Unser Kampf | | | III. 1. | | | Inhalt | | | III. 3. | | | Rosa Luxemburg |
Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Einführung in die Nationalökonomie«, S. 708-716.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|708| Der Austausch als einziges wirtschaftliches Bindeglied zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft hat aber seine großen Schwierigkeiten und läuft nicht ohne weiteres so glatt ab, wie wir es bisher vorausgesetzt haben. Sehen wir uns die Sache näher an.
Solange wir nur den Tausch zwischen unseren zwei einzelnen Produzenten betrachteten, den Tausch zwischen dem Schuster und dem Bäcker, war die Sache ganz einfach. Der Schuster kann nicht von Stiefeln allein leben und braucht Brot; der Bäcker kann, wie schon die Heilige Schrift sagt, nicht von Brot allein leben und braucht zwar nicht das Wort Gottes im gegebenen Fall, aber Stiefel. Da hier völlige Gegenseitigkeit vorliegt, kommt der Tausch glatt zustande: Das Brot wandert aus der Hand des Bäckers, der es nicht braucht, in die Hand des Schusters; die Stiefel wandern aus der Schusterwerkstatt in den Bäckerladen. Die beiden sind befriedigt in ihren Bedürfnissen, und beide Privatarbeiten haben sich als gesellschaftlich notwendige bewährt. Aber wir nehmen ja an, dasselbe passierte nicht nur zwischen dem Schuster und Bäcker, sondern zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft, das heißt zwischen allen Warenproduzenten auf einmal. Und wir haben das Recht, dies anzunehmen, ja wir sind sogar genötigt, diese Annahme zu machen. Denn alle Mitglieder der Gesellschaft müssen ja leben, müssen verschiedenartige Bedürfnisse befriedigen. Die |709| Produktion der Gesellschaft - sagten wir früher - kann keinen Augenblick aufhören, weil die Konsumtion keinen Augenblick aufhört. Jetzt müssen wir hinzufügen: Da die Produktion nunmehr in einzelne selbständige Privatarbeiten zerrissen ist, von denen keine dem Menschen allein zu genügen vermag, so kann auch - soll die Konsumtion der Gesellschaft nicht aufhören - der Austausch keinen Augenblick aufhören. Alle tauschen also fortwährend mit allen ihre Produkte aus. Wie kommt das zustande? Kehren wir zu unserem Beispiel zurück. Der Schuster braucht nicht nur das Produkt des Bäckers, sondern er möchte von jeder anderen Ware eine gewisse Menge haben. Er braucht außer Brot noch Fleisch vom Schlächter, einen Rock vom Schneider, das Zeug zu einem Hemd vom Leinweber, einen Zylinderhut vom Hutmacher usw. Alle diese Waren kann er nur erlangen auf dem Wege des Tausches; was er aber seinerseits dagegen bieten kann, sind immer nur Stiefel. Für den Schuster haben demnach alle Produkte, die er zum Leben für sich braucht, zunächst die Form von Stiefeln. Wenn er Brot braucht, macht er zuerst ein Paar Stiefel; braucht er ein Hemd, so macht er Stiefel; will er einen Hut oder Zigarren, er macht vor allem immer nur Stiefel. In seiner Spezialarbeit, für ihn persönlich hat der gesamte gesellschaftliche Reichtum, der ihm zugänglich ist, die Form von Stiefeln. Erst durch den Austausch auf dem Warenmarkt kann seine Arbeit aus der engen Stiefelform in die mannigfaltige Form der Lebensmittel verwandelt werden, die er braucht. Damit aber diese Verwandlung tatsächlich zustande kommt, damit die viele fleißige Arbeit des Schusters, von der er sich allerlei Lebensfreuden verspricht, nicht in der Stiefelform stecken bleibt, dazu ist eine wichtige Bedingung nötig, die wir schon kennen: Es ist notwendig, daß gerade alle die anderen Produzenten, deren Arbeitsprodukte der Schuster braucht, auch seine Stiefel brauchen und in Tausch nehmen wollen. Der Schuster kriegte alle anderen Waren nur dann, wenn sein Produkt, die Stiefel, von allen anderen Produzenten begehrte Ware wäre. Er kriegte von allen anderen Waren jederzeit so viel, wie er durch seine Arbeit eintauschen kann, wenn seine Stiefel eine jederzeit von jedermann begehrte Ware, also eine unbeschränkt begehrte Ware wären. Schon vom Schuster allein wäre es offenbar eine ziemliche Anmaßung und ein unbegründeter Optimismus, zu glauben, daß seine spezielle Ware von einer so absoluten und unbeschränkten Unentbehrlichkeit für das Menschengeschlecht wäre. Die Sache verschlimmert sich aber dadurch, daß sich genau in derselben Lage wie der Schuster auch jeder andere Einzelproduzent befindet: der Bäcker, der Schlosser, der Weber, der Fleischer, der Hutmacher, der Landmann usw. |710| Jeder von ihnen begehrt und braucht die mannigfaltigsten Produkte, kann aber seinerseits nur ein einziges Produkt dagegen bieten. Jeder könnte seine Bedürfnisse nur dann vollauf befriedigen, wenn seine Spezialware jederzeit von jedermann in der Gesellschaft begehrt, in Tausch genommen wäre. Ein kurzes Nachdenken wird Ihnen sagen, daß dies eine pure Unmöglichkeit ist. Jedermann kann nicht jederzeit gleichermaßen alle Produkte begehren. Jedermann kann nicht jederzeit, also unbegrenzt, für Stiefel und Brot und Kleider und Schlösser und Garn und Hemden und Hüte und Bartbinden usw. usw. Abnehmer sein. Ist dies aber nicht der Fall, dann können sich nicht alle Produkte jederzeit gegen alle austauschen. Ist aber der Austausch als ständiges allseitiges Verhältnis unmöglich, dann ist die Befriedigung aller Bedürfnisse in der Gesellschaft unmöglich, dann ist die allseitige Arbeit in der Gesellschaft unmöglich, dann ist die Existenz der Gesellschaft unmöglich. Und so wären wir wieder in der Klemme und könnten die Aufgabe nicht lösen, die wir uns gestellt haben: nämlich die Erklärung, wie aus den vereinzelten, zersplitterten Privatproduzenten, die kein gemeinschaftlicher Arbeitsplan, keine Organisation, kein Band verbindet, doch eine gesellschaftliche Zusammenarbeit und eine Wirtschaft zustande kommen kann. Dez Austausch hat sich uns wohl als ein Mittel erwiesen, der dies alles, wenn auch auf seltsamen Wegen, regulieren kann. Dazu muß aber doch der Austausch erst überhaupt zustande kommen, als ein regelmäßiger Mechanismus funktionieren können. Jetzt finden wir aber im Austausch selbst schon beim ersten Schritt solche Schwierigkeiten, daß wir gar nicht einsehen, wie er überhaupt als ein allseitiges ständiges Geschäft vom Fleck kommen soll.
Nun, das Mittel, um diese Schwierigkeit zu überwinden und den gesellschaftlichen Austausch zu ermöglichen, ist gefunden worden. Zwar war es kein Kolumbus, der es entdeckte, aber die gesellschaftliche Erfahrung und die Gewohnheit haben unmerklich das Mittel im Austausch selbst gefunden, oder, wie man sagt, »das Leben« selbst hat die Aufgabe gelöst. Wie denn überhaupt das gesellschaftliche Leben zugleich mit Schwierigkeiten immer auch die Mittel zu ihrer Lösung schafft. Alle Waren können freilich unmöglich von allen jederzeit, das heißt in unbeschränktem Maße, begehrt werden. Aber es gab jederzeit und in jeder Gesellschaft irgendeine Ware, die als Grundstock der Existenz für jedermann wichtig, notwendig, nützlich war, die er deshalb jederzeit begehrte. Eine solche dürften allerdings kaum je gerade die Stiefel gewesen sein, so eitel ist die Menschheit nicht. Aber ein solches Produkt konnte zum Beispiel das Vieh sein. Mit Stiefeln allein kann man nicht auskommen, auch nicht mit Klei- |711| dern, mit Hüten, mit Korn allein. Aber Vieh als Grundlage der Wirtschaft sichert jedenfalls die Existenz der Gesellschaft: Es liefert Fleisch, Milch, Häute, Arbeitskraft usw. Besteht doch bei den zahlreichen Nomadenvölkern der ganze Reichtum überhaupt in Viehherden. Auch jetzt leben noch oder lebten wenigstens bis vor kurzem die Negerstämme Afrikas fast ausschließlich von Viehzucht. Nehmen wir nun an, daß in unserer Gemeinde das Vieh ein vielbegehrtes Stück Reichtum sei, wenn auch nicht einziges, sondern nur ein bevorzugtes unter vielen anderen Produkten, die in der Gesellschaft hergestellt werden. Der Viehzüchter verwendet hier seine Privatarbeit auf Produktion von Vieh, wie der Schuster auf Stiefel, der Weber auf Leinwand etc. Nur erfreut sich das Produkt des Viehzüchters nach unserer Annahme vor allen anderen einer allgemeinen unbeschränkten Beliebtheit, weil es allen am unentbehrlichsten und wichtigsten scheint. Vieh ist also für jedermann eine willkommene Bereicherung. Da wir dabei bleiben, daß in unserer Gesellschaft nichts und von niemand anders erlangt werden kann als im Wege des Tausches, so kann man sich offenbar auch das vielbegehrte Vieh vom Viehzüchter nicht anders verschaffen als durch den Austausch gegen ein anderes Arbeitsprodukt. Da aber, wie vorausgesetzt, jedermann gern Vieh haben möchte, so bedeutet dies, daß jedermann jederzeit seine Produkte gern gegen Vieh hingeben würde. Für Vieh kann man also auch umgekehrt jederzeit jede Art Produkte haben. Wer also Vieh hat, hat nur zu wählen, denn alles steht zu seiner Verfügung. Und gerade deshalb will umgekehrt jeder sein besonderes Arbeitsprodukt gegen keine anderen mehr als gegen Vieh eintauschen; denn hat er Vieh, dann hat er alles, weil er ja für Vieh jederzeit alles kriegt. Hat sich das nach einiger Zeit allgemein klar gezeigt und [ist das] zur Gewohnheit geworden, dann ist das Vieh allmählich zur allgemeinen Ware geworden, das heißt zu der einzigen unbeschränkt und allgemein begehrten, austauschbaren Ware. Und als solche allgemeine Ware vermittelt nun das Vieh den Austausch zwischen allen anderen Spezialwaren. Der Schuster nimmt nun für seine Stiefel vom Bäcker nicht etwa direkt Brot, sondern Vieh; denn er kann sich dann mit Vieh Brot und alles mögliche kaufen, wann er will. Auch kann ihm jetzt der Bäcker die Stiefel mit Vieh bezahlen, weil er ja für sein eigenes Produkt, das Brot, gleichfalls von anderen, vom Schlosser, Viehzüchter, Fleischer, Vieh gekriegt hat. Jeder nimmt für sein eigener Produkt von anderen Vieh und zahlt wieder mit selbigem Vieh, wenn er die Produkte anderer haben will. So geht das Vieh aus einer Hand in die andere, es vermittelt jeden Tausch, es ist das geistige Band zwischen den einzelnen Warenproduzenten. (Und |712| je mehr, je häufiger das Vieh so als Vermittler der Tauschgeschäfte aus einer Hand in die andere geht, um so mehr befestigt sich seine allgemeine unbeschränkte Beliebtheit, um so mehr wird es zu der einzigen jederzeit begehrten, austauschbaren Ware, zur allgemeinen Ware.)
Wir haben früher gesehen, jedes Arbeitsprodukt ist in einer Gesellschaft von zersplitterten Privatproduzenten ohne gemeinschaftlichen Arbeitsplan zunächst eine Privatarbeit. Ob diese Arbeit gesellschaftlich notwendig war, ob also ihr Produkt einen Wert hat und dem Arbeitenden einen Anteil an den Produkten der Gesamtheit sichert, ob es nicht vielmehr weggeworfene Arbeit war, das zeigt einzig und allein die Tatsache, daß dieses Produkt in Tausch genommen wird. Nun werden aber alle Produkte nur mehr gegen Vieh ausgetauscht. Jetzt gilt also ein Produkt nur insofern als gesellschaftlich notwendig, wenn es sich gegen Vieh austauschen läßt. Seine Tauschbarkeit gegen Vieh, seine Gleichwertigkeit mit Vieh gibt jetzt jedem Privatprodukt erst den Stempel der gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Wir haben weiter gesehen, daß erst durch den Warenaustausch und nur durch den Warenaustausch der vereinzelte, isolierte Privatmensch zum Gesellschaftsmitglied gestempelt wird. Jetzt müssen wir genauer sagen: durch Austausch gegen das Vieh. Das Vieh gilt nunmehr als die Verkörperung der gesellschaftlichen Arbeit, und somit ist das Vieh jetzt das einzige gesellschaftliche Band zwischen den Menschen.
Hier werden Sie sicher das innere Gefühl haben, nun hätten wir uns verrannt. Soweit war noch alles einigermaßen faßbar und ließ sich hören. Aber zum Schluß: Dieses Vieh als allgemeine Ware, Vieh als Verkörperung der gesellschaftlichen Arbeit, ja Vieh als einziges Band der menschlichen Gesellschaft - das ist schon eine verrückte Phantasie und dazu eine für das Menschengeschlecht beleidigende Phantasie! Doch Sie würden sich, wenn Sie etwas derartiges denken, ganz grundlos beleidigt fühlen. Denn so geringschätzig und von oben herab Sie auf das arme Vieh herabblicken mögen. so ist es jedenfalls klar, daß es dem Menschen viel näher steht und ihm doch gewissermaßen ähnlich, jedenfalls unendlich ähnlicher ist als, sagen wir, ein vom Boden aufgehobener Klumpen Lehm oder ein Kiesel oder ein Stückchen Eisen. Sie müssen zugeben, daß das Vieh jedenfalls schon eher würdig wäre, das lebendige gesellschaftliche Band zwischen den Menschen darzustellen, als ein toter Klumpen Metall. Und doch hat die Menschheit in diesem Fall gerade dem Metall den Vorzug gegeben. Denn in der früher beschriebenen Bedeutung und Rolle des Viehs im Austausch ist es nichts anderes als - das Geld. Wenn Sie sich nun das Geld durchaus nicht anders als in der Gestvon gemünzten Gold oder Silber- |713| stücken oder gar in papiernen Banknoten vorstellen können und wenn Sie dabei finden, daß dieses metallene oder papierne Geld als allgemeiner Vermittler des Verkehrs zwischen den Menschen, als gesellschaftliche Macht etwas Selbstverständliches sei, hingegen meine Darstellung, in der das Vieh diese Rolle spielte, eine Verrücktheit wäre, so beweist das nur, wie sehr Sie mit dem Kopf in den Vorstellungen der heutigen kapitalistischen Welt stecken.[1] So kommt Ihnen dar Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse, die noch halbwegs vernünftig ausschauen, ganz hirnverbrannt vor, und als selbstverständlich erscheint Ihnen das, was eine vollendete Verrücktheit ist. Tatsächlich hat das Geld in der Gestvon Vieh genau dieselben Funktionen wie das Metallgeld, und es ist nichts als Rücksichten der Bequemlichkeit, die uns dazu geführt haben, das Geld aus Metall zu machen. Das Vieh läßt sich freilich nicht so gut wechseln noch so genau in seinem Werte abmessen wie die gleichartigen metallenen Scheibchen, auch muß man zum Aufbewahren von Viehgeld ein gar zu großes Portemonnaie haben, das einem Viehstall ähnelt. Aber bevor die Menschheit auf die Idee kam, Geld aus Metall zu machen, war das Geld als unumgänglicher Vermittler des Austausches längst fertig. Denn Geld, die allgemeine Ware, ist eben jenes unentbehrliche Mittel, ohne das kein allgemeiner Austausch vom Fleck kommen, ohne das die aus Einzelproduzenten bestehende planlose gesellschaftliche Wirtschaft nicht existieren kann.
In der Tat, sehen wir uns jetzt die vielseitige Rolle des Viehs im Austausch an. Was hat das Vieh in der von uns untersuchten Gesellschaft zum Geld gemacht? Die Tatsache, daß es ein allseitig und jederzeit begehrtes Arbeitsprodukt war. Warum war aber das Vieh allzeit und allseitig begehrt. Wir haben gesagt: weil es ein äußerst nützliches Produkt war, das die Existenz als vielseitiges Lebensmittel sichern konnte. Ja, das stimmt im Anfang. Doch nachher, je mehr das Vieh im allgemeinen Austausch als Vermittler gebrauche wurde, desto mehr trat der unmittelbare Gebrauch des Viehs als Lebensmittel in den Hintergrund. Wer nun Vieh für sein Produkt zum Austausch kriegt, wird sich hüten, es zu schlachten und aufzuessen oder vor den Pflug zu spannen; das Vieh ist für ihn jetzt wertvoller als Mittel, jederzeit jede beliebige andere Ware zu kaufen. Der Empfänger von Vieh wird es also jetzt nicht als Lebensmittel verbrauchen, sondern als Tauschmittel zu weiteren Tauschgeschäften aufbewahren. Sie werden auch merken, daß der unmittelbare Gebrauch des Viehs bei der hochentwickelten Arbeitsteilung, die wir in der Gesellschaft voraussetzen, auch nicht gut angängig ist. Was soll zum Beispiel der |714| Schuster mit dem Vieh als solchem anfangen? Oder der Schlosser, der Weber, der Hutmacher, die keine Landwirtschaft treiben? Der unmittelbare Nutzen von Vieh als Lebensmittel wird also immer mehr außer acht gelassen, und alsdann wird das Vieh von allen jederzeit begehrt nicht mehr, weil es zum Schlachten, Melken oder Pflügen nützlich ist, sondern weil es jederzeit die Möglichkeit zum Tausch gegen jede beliebige Ware gibt. Es wird immer mehr zur spezifischen Nützlichkeit, zur Mission des Viehs, den Austausch zu ermöglichen, das heißt zur jederzeitigen Verwandlung der Privatprodukte in gesellschaftliche, der Privatarbeiten in gesellschaftliche Arbeiten zu dienen. Da das Vieh somit seinen Privatgebrauch, dem Menschen als Lebensmittel zu dienen, immer mehr vernachlässigt und sich ausschließlich seiner Funktion der ständigen Vermittlung zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft widmet, so hört es auch allmählich auf, Privatprodukt wie jedes andere zu sein, sondern es wird von vornherein, von Hause aus, sozusagen vom Stall aus, gesellschaftliches Produkt, und die Arbeit des Viehzüchters wird nun im Unterschied von allen anderen Arbeiten in der Gesellschaft zu der einzigen direkt gesellschaftlichen Arbeit. Alsdann wird auch das Vieh gezüchtet nicht mehr allein zum Verbrauch als Lebensmittel, sondern daneben direkt zu dem Zwecke, als gesellschaftliches Produkt, als allgemeine Ware, als Geld zu funktionieren. Freilich wird das Vieh zum geringeren Teil auch noch geschlachtet oder vor den Pflug gespannt, Aber dieser sozusagen Privatgebrauch, Privatcharakter des Viehs verschwindet immer mehr gegenüber seinem offiziellen Charakter als Geld. Und als solches spielt es nun eine hervorragende und vielseitige Rolle im Leben der Gesellschaft.
