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Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Einführung in die Nationalökonomie«, S. 716-726.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie

III. [Die Warenproduktion] - 3.


|716| Unsere bisherige Untersuchung darüber, wie sich die Verhältnisse in der kommunistischen Gemeinde nach dem plötzlichen Zusammenbruch des gemeinschaftlichen Eigentums und des gemeinschaftlichen Arbeitsplans gestalten würden, ist Ihnen als ein rein theoretisches Spintisieren und ein Mit-der-Stange-im-Nebel-Herumfahren vorgekommen. In Wirklichkeit war das nichts anderes als eine abgekürzte und vereinfachte Darstellung der geschichtlichen Entstehung der Warenwirtschaft, die in ihren Grundzügen streng der historischen Wahrheit entspricht.

Einige Korrekturen müssen allerdings zu unserer Darstellung gemacht werden:

1. Der Vorgang, den wir als eine plötzlich eingetretene Katastrophe geschildert hatten, die die kommunistische Gesellschaft über Nacht zertrümmert und in eine Gesellschaft freier Privatproduzenten verwandelt hat, dieser Vorgang hat in Wirklichkeit Jahrtausende gebraucht. Freilich ist auch die Vorstellung von einer solchen Verwandlung als einer plötzlichen und gewaltsamen Katastrophe durchaus nicht reine Phantasie. Diese Vorstellung entspricht der Wirklichkeit überall da, wo primitive urