscheiden, am Produktionsprozesse noch unmittelbar teilnehmen und eine gewisse demokratische Einfachheit der Sitten die Unterschiede des Vermögens vertuschen. So ist die jakutische Geschlechtsaristokratie nur um viele Viehstücke begüterter und in öffentlichen Geschäften einflußreicher als die Masse. Kommt aber ein Kontakt mit höher zivilisierten Völkern und reger Austausch hinzu, dann fügen sich bald verfeinerte Lebensbedürfnisse und Entwöhnung von der Arbeit zu sonstigen |691| Vorrechten des Adels, und eine wirkliche Ständedifferenzierung vollzieht sich in der Gesellschaft. Das typischste Bild ist das Griechenland der nachhomerischen Zeit.
So führt die Arbeitsteilung im Schoße der primitiven Gesellschaft früher oder später unvermeidlich zur Sprengung der politischen und ökonomischen Gleichheit von innen heraus. Ein Geschäft öffentlichen Charakters spielt aber eine ganz hervorragende Rolle in diesem Prozeß und vollzieht das Werk viel energischer als die öffentlichen Ämter friedlichen Charakters: Es ist dies die Kriegführung. Zuerst Sache der Masse der Gesellschaft selbst, wird sie namentlich infolge der Fortschritte der Produktion mit der Zeit zur Spezialität gewisser Kreise der primitiven Gesellschaft. Je entwickelter, regelmäßiger und planmäßiger der Arbeitsprozeß der Gesellschaft, um so weniger verträgt er die Unregelmäßigkeiten und die Zeit- und Kraftvergeudung des Kriegslebens. Sind bei der Jagd und der nomadenhaften Viehzucht die Kriegszüge von Zeit zu Zeit direktes Ergebnis des Wirtschaftssystems, so ist der Ackerbau mit großer Friedlichkeit und Passivität der Masse der Gesellschaft verbunden, erfordert aber gerade deshalb häufig einen besonderen Stand von Kriegern zur Verteidigung. So oder anders spielt das Kriegsleben - selbst nur ein Ausdruck der engen Schranken der Produktivität der Arbeit - bei allen primitiven Völkern eine große Rolle und führt überall mit der Zeit zu einer neuen Art Arbeitsteilung. Die Ausscheidung eines Kriegsadels oder einer Kriegshäuptlingsschaft ist überall der stärkste Stoß, den die soziale Gleichheit der primitiven Gesellschaft auszuhalten hat. So kommt es, daß wir überall, wo wir noch historisch überlieferte oder gegenwärtig existierende primitive Gesellschaften kennenlernen, fast nirgends mehr jene Verhältnisse der Freien und Gleichen vorfinden, wie sie uns Morgan an einem glücklichen Beispiele bei den Irokesen schildern konnte. Im Gegenteil, überall Ungleichheit und Ausbeutung, das sind die Merkmale aller primitiven Gesellschaften, wie sie uns als Produkt einer langen Zersetzungsgeschichte entgegentreten, ob es sich um die herrschenden Kasten des Orients handelt oder um die Geschlechtsaristokratie der Jakuten, um die »Großen Clanmänner« der schottischen Kelten oder um den Kriegsadel der Griechen, Römer und der Germanen der Völkerwanderung oder endlich um die kleinen Despoten der afrikanischen Negerreiche. Betrachten wir zum Beispiel das berühmte Reich des Muata Kasembe in Zentralsüdafrika im Osten des Lundareiches, in das die Portugiesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts gedrungen waren, so sehen wir hier, im Herzen Afrikas selbst, in einem von Europäern kaum betretenen Gebiet unter primitiven Negern |692| Gesellschaftsverhältnisse, in denen von Gleichheit und Freiheit der Mitglieder nicht viel mehr zu Finden ist. So schildert uns zum Beispiel die Zustände die Expedition des Majors Monteiro und des Hauptmanns Gamitto, die im Jahr 1831 von Sambesi aus ins Land zu Handels und Forschungszwecken unternommen wurde: Zunächst kam die Expedition ins Land der Marawi, die einen primitiven Hackbau trieben, in kegelförmigen Palisadenhäuschen wohnten und nur ein Tuch um die Lenden trugen. Zur Zeit, als Monteiro und Gamitto das Marawiland durchreisten, stand dasselbe unter einem despotischen Häuptling, welcher den Titel Nede führte. Alle Streitigkeiten wurden von ihm in seiner Hauptstadt Muzienda entschieden, und gegen diese Entscheidung durfte kein Widerspruch erhoben werden. Der Form nach versammelt er einen Rat der Alten, welche aber stets seiner Ansicht sein müssen. Das Land zerfällt in Provinzen, welche von Mambos regiert werden, und diese wieder in Distrikte, an deren Spitze Funos stehen. Alle diese Würden sind erblich. »Am 8. August erreichte man die Residenz des Mukanda, des mächtigsten Häuptlings der Tschewa. Dieser, dem ein Geschenk aus verschiedenen baumwollenen waren, rotem Tuch, verschiedenen Perlen, Salz und Kauris gesandt worden war, kam am folgenden Tage auf einem Schwarzen reitend ins Lager. Mukanda war ein Mann von 60 bis 70 Jahren, von angenehmem, majestätischem Äußeren. Seine einzige Bekleidung bestand in einem schmutzigem Lappen, den er um die Hüften geschlungen hatte. Er blieb ungefähr zwei Stunden und erbat sich beim Abschied in einer freundlichen, unwiderstehlichen Weise von jedem ein Geschenk ... Die Beerdigung der Häuptlinge ist bei den Tschewa von äußerst barbarischen Zeremonien begleitet. Alle Weiber des Dahingeschiedenen werden mit der Leiche in dieselbe Hütte eingeschlossen, bis daß alles zur Beerdigung bereit ist. Dann bewegt sich der Leichenzug ... nach der Gruft hin, und dort angelangt, steigen das Lieblingsweib des Verstorbenen und sieben andere in diese hinab und setzen sich dort mit ausgestreckten Beinen nieder. Man bedeckt diese lebendige Grundlage mit Tüchern, legt darauf die Leiche und stürzt dann noch sechs andere Weiber, denen zuvor der Hals gebrochen worden, in die Gruft. Nun wird das Grab zugedeckt, und die schaudererregende Zeremonie findet ihren Schluß in der Pfählung zweier Jünglinge, deren einer mit einer Trommel am Kopfende, der andere mit Bogen und Pfeil am Fußende des Grabes aufgestellt wird. Major Monteiro war während seines Aufenthaltes im Tschewalande Augenzeuge einer solchen Beerdigung.« Von hier ging es bergauf in die Mitte des Reiches. Die Portugiesen kamen »in eine hochgelegene, öde, von Lebensmitteln fast völlig entblößte |693| Gegend; allerwärts zeigten sich Spuren der Verwüstung durch frühere Kriegszüge, und Hungersnot bedrängte die Expedition in gefahrdrohendstem Maße. Man schickte Boten mit einigen Geschenken zu dem nächsten Mambo, um Führer zu erhalten, allein die Abgesandten kehrten mit der niederschlagenden Nachricht zurück, daß sie den Mambo nebst seiner Familie, dem Hungertode nahe, ganz allein in der Dorfschaft angetroffen hätten ... Noch ehe man an das Herz des Reiches herankam, erhielt man Proben der barbarischen Justiz, welche dort an der Tagesordnung war; nicht selten begegnete man jungen Leuten, welchen Ohren, Hände, Nase und sonstige Gliedmaßen als Strafe für irgendein geringfügiges Vergehen abgeschnitten worden waren ... Am 19. November erfolgte endlich der Einzug in die Hauptstadt, wobei der Esel, welchen Hauptmann Gamitto ritt, nicht geringes Aufsehen verursachte. Bald gelangte man in eine etwa dreiviertel Stunden lange Straße, die zu beiden Seiten durch 23 Meter hohe Zäune begrenzt wird, welche aus durchflochtenen Stangen bestehen und so regelmäßig ausgeführt sind, daß sie wie Wände aussehen. Zu beiden Seiten sieht man in gewissen Abständen kleine offene Türen in diesen Strohwänden. Am Ende der Straße befindet sich eine kleine viereckige Baracke, welche nur nach Westen offen ist und in deren Mitte auf einem hölzernen Sockel eine roh aus Holz geschnittene menschliche Figur von 70 cm Höhe steht. Vor der offenen Seite lag ein Haufen von mehr als 300 Totenschädeln. Hier wird die Straße zu einem großen viereckigen Platz, an dessen Ende ein großer Wald liegt, der von dem Platze nur durch einen Zaun abgetrennt ist. An der Außenseite desselben, zu beiden Seiten der Pforte und an jenen befestigt, sieht man 30 in einer Linie geordnete Totenköpfe als Zierat ... Es folgte nun der Empfang beim Muata, der, mit allem barbarischen Gepränge und von seiner gesamten, aus 5.000 bis 6.000 Mann bestehenden Kriegsmacht umgeben, sich den Portugiesen zeigte. Er saß auf einem mit grünem Tuche bedeckten Stuhl, der auf einem Haufen von Leoparden und Löwenfellen stand. Seine Kopfbedeckung bestand aus einer scharlachroten kegelförmigen Mütze, die aus 1/2 m langen Federn zusammengesetzt war. Um seine Stirn schlang sich ein Diadem aus glänzenden Steinen; Hals und Schultern deckte eine Art Kragen, der aus Schnecken, viereckigen Spiegelstücken und falschen Edelsteinen bestand. Um jeden Arm war eine breite Binde aus blauem Tuche gewunden, das mit Pelz garniert war; den Vorderarm zierten außerdem Schnüre von blauen Steinen. Den Unterleib deckte ein gelbes, rot und blau gesäumtes Tuch, welches mit einem Gürtel zusammengehalten wurde. Die Beine waren ähnlich wie die Arme mit blauen Steinen geschmückt.
|694| Stolz saß, von sieben bunten Schirmen gegen die Sonne geschützt, der Muata da; als Zepter schwenkte er einen Gnuschwanz, und zwölf mit Besen versehene Neger waren beschäftigt, jedes Stäubchen, jede Unreinlichkeit aus seiner heiligen Nähe vom Boden zu entfernen. Um den Herrscher entfaltete sich ein sehr komplizierter Hofstaat. Zunächst hüteten seinen Thron zwei Reihen 40 cm hoher Figuren, welche den Oberteil eines mit Tierhörnern geschmückten Negers vorstellten, und zwischen diesen Figuren war ein Käfig, der eine kleinere Figur enthielt. Vor den Figuren saßen zwei Neger, welche auf Kohlenbecken aromatische Blätter verbrannten. Den Ehrenplatz nahmen die beiden Hauptweiber ein, deren erstes ähnlich wie der Muata gekleidet war. Im Hintergrunde war der 400 Frauen zählende Harem aufmarschiert; doch waren diese Damen, den Leibschurz abgerechnet, gänzlich nackt Außerdem standen noch 200 schwarze Damen jedes Befehls gewärtig da. Innerhalb des von den Weibern gebildeten Vierecks saßen die höchsten Würdenträger des Reiches, die Kilolo, auf Löwen und Leopardenfellen, jeder mit einem Sonnenschirm und ähnlich wie der Muata gekleidet; verschiedene Musikkorps, die auf eigentümlich gestalteten Instrumenten einen betäubenden Lärm verursachten, und einige Hofnarren, die, mit Fellen und Tierhörnern bekleidet, umherrannten, vollendeten die Umgebung des Kasembe, der, solchergestwürdig vorbereitet, den Anmarsch der Portugiesen erwartete. Der Muata ist der absolute Herrscher über dieses Volk, dessen Titel einfach 'Herr' bedeutet. Unter ihm stehen zunächst die Kilolo oder der Adel, der wiederum in zwei Klassen zerfällt. Zu den vornehmsten Adligen gehören der Kronprinz, die nächsten Verwandten des Muata und der Höchstkommandierende der Kriegsmacht.. Aber selbst über Leben und Eigentum dieser Adligen verfügt der Muata in unumschränkter Weise.
Ist dieser Tyrann übler Laune, so läßt er dem, der etwa einen Befehl nicht recht verstanden hat und nochmals fragt, sogleich die Ohren abschneiden, 'um ihn besser hören zu lehren'. Jeder Diebstahl an seinem Eigentum wird mit Amputation der Ohren und Hände bestraft; wer mit irgendeinem seiner Weiber zusammenkommt oder mit ihr spricht, wird getötet oder an allen Gliedern verstümmelt. Der Herrscher steht bei dem abergläubischen Volke in solchem Ansehen, daß es glaubt, niemand könne ihn berühren, ohne durch seine Zaubermittel zu sterben. Da jedoch eine solche Berührung nicht immer zu vermeiden ist, so hat es ein Mittel gegen diesen Tod erfunden. Der, welcher den Herrn berührt hat, kniet vor ihm nieder, worauf dieser seine Handfläche in mysteriöser Weise an diejenige |695| des Knienden legt und ihn solchergestvom Todeszauber erlöst.«(1) Das ist ein Bild einer Gesellschaft, die von den ursprünglichen Grundlagen jedes primitiven Gemeinwesens, von der Gleichheit und Demokratie sehr weit abgekommen ist. Dabei ist gar nicht ausgemacht, daß unter dieser Form des politischen Despotismus nicht markgenossenschaftliche Verhältnisse, Gemeinbesitz an Grund und Boden, gemeinsam organisierte Arbeit fortbestand. Die Portugiesen, die sich den äußeren Plunder der Trachten und Audienzen aufs genaueste merkten, hatten, wie alle Europäer, für ökonomische Verhältnisse, namentlich für solche, die dem europäischen Privateigentum zuwiderliefen, keinen Blick, kein Interesse und keinen Maßstab. Auf jeden Fall aber unterscheidet sich die soziale Ungleichheit und die Despotie der primitiven Gesellschaften wesentlich von derjenigen, die in den zivilisierten Gesellschaften herrscht und von ihnen erst in die primitiven verpflanzt wird. Die Rangerhöhung des primitiven Adels, die despotische Gewdes primitiven Häuptlings sind ebenso naturwüchsige Produkte der Gesellschaft wie alle ihre sonstigen Lebensbedingungen. Sie sind nur ein anderer Ausdruck für die Hilflosigkeit der Gesellschaft der umgebenden Natur und den eigenen sozialen Verhältnissen gegenüber, jene Hilflosigkeit, die gleichermaßen in den Zauberpraktiken des Kults wie in den periodisch eintretenden Hungersnöten zum Vorschein kommt, wobei die despotischen Häuptlinge mitsamt der Masse ihres Untertanen halb oder ganz verhungern. Diese Adels- und Häuptlingsherrschaft befindet sich deshalb in völliger Harmonie mit den sonstigen materiellen und geistigen Lebensformen der Gesellschaft, was ja in der bezeichnenden Tatsache sichtbar wird, daß die politische Gewder primitiven Herrscher stets mit der primitiven Naturreligion, mit dem Kult der Verstorbenen aufs engste verflochten ist und von ihnen getragen wird. Von diesem Standpunkt ist der Muata Kasembe der Lundaneger, dem vierzehn Weiber lebendig ins Grab mitgegeben werden und der über Tod und Leben der Untertanen nach seiner unberechenbaren Laune verfügt, weil er im eigenen Glauben und in der felsenfesten Überzeugung seines Volkes ein mächtiger Zauberer ist, oder auch jener despotische »Fürst Kasongo« am Lomamifluß - der 40 Jahre später dem Engländer Cameron in einem Frauenrock, mit Affenfellen betreßt und einem schmutzigen Taschentuch um dem Kopf, mit seinen zwei nackten Töchtern mit großer Würde inmitten seiner Granden und seines Volkes einen hüpfenden Tanz zur Be- |696| grüßung vorführte - an sich eine viel weniger absurde und wahnwitzige Erscheinung als die Herrschaft von »Gottes Gnaden« eines Menschen, dem der ärgste Feind nicht nachsagen kann, daß er ein Zauberer ist, über 67 Millionen Köpfe eines Volkes, das einen Kant, Helmholtz und Goethe hervorgebracht hat.
Die primitive kommunistische Gesellschaft führt durch ihre eigene innere Entwicklung zur Ausbildung der Ungleichheit und der Despotie. Sie geht aber daran noch nicht zugrunde; sie kann vielmehr Jahrtausende unter diesen urwüchsigen Verhältnissen fortexistieren. Regelmäßig werden aber solche Gesellschaften früher oder später zur Beute einer fremden Eroberung und unterliegen dann einer mehr oder weniger weittragenden sozialen Umbildung. Namentlich ist hier die muselmännische Fremdherrschaft von geschichtlicher Wichtigkeit, weil sie auf weiten Strecken in Asien und Afrika der europäischen vorausgegangen war. Überall, wo die mohammedanischen Nomadenvölker - ob Mongolen oder Araber - ihre Fremdherrschaft in einem eroberten Lande einrichteten und befestigten, da kam es zu einem sozialen Prozeß, den Henry Maine und Maxim Kowalewski als die Feudalisierung des Landes bezeichnen. Ohne sich den Grund und Boden selbst zum Eigentum zu machen, richteten die Eroberer ihr Augenmerk auf zweierlei Ziel: Entrichtung von Abgaben und militärische Befestigung der Herrschaft im Lande. Beiden Zwecken diente eine bestimmte administrativ-militärische Organisation, nach der das Land in mehrere Statthaltereien eingeteilt und muselmännischen Beamten in eine Art Lehen gegeben wurde, die Steuereinnehmer und Militärverwalter zugleich waren. Auch wurden große Portionen der unbebauten Markländereien zur Gründung von Militärkolonien verwendet. Diese Einrichtungen zusammen mit der Verbreitung des Islams vollzogen gewiß einen tiefgehenden Umschwung in den allgemeinen Existenzbedingungen der primitiven Gesellschaften. Allein ihre wirtschaftlichen Bedingungen wurden dadurch wenig geändert. Die Grundlagen und die Organisation der Produktion blieben dieselben und dauerten - trotz Ausbeutung und militärischem Druck - lange Jahrhunderte unverändert fort. Freilich war die muselmännische Herrschaft nicht überall so rücksichtsvoll gegenüber den Lebensbedingungen der Eingeborenen. Die Araber an der Ostküste Afrikas trieben zum Beispiel vom Sansibarer Sultanat aus jahrhundertelang einen ausgedehnten Sklavenhandel mit Negern, der zu regelrechten Sklavenjagden im Innern Afrikas, zur Entvölkerung und Zerstörung ganzer Negerdörfer und zur Steigerung der despotischen Gewder Eingeborenenhäuptlinge führte, die im Verkauf ihrer eigenen Untertanen oder unter- |697| worfenen Nachbarstämme an die Araber ein verlockendes Geschäft fanden. Doch war auch dieser für die Schicksale der afrikanischen Gesellschaft so tiefgreifende Umschwung der Verhältnisse erst als weitere Folge der europäischen Einflüsse vollzogen: Der Sklavenhandel mit Negern kam erst nach den Entdeckungen und Eroberungen der Europäer im 16. Jahrhundert, zur Bedienung der durch Europäer ausgebeuteten Plantagen und Bergwerke in Amerika und Asien in Flor.
In jeder Hinsicht verhängnisvoll wird also für die primitiven Gesellschaftsverhältnisse erst das Eindringen der europäischen Zivilisation. Die europäischen Eroberer sind die ersten, die nicht auf Unterwerfung und wirtschaftliche Ausbeutung der Eingeborenen allein ausgehen, sondern die Produktionsmittel selbst, den Grund und Boden aus ihren Händen reißen. Dadurch aber entzieht der europäische Kapitalismus der primitiven Gesellschaftsordnung ihre Basis. Es entsteht das, was schlimmer als alle Unterdrückung und Ausbeutung ist: völlige Anarchie und die spezifisch europäische Erscheinung: die Unsicherheit der sozialen Existenz. Die unterworfene Bevölkerung, die von ihren Produktionsmitteln getrennt wird, wird vom europäischen Kapitalismus nur noch als Arbeitskraft betrachtet und, wenn sie als solche für die Kapitalzwecke taugt, in Sklaverei getan, wenn nicht - ausgerottet. Wir haben diese Methode in den spanischen, englischen, französischen Kolonien gesehen. Vor dem Vormarsch des Kapitalismus kapituliert die primitive Gesellschaftsordnung, die alle früheren Geschichtsphasen überdauert hat. Ihre letzten Reste werden vom Erdboden vertilgt und ihre Elemente - Arbeitskräfte und Produktionsmittel - vom Kapitalismus aufgesogen. So fiel die urkommunistische Gesellschaft überall - in letzter Linie, weil sie vom ökonomischen Fortschritt überholt war -, um neuen Entwicklungsperspektiven Platz zu machen. Diese Entwicklung und dieser Fortschritt sollten auf lange Zeit durch die niederträchtigen Methoden einer Klassengesellschaft vertreten werden, bis auch diese überholt und vom weiteren Fortschritt auf die Seite geschoben wird. Die Gewist auch hier bloß Dienerin der ökonomischen Entwicklung.
Fußnoten von Rosa Luxemburg
(1) Stanleys und Camerons Reisen durch Afrika, Leipzig 1879, S. 74-80, [Richard Oberänder: Livingstones Nachfolger. Afrika von Osten nach Westen quer durchwandert von Stanley und Cameron. Nach den Tagebüchern, Berichten und Aufzeichnungen der Reisenden, Leipzig 1879.] <=
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