1. Es wird endgültig allgemeines und offiziell anerkanntes Tauschmittel. Nun tauscht niemand mehr Stiefel gegen Brot oder Hemden gegen Hufeisen. Wer das wollte, würde mit Achselzucken abgewiesen. Nur für Vieh kann man etwas kriegen. Dadurch aber zerfällt der frühere doppelseitige Tausch in zwei getrennte Geschäfte: in Verkauf und in Kauf. Früher, als der Schlosser mit dem Bäcker ihre Produkte austauschten, hat jeder durch den bloßen Händewechsel zugleich seine Ware verkauft und die des anderen gekauft. Kauf und Verkauf waren ein und dasselbe Geschäft. Jetzt, wenn der Schuster seine Stiefel verkauft, so kriegt er und nimmt er auch nur dafür Vieh. Er hat zunächst erst sein eigenes Produkt verkauft. Wann er wieder etwas kauft, was er kauft, ob er überhaupt kauft, bleibt eine Sache für sich. Genug, der Schuster ist sein Produkt losgeworden, er hat seine Arbeit jetzt aus der Stiefelform in die Viehform |715| verwandelt. Die Viehform aber, das ist, wie wir wissen. die offizielle gesellschaftliche Form der Arbeit, und in dieser kann sie der Schuster solange aufbewahren, wie er will; denn er weiß, er hat es jederzeit in der Hand, sein Arbeitsprodukt wieder aus der Viehform in jedes beliebige umzutauschen, das heißt, einen Kauf zu machen.
2. Ebendadurch wird aber das Vieh jetzt auch zum Mittel, den Reichtum aufzusparen und zu sammeln, es wird zum Schatzmittel. Solange der Schuster seine Produkte nur direkt gegen Lebensmittel eintauschte, arbeitete er auch nur so viel, wie er brauchte, um seine täglichen Bedürfnisse zu decken. Denn was härte es ihm genützt, Stiefel auf Vorrat zu arbeiten oder gar große Vorräte an Brot, Fleisch, Hemden, Hüten usw. zu machen? Gegenstände des täglichen Gebrauchs werden meistens durch längeres Aufbewahren und Lagern nur beschädigt oder gar unbrauchbar gemacht. Nun aber kann der Schuster das Vieh, das er für seine Arbeitsprodukte kriegt, aufbewahren als Mittel für die Zukunft. Nun erwacht in unserem Meister auch die Sparsamkeit, er sucht soviel wie möglich zu verkaufen, hütet sich aber, alles erhaltene Vieh wieder auszugeben; im Gegenteil, er sucht es anzusammeln, denn da das Vieh allezeit. zu allem gut ist, so spart und häuft er es für die Zukunft auf, und er läßt so die Früchte seiner Arbeit seinen Kindern als Erben.
3. Das Vieh wird zugleich auch zum Maß aller Werte und Arbeiten. Wenn der Schuster wissen will, was sein Paar Schuhe ihm im Tausch einbringen wird, was sein Produkt wert ist, so sagt er sich zum Beispiel: Ich kriege ein halbes Rind pro Paar, mein Paar Stiefel ist ein halbes Rind wert.
4. Endlich wird das Vieh auf diese Weise zum Inbegriff des Reichtums. Nun sagt man nicht: Dieser oder jener ist reich, weil er viel Korn, Herden, Kleider, Schmucksachen, Diener hat, sondern: Er hat viel Vieh. Man sagt: Hut ab vor dem Manne, er ist 10.000 Ochsen »gut«. Oder man sagt: Armer Kerl, er ist ganz viehlos!.
Wie Sie sehen, kann die Gesellschaft mit der Verbreitung des Viehs als allgemeines Tauschmittel nur noch in Viehformen denken. Man redet und träumt immerwährend von Vieh. Es bildet sich eine förmliche Viehanbetung und Viehbewunderung. Ein Mädchen wird am liebsten geheiratet, wenn seine Reize durch große Viehherden als Mitgift erhöht werden, auch wenn nicht ein Schweinezüchter, sondern ein Professor, ein Geistlicher oder ein Dichter der Freier ist. Vieh ist der Inbegriff des menschlichen Glückes. Auf das Vieh und seine wunderbare Macht werden Gedichte gemacht, um des Viehs wegen werden Verbrechen und Mordtaten ausgeübt. |716| Und die Menschen wiederholen kopfschüttelnd: »Vieh regiert die Welt.« Wenn Ihnen dieses Sprichwort unbekannt vorkommt, so übersetzen Sie's ins Lateinische; das altrömische Wort pecunia = Geld stammt von pecus = »Vieh« ab.[2]
Redaktionelle Anmerkungen
[1] Randnotiz R. L.: Aristoteles über Sklaverei. <=
[2] Randnotiz R. L.: Im Metallgeld vollendet die Abstreifung des Gebrauchswerts! <=
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