Unser Kampf | | | IV. 3. | | | Inhalt | | | III. 2. | | | Rosa Luxemburg |
Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Einführung in die Nationalökonomie«, S. 697-708.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|697| Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist die: Eine Gesellschaft kann nicht existieren ohne gemeinschaftliche Arbeit, das heißt ohne Arbeit mit Plan u[nd] Organisation. Wir haben auch zu allen Zeiten die versch[iedensten] Formen gefunden. - In der |698| heutigen Gesellschaft finden wir gar keine: weder Herrschaft noch Gesetz, noch Demok[ratie], keine Spur von Plan u[nd] Org[anisation] - Anarchie. Wie ist die kap[italistische] Ges[ellschaft] möglich?
Um dem Bau des kapitalistischen Babelturms auf die Spur zu kommen, stellen wir uns erst für einen Augenblick wieder eine Gesellschaft mit planmäßiger Organisation der Arbeit vor. Es sei dies eine Gesellschaft mit hochentwickelter Arbeitsteilung, wo nicht nur die Landwirtschaft und das Gewerbe getrennt, sondern auch innerhalb beider jeder besondere Zweig zur Spezialität besonderer Gruppen von Arbeitenden geworden ist.[1] In der Gesellschaft gibt es also Landwirte und Förster, Fischer und Gärtner, Schuster und Schneider, Schlosser und Schmiede, Spinner und Weber usw. usw. Die Gesellschaft im ganzen ist also mit jeder Art Arbeit und jeder Art Produkten versehen. Diese Produkte kommen in größerer oder geringerer Menge allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute, denn die Arbeit ist eine gemeinschaftliche, sie ist geteilt und von vornherein planmäßig organisiert durch irgendeine Autorität - sei dies das despotische Gesetz der Regierung oder sei dies die Leibeigenschaft oder irgendeine andere Form der Organisation. Zur Vereinfachung stellen wir uns indes vor, dies sei eine kommunistische Gemeinde mit Gemeineigentum, wie wir sie bereits an dem indischen Beispiel kennengelernt haben. Wir setzen nur für einen Augenblick voraus, daß die Arbeitsteilung innerhalb dieser Gemeinde viel weiter gediehen ist, als dies geschichtlich der Wahrheit entspricht, und nehmen an, daß ein Teil der Gemeindemitglieder sich ausschließlich der Landwirtschaft widmet, während jede andere Art Arbeit von speziellen Handwerkern verfertigt wird. Die Wirtschaft dieser Gemeinde ist uns ganz klar: Es sind die Gemeindemitglieder selbst, die alle den Grund und Boden und sämtliche Produktionsmittel gemeinsam besitzen, ihr gemeinsamer Wille bestimmt auch, was, wann und wieviel von jedem Produkt hergestellt werden soll. Die fertige Produktenmasse wird aber, da sie gleichfalls allen zusammen gehört, unter alle nach Maßgabe der Bedürfnisse verteilt. Nun aber stellen wir uns vor, daß in dieser so beschaffenen kommunistischen Gemeinde eines schönen Morgens das Gemeineigentum aufgehört hat zu existieren und damit auch die gemeinsame Arbeit und der gemeinsame Wille, der sie regelte. Die einmal erreichte hochentwickelte Arbeitsteilung ist selbstverständlich geblieben. |699| Der Schuster sitzt an seinem Leisten, der Bäcker hat nichts und versteht nichts als seinen Backofen, der Schmied hat nur die Schmiede und weiß nur den Hammer zu schwingen usw. usw. Aber die Kette, die früher alle diese Spezialarbeiten zu einer gemeinschaftlichen Arbeit, zur gesellschaftlichen Wirtschaft verband, ist gesprungen. Nun ist jeder auf sich gestellt: der Landwirt, der Schuster, der Bäcker, der Schlosser, der Weber usw. Jeder ist ein völlig freier, unabhängiger Mensch. Die Gemeinde hat ihm nichts mehr zu sagen, niemand kann ihm befehlen, für die Gesamtheit zu arbeiten, niemand kümmert sich aber auch um seine Bedürfnisse. Die Gemeinde, die ein Ganzes war, ist in einzelne Atome, in einzelne Partikelchen zerfallen, wie ein in tausend Splitter zertrümmerter Spiegel; jeder Mensch schwebt nun gewissermaßen wie ein losgelöstes Stäubchen in der Luft und mag sehen, wie er auskommt. Was wird nun die Gemeinde, in der eine solche Katastrophe über Nacht vorgegangen ist, was werden all die sich selbst überlassenen Menschen am andern Morgen anfangen? Sicher ist zunächst das eine: Sie werden am andern Morgen vor allem - arbeiten, genau wie sie es früher getan. Denn solange ohne Arbeit die menschlichen Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, muß jede menschliche Gesellschaft arbeiten. Welche Umwälzungen und Veränderungen in der Gesellschaft auch vorgehen, die Arbeit kann nicht einen Augenblick ruhen. Die ehemaligen Mitglieder des kommunistischen Gemeinwesens würden also, auch nachdem ihre Bande untereinander abgebrochen und sie ganz sich selbst überlassen bleiben, vor allem jeder weiterarbeiten, und zwar, da wir annahmen, daß jede Arbeit bereits spezialisiert ist, würde jeder nur diejenige Arbeit weiterbetreiben können, die sein Fach geworden ist und deren Produktionsmittel er hat: Der Schuster würde Stiefel machen, der Bäcker Brot backen, der Weber Gewebe anfertigen, der Landmann Korn bauen usw. Nun entsteht aber sofort die Schwierigkeit: Jeder von diesen Produzenten verfertigt zwar äußerst wichtige und direkt notwendige Gegenstände des Gebrauchs, jeder von den Spezialisten: der Schuster, der Bäcker, der Schmied, der Weber waren noch gestern alle gleich hochgeschätzte nützliche Mitglieder der Gemeinschaft, ohne die sie nicht auskommen konnte. Jeder hatte seinen wichtigen Platz im Ganzen. Nun existiert aber das Ganze nicht mehr, jeder existiert vielmehr nur für sich. Aber keiner kann für sich allein, von den Produkten seiner Arbeit allein leben. Der Schuster kann nicht seine Stiefel verzehren, der Bäcker kann nicht mit Brot alle seine Bedürfnisse befriedigen, der Landmann könnte mit reichstem Kornspeicher vor Hunger und Kälte umkommen, wenn er nichts als Korn hätte. Jeder hat mannigfaltige Bedürfnisse und kann selbst |700| nur ein einzelnes befriedigen. Jeder braucht deshalb ein gewisses Maß von den Produkten aller anderen, Sie sind alle aufeinander angewiesen. Wie aber dies bewerkstelligen, da wir wissen, daß zwischen den einzelnen Produzenten keinerlei Beziehungen und Bande mehr existieren. Der Schuster braucht dringend Brot vom Bäcker, er hat aber keine Mittel, sich dieses Brot zu verschaffen, er kann den Bäcker nicht zwingen, ihm Brot zu liefern, da sie beide gleich freie und unabhängige Menschen sind. Wenn er die Frucht der Arbeit des Bäckers sich zugute kommen lassen will, so kann dies offenbar nur auf Gegenseitigkeit beruhen, das heißt, wenn er dem Bäcker seinerseits ein diesem nützliches Produkt liefert. Aber der Bäcker braucht ebenfalls Produkte des Schuhmachers und befindet sich genau in derselben Lage wie dieser. Der Grund zur Gegenseitigkeit ist damit gegeben. Der Schuhmacher gibt dem Bäcker Stiefel, um dafür von diesem Brot zu bekommen. Schuster und Bäcker tauschen ihre Produkte ein und können jetzt beide ihre Bedürfnisse befriedigen. So ergibt es sich, daß bei hochentwickelter Arbeitsteilung, bei gänzlicher Unabhängigkeit der Produzenten voneinander und bei dem Mangel jeglicher Organisation zwischen ihnen der einzige Weg, um die Produkte verschiedener Arbeiten allen zugänglich zu machen - der Austausch ist. Der Schuster, der Bäcker, der Landwirt, der Spinner, der Weber, der Schlosser - alle tauschen gegenseitig ihre Produkte ein und befriedigen so ihre allseitigen Bedürfnisse. Der Austausch hat somit ein neues Band zwischen den zersplitterten, vereinzelten, voneinandergerissenen Privatproduzenten geschaffen. Die Arbeit und die Konsumtion, das Leben der zertrümmerten Gemeinde kann wieder losgehen, denn der Austausch hat ihnen die Möglichkeit gegeben, wieder alle füreinander zu arbeiten, das heißt, er hat die gesellschaftliche Zusammenarbeit, die gesellschaftliche Produktion auch unter der Form der zersplitterten Privatproduktion wieder ermöglicht.
Aber es ist dies eben eine ganz neue, eigentümliche Art und Weise der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, und wir müssen sie uns näher betrachten. Jeder einzelne Mensch arbeitet jetzt auf eigene Faust, er produziert für eigene Rechnung, nach eigenem Willen und Ermessen. Er muß jetzt, um zu leben, Produkte herstellen, die er nicht braucht, sondern die andere brauchen. Jeder arbeitet somit für andere. Das ist an sich nichts Besonderes und nichts Neues. Auch in der kommunistischen Gemeinde arbeiteten alle füreinander. Das Besondere aber ist, daß jetzt jeder sein Produkt an andere nur im Tausch hergibt und Produkte anderer nur auf dem Wege des Tausches kriegen kann. Jeder muß jetzt also, um zu Produkten, die er braucht, zu gelangen, durch eigene Arbeit Produkte herstellen, die zum |701| Austausch bestimmt sind. Der Schuster muß fortwährend Schuhe produzieren, die er selbst gar nicht braucht, die für ihn ganz nutzlos, weggeworfene Arbeit sind. Sie haben für ihn nur den Nutzen und Zweck, daß er sie gegen andere Produkte, die er braucht, eintauschen kann. Er produziert also im voraus seine Stiefel zum Austausch, das heißt, er produziert sie als Ware. Jeder kann jetzt nur dann seine Bedürfnisse befriedigen, das heißt zu Produkten, die andere hergestellt haben, gelangen, wenn er seinerseits mit einem Produkt erscheint, das andere brauchen und das er zu diesem Zweck mit seiner Arbeit hergestellt hat, das heißt, jeder gelangt zu seinem Anteil an den Produkten aller anderen, an dem gesellschaftlichen Produkt, wenn er selbst mit einer Ware erscheint. Das von ihm selbst für den Tausch verfertigte Produkt ist jetzt sein Forderungsrecht auf einen Teil des gesellschaftlichen Gesamtprodukts. Das gesellschaftliche Gesamtprodukt existiert jetzt zwar nicht mehr in der früheren Form wie in der kommunistischen Gemeinde, wo es direkt in seiner Masse, in seiner Ganzheit den Reichtum der Gemeinde darstellte und dann erst verteilt wurde. Das heißt, es wurde von allen gemeinschaftlich für die Rechnung der Gemeinde und unter der Leitung der Gemeinde gearbeitet, und was produziert war, kam also schon zur Welt als gesellschaftliches Produkt. Dann folgte erst die Verteilung des gemeinsamen Produkts an die einzelnen, und dann trat das Produkt erst in den Privatgebrauch einzelner Gemeindemitglieder. Jetzt wird umgekehrt verfahren: Jeder produziert als einzelner Privatmensch auf eigene Faust, und erst die fertigen Produkte bilden im Austausch zusammen eine Summe, die man als gesellschaftlichen Reichtum betrachten kann. Der Anteil eines jeden, sowohl an der gesellschaftlichen Arbeit wie an dem gesellschaftlichen Reichtum, wird nun dargestellt durch die spezielle Ware, die er mir seiner Arbeit angefertigt und zum Tausch mit anderen gebracht hat. Der Anteil eines jeden an der gesellschaftlichen Gesamtarbeit wird jetzt also nicht mehr in einem gewissen Quantum ihm im voraus zugewiesener Arbeit dargestellt, sondern im fertigen Produkt, in der Ware, die er nach seinem freien Ermessen liefert.[2] Wenn er nicht will, braucht er gar nicht zu arbeiten, er kann nur spazierengehen, niemand wird ihn dafür schelten oder in Strafe nehmen, wie dies wohl mit den renitenten Mitgliedern der kommunistischen Gemeinde geschah, wo Faulenzer wahrscheinlich vom »Haupteinwohner«, dem Haupt der Gemeinde, scharf ermahnt oder auch auf der Gemeindeversammlung der öffentlichen Verachtung preisgegeben wurden. Jetzt ist jeder Mensch |702| sein unumschränkter freier Herr, die Gemeinde existiert nicht als Autorität. Aber wenn er nicht arbeitet, kriegt er auch nichts zum Tausch von den Produkten der Arbeit anderer. Andererseits aber ist heute der einzelne gar nicht einmal sicher, wenn er noch so fleißig arbeitet, daß er zu den ihm notwendigen Lebensmitteln kommt; denn niemand ist ja gezwungen, ihm solche zu geben, auch gegen seine Produkte. Der Tausch kommt nur dann zustande, wenn ein gegenseitiges Bedürfnis vorliegt. Braucht man augenblicklich keine Stiefel in der Gemeinde, so kann der Schuster noch so fleißig arbeiten und noch so feine Ware anfertigen, niemand wird sie ihm abnehmen und ihm dafür Brot, Fleisch usw. geben, und so bleibt er ohne das Nötigste zum Leben. Hier kommt wieder ein springender Unterschied im Vergleich zu den früheren kommunistischen Verhältnissen in der Gemeinde zum Ausdruck. Die Gemeinde hielt sich den Schuster, weil man in der Gemeinde überhaupt Stiefel braucht. Wieviel Stiefel er anfertigen sollte, das wurde ihm von der zuständigen Gemeindebehörde gesagt, er arbeitete ja nur gewissermaßen als Gemeindediener, als Gemeindebeamter, und ein jeder war genau in derselben Lage. Hielt sich aber die Gemeinde einen Schuster, so mußte sie ihn selbstverständlich auch ernähren. Er kriegte seinen Anteil wie jeder andere aus dem gemeinschaftlichen Reichtum, und dieser sein Anteil stand in keinem direkten Zusammenhang mit seinem Anteil an der Arbeit. Freilich mußte er arbeiten, und er wurde ernährt, weil er arbeitete, weil er ein nützliches Mitglied der Gemeinde war. Aber ob er gerade in diesem Monat mehr oder weniger Stiefel anzufertigen hatte oder zeitweise gar keine, deshalb kriegte er seine Lebensmittel, seinen Anteil an Gemeindemitteln genau so. Jetzt kriegt er nur in dem Maße, wie man seine Arbeit braucht, das heißt in dem Maße, wie sein Produkt im Tausch von anderen genommen wird, Zug um Zug. Jeder arbeitet also drauflos, wie er will, soviel er will, woran er will. Die einzige Bestätigung, daß er das Richtige produziert hat, was die Gesellschaft braucht, daß er tatsächlich gesellschaftlich notwendige Arbeit verrichtet hat, liegt in der Tatsache, daß sein Produkt von anderen genommen wird. Also nicht jede noch so fleißige und gediegene Arbeit hat jetzt von vornherein einen Zweck und einen Wert vom gesellschaftlichen Standpunkt; nur ein Produkt, das austauschbar ist, hat Wert; ein Produkt, das von niemand in Tausch genommen wird, und mag es noch so gediegen sein, ist wertlos, weggeworfene Arbeit.
Jetzt muß also jeder, um sich an den Früchten der gesellschaftlichen Produktion, also auch an der gesellschaftlichen Arbeit zu beteiligen, Waren produzieren. Daß seine Arbeit aber als tatsächlich gesellschaftlich not- |703| wendige Arbeit anerkannt wird, sagt ihm niemand, sondern das erfährt er daraus, daß seine Ware in Tausch genommen, daß sie austauschbar wird. Sein Anteil an der Arbeit und an dem Produkt der Gesamtheit wird also nur dadurch gesichert, daß seinen Produkten der Stempel der gesellschaftlich notwendigen Arbeit aufgedrückt wird, der Stempel des Tauschwerts.[3] Bleibt sein Produkt unaustauschbar, dann hat er ein wertloses Produkt geschaffen, dann war seine Arbeit gesellschaftlich überflüssig. Dann ist er auch nur ein Privatschuster, der zum eigenen Zeitvertreib Leder verschnitt und Stiefel pfuschte, ein Privatschuster, der gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft steht; denn die Gesellschaft will nichts von seinem Produkt wissen, und deshalb sind ihm auch die Produkte der Gesellschaft unzugänglich. Hat unser Schuster heute seine Stiefel glücklich umgetauscht und hat er Lebensmittel dafür gekriegt, so kann er nicht nur gesättigt und gekleidet, sondern auch stolz heimkehren: Er ist als nützliches Mitglied der Gesellschaft, seine Arbeit als notwendige Arbeit anerkannt worden. Kehrt er aber mit seinen Stiefeln zurück, weil sie ihm niemand abnehmen wollte, dann hat er allen Grund, melancholisch zu sein, denn er bleibt ohne Suppe, und zugleich hat man ihm dadurch gewissermaßen, wenn auch mit kaltem Schweigen, erklärt; Die Gesellschaft braucht dich nicht, Freundchen, deine Arbeit war gar nicht notwendig, du [bist] also ein überflüssiger Mensch, der sich ruhig aufhängen kann. Den Anschluß an die Gesellschaft gibt unserm Schuster also jedesmal nur ein Paar austauschbare Stiefel, allgemein gesprochen, eine Ware von Tauschwert. Aber genau in derselben Lage wie unser Schuster befinden sich der Bäcker, der Weber, der Landmann - alle.[4] Die Gesellschaft, die den Schuster bald anerkennt, bald schnöde und kausstößt, ist ja nur die Summe all dieser einzelnen Warenproduzenten, die gegenseitig für den Tausch arbeiten. Die Summe gesellschaftliche Arbeit und gesellschaftliches Produkt, die auf diese Weise zustande kommt, gleicht jetzt deshalb gar nicht der Summe aller Arbeiten und Produkte einzelner Mitglieder, wie das früher bei der kommunistischen, gemeinschaftlichen Wirtschaft der Fall war. Denn jetzt kann dieser |704| oder jener fleißig arbeiten, und sein Produkt ist doch, wenn es keinen Abnehmer zum Tausch findet, ein weggeworfenes, zählt gar nicht. Nur der Austausch bestimmt, was für Arbeiten und was für Produkte notwendig waren, also gesellschaftlich zählen. Es ist gleichsam, als wenn alle erst zu Hause blindlings darauflosarbeiteten, dann ihre fertigen Privatprodukte auf einen Platz zusammenschleppten und hier die Sachen gesichtet werden, dann wird erst ein Stempel aufgedrückt: Dies und das waren gesellschaftlich notwendige Arbeiten und werden im Tausch angenommen, jenes aber waren nicht notwendige, sind also null und nichtig. Dieser Stempel besagt: Dies und das hat Wert, jenes ist wertlos und bleibt Privatvergnügen respektive -pech des Betreffenden.
Fassen wir die verschiedenen Einzelheiten zusammen, so ergibt sich, daß durch die bloße Tatsache des Warenaustausches, ohne jede andere Einmischung oder Regelung, dreierlei wichtige Verhältnisse bestimmt werden:
1. der Anteil jedes Mitgliedes der Gesellschaft an der gesellschaftlichen Arbeit. Dieser Anteil, nach Art und Maß, wird ihm nicht mehr von vornherein von der Gemeinde zugewiesen, sondern nur post festum, am fertigen Produkt akzeptiert oder nicht akzeptiert. Früher war jedes einzelne Paar Stiefel, das unser Schuster anfertigte, unmittelbar und im voraus, schon auf dem Leisten, gesellschaftliche Arbeit. Jetzt sind seine Stiefel zunächst Privatarbeit, die niemanden was angeht. Dann werden sie erst auf dem Tauschmarkt gesichtet, und nur insofern sie in Tausch genommen werden, wird die auf sie verwendete Arbeit des Schusters als gesellschaftliche Arbeit anerkannt. Anders bleiben [sie] seine Privatarbeit und sind wertlos;
2. der Anteil jedes Mitglieds am gesellschaftlichen Reichtum. Vorher kriegte der Schuster seinen Teil der in der Gemeinde verfertigten Produkte bei der Verteilung. Dies wurde bemessen: erstens nach der allgemeinen Wohlhabenheit, nach dem jedesmaligen Stand des Vermögens der Gemeinde, zweitens nach den Bedürfnissen der Mitglieder. Eine zahlreichere Familie mußte mehr kriegen als eine wenig zahlreiche. Bei der Verteilung der eroberten Ländereien unter den germanischen Stämmen, die zur Zeit der Völkerwanderung nach Europa kamen und auf den Trümmern des römischen Reiches sich niederließen, spielte auch die Größe der Familie eine Rolle. Die russische Gemeinde, die noch in den achtziger Jahren hie und da Umteilungen ihres Gemeineigentums vornahm, zog dabei die Kopfzahl, die Zahl der »Mäuler« jedes Hausstandes in Betracht. Bei der allgemeinen Herrschaft des Austausches fällt jedes Verhältnis zwischen dem Bedürfnis des Gesellschaftsmitgliedes und seinem Anteil an |705| Reichtum weg sowie zwischen diesem Anteil und der Größe des Gesamtreichtums der Gesellschaft. Jetzt wird nur das von jedem Mitglied auf dem Warenmarkt präsentierte Produkt, und nur sofern es im Tausch als gesellschaftlich notwendiges akzeptiert wird, maßgebend für seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum;
3. endlich wird durch den Mechanismus des Austausches selbst auch die gesellschaftliche Arbeitsteilung geregelt. Früher bestimmte die Gemeinde, sie brauche soundso viele Ackerknechte, soundso viele Schuster, Bäcker, Schlosser und Schmiede usw. Die richtige Proportion zwischen den einzelnen Gewerben wie die Sorge dafür, daß alle nötigen Arbeitszweige ausgeübt werden, lag der Gemeinde und ihren gewählten Beamten ob. Sie kennen auch wohl den berühmten Fall, wo die Vertreter einer Dorfgemeinde darum baten, man solle einen zum Tode verurteilten Schlosser freilassen und dafür lieber einen Schmied hängen, deren es zwei im Dorfe gab. Das ist ein glänzendes Beispiel der öffentlichen Sorge für die richtige Arbeitsteilung in einem Gemeinwesen. (Übrigens sahen wir, wie im Mittelalter Kaiser Karl ausdrücklich die Arten der Handwerker und ihre Zahl für seine Güter vorschrieb. Wir sahen auch, wie in den mittelalterlichen Städten das Zunftreglement dafür sorgte, daß die einzelnen Gewerbe im richtigen Maß ausgeübt wurden, und lud fehlende Handwerker von auswärts in die Stadt ein.) Bei freiem und unbeschränktem Austausch wird dies durch den Austausch selbst geregelt. Jetzt heißt unseren Schuster niemand schustern. Will er, so kann er Seifenblasen produzieren oder papierene Drachen. Er kann sich aber auch, wenn es ihm einfällt, statt auf Stiefelmachen aufs Weben, Spinnen oder auf die Goldschmiedekunst verlegen. Niemand sagt ihm, daß ihn die Gesellschaft überhaupt und daß sie ihn speziell als Schuster braucht. Freilich braucht die Gesellschaft im allgemeinen Schuhwerk. Aber wieviel Schuster dieses Bedürfnis decken können, bestimmt jetzt niemand. Ob also der gegebene Schuster nötig ist, ob nicht vielmehr ein Weber oder Schmied fehlt, das sagt unserm Schuster niemand. Aber was ihm niemand sagt, das erfährt er wieder einzig und allein auf dem Warenmarkt. Werden seine Schuhe in Tausch genommen, so weiß er, daß die Gesellschaft ihn als Schuster braucht. Und umgekehrt. Er kann die beste Ware anfertigen, wenn aber andere Schuster genügend den Bedarf gedeckt haben, so ist seine Ware überflüssig. Wiederholt sich das, so muß er sein Gewerbe aufgeben. Der überzählige Schuster wird von der Gesellschaft in derselben mechanischen Weise ausgeschieden, wie etwa überflüssige Stoffe aus dem tierischen Körper ausgeschieden werden: indem seine Arbeit nicht als gesellschaftliche Arbeit akzeptiert, er also auf |706| den Aussterbeetat gesetzt wird. Derselbe Zwang, austauschbare Produkte für andere als Existenzbedingung für sich zu produzieren, wird unseren ausrangierten Schuster schließlich in ein anderes Gewerbe führen, wo ein starker und nicht genügend gedeckter Bedarf existiert, sagen wir zur Weberei oder zum Rollfuhrwerk, und so wird hier der Fehlbetrag an Arbeitskräften ausgefüllt. Auf dieselbe Weise wird aber nicht nur richtige Proportion unter den Gewerben eingehalten, sondern werden auch die Gewerbe selbst abgeschafft und neu geschaffen. Wenn ein Bedürfnis in der Gesellschaft aufhört oder durch andere Produkte als bisher gedeckt wird, so wird das nicht etwa, wie in der früheren kommunistischen Gemeinde, von den Mitgliedern festgestellt und entsprechend die Arbeitenden von einem Gewerbe zurückgezogen und anders verwendet. Es äußert sich dies einfach in der Unaustauschbarkeit der veralteten Produkte. Noch im 17. Jahrhundert bildeten die Perückenmacher ein Handwerk, das in keiner Stadt fehlen durfte. Nachdem jedoch die Mode gewechselt hat und man aufgehört hat, Perücken zu tragen, ist das Gewerbe einfach durch die Unverkäuflichkeit der Perücken eines natürlichen Todes gestorben. Mit der Verbreitung der Kanalisation in den modernen Städten und der Wasserleitungen, die jede Wohnung mechanisch mit Wasser versorgen, ist der Beruf der Wasserträger oder, wie sie in Wien hießen, Wasserer allmählich verschwunden. Jetzt nehmen wir einen umgekehrten Fall. Nehmen wir an, unser Schuster, dem die Gesellschaft durch systematische Verschmähung seiner Ware unzweideutig zu fühlen gegeben hat, daß er nicht gesellschaftlich notwendig ist, ist aber so eingebildet, trotzdem zu glauben, er sei ein unentbehrliches Glied der Menschheit, und will durchaus leben. Um zu leben, muß er, wie wir wissen und wie er weiß, Waren produzieren. Und nun erfindet er ein ganz neues Produkt, sagen wir, eine Bartbinde oder eine wundervolle Stiefelglanzwichse. Hat er damit einen neuen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszweig geschaffen, oder wird er, wie so viele große Entdeckergenies, verkannt bleiben? Das sagt ihm wieder niemand, und das erfährt er nur auf dem Warenmarkt. Wird sein neues Produkt dauernd in Tausch genommen, dann ist der neue Produktionszweig als gesellschaftlich notwendig anerkannt, und die gesellschaftliche Arbeitsteilung hat eine neue Erweiterung erfahren.[5]
Sie sehen, wir haben in unserer Gemeinde, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regiments, des Gemeineigentums, nach dem Verschwinden jeglicher Autorität im Wirtschaftsleben, jeglicher Organisation und Planmäßigkeit in der Arbeit, jeglicher Bande unter den ein- |707| zelnen Mitgliedern, die nach dieser Katastrophe am anderen Morgen zunächst ganz hoffnungslos aussah, allmählich wieder einen gewissen Zusammenhang, eine gewisse Ordnung erstehen lassen, und zwar auf eine ganz mechanische Weise. Ohne irgendeine Verständigung unter den einzelnen Mitgliedern, ohne Einmischung irgendeiner höheren Macht fügten sich nun schlecht oder recht die einzelnen Splitter zum Ganzen. Der Austausch selbst reguliert nun in mechanischer Weise, gleichsam wie eine Art Pumpwerk, die ganze Wirtschaft: Er schafft zwischen den einzelnen Produzenten ein Band, er zwingt sie zur Arbeit, er regelt ihre Arbeitsteilung, er bestimmt ihren Reichtum und die Verteilung dieses Reichtums. Der Austausch regiert die Gesellschaft. Es ist freilich eine etwas seltsame Ordnung, die jetzt vor unseren Augen erstanden ist. Die Gesellschaft sieht jetzt völlig anders aus als früher unter dem Regime der kommunistischen Gemeinde. Damals war sie ein kompaktes Ganzes, eine Art großer Familie, deren Glieder alle miteinander verwachsen waren und zäh zusammenhielten, ein fester Organismus, ja sogar ein verknöcherter, ziemlich unbeweglicher und starrer Organismus. Jetzt ist das ein äußerst lockeres Gebilde, in dem die Einzelglieder aller Augenblicke auseinanderfallen und sich wieder zusammenschließen. In der Tat, wir haben gesehen, daß unserem Schuster niemand sagt, daß er arbeiten, was er arbeiten, wieviel er arbeiten soll. Niemand fragt andererseits auch, ob er Lebensmittel braucht, welche er braucht, wieviel er braucht. Niemand kümmert sich um ihn, er existiert für die Gesellschaft nicht. Er meldet der Gesellschaft seine Existenz dadurch, daß er auf dem Warenmarkt mit einem Produkt seiner Arbeit erscheint. Seine Existenz wird akzeptiert, wenn seine Ware akzeptiert wird. Seine Arbeit wird für gesellschaftlich notwendig, er also als ihr arbeitendes Glied anerkannt, nur, insofern seine Stiefel in Tausch genommen werden. Er kriegt Lebensmittel aus dem gesellschaftlichen Reichtum nur, insofern seine Stiefel als Ware angenommen werden. Als Privatperson ist er also kein Gesellschaftsmitglied, ebenso seine Arbeit als Privatarbeit noch keine gesellschaftliche. Er wird erst Gesellschaftsmitglied nur, insofern er austauschbare Produkte, Waren, anfertigt, und nur, solange er solche hat und veräußern kann. Jedes ausgetauschte Paar Stiefel macht ihn zum Gesellschaftsmitglied, und jedes unverkäufliche Paar Stiefel schließt ihn wieder aus der Gesellschaft aus. Der Schuster hat also als solcher, als Mensch, keine Verbindung mit der Gesellschaft, seine Stiefel erst geben ihm Anschluß an die Gesellschaft, und dies nur, sofern sie Tauschwert haben, als Ware verkäuflich sind. Das ist also kein ständiger Anschluß, sondern ein immer erneuerter und immer wieder sich auflösen- |708| der. In derselben Lage sind aber neben unserem Schuster alle anderen Warenproduzenten. Und es gibt ja niemanden in der Gesellschaft als Warenproduzenten, denn nur im Tausch erlangt man Mittel zum Leben; um solche zu bekommen, muß also jeder mit Waren erscheinen. Das Warenproduzieren ist Lebensbedingung, und so ergibt sich ein Gesellschaftszustand, bei dem alle Menschen ihr Einzeldasein führen als ganz losgelöste Individuen, die füreinander nicht existieren und die nur durch ihre Waren fortwährend abwechselnd Anschluß an die Gesamtheit bekommen oder aus diesem Anschluß wieder ausgeschaltet werden. Es ist dies eine höchst lockere und bewegliche, im unaufhörlichen Wirbel ihrer Einzelglieder begriffene Gesellschaft.
Wir sehen, die Abschaffung der planmäßigen Wirtschaft und die Einführung des Austausches hat eine ganze Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen herbeigeführt, sie hat die Gesellschaft an Kopf und Gliedern umgewandelt.
Redaktionelle Anmerkungen
[1] Randnotiz R. L.: Wir werden nachher nachprüfen, ob oder inwieweit eine solche Hypothese zulässig ist. <=
[2] Randnotiz R. L.: Jetzt ist es aber nicht mehr die Gemeinde als Ganzes, mit der er zu tun hat und die stets ein Bedürfnis nach dem Produkt hat, sondern die einzelnen Mitglieder der Gemeinde. <=
[3] Randnotiz R. L.: Gesellschaftliche Arbeit 1. als Summe der Arbeiten der Gesellschaftsmitglieder füreinander, 2. in dem Sinne, daß das Produkt jedes einzelnen selbst ein Resultat der Zusammenarbeit vieler (Rohstoffe, Werkzeug), ja der ganzen Gesellschaft (Wissenschaft, Bedürfnis) ist. In beiden Fällen wird der gesellsch. Charakter durch den Austausch vermittelt. Das Wissen in der komm. Gemeinde, in der Fronwirtsch. u. jetzt. <=
[4] Randnotiz R. L.: NB. Überproduzierte, unaustauschbare Waren u. unverzehrbarer Vorrat in einer organisierten Gesellschaft: Komm. Gemeinde (Reis ind.), Sklavenwirtsch., Fronwirtsch. (Klöster im Mittelalt.). Unterschied: ersteres nicht gesellsch. Arbeit, letzteres wohl. Verhältnis zum »Bedürfnis« (zahlungsunfähige Bedürfnis einers. u. Überproduktion unverkäuflicher Waren andererseits), Überprod. in der sozialist. Gesellsch. <=
[5] Randnotiz R. L.: Baumwolle hat im 19. Jahrhundert die Leinwand verdrängt. <=
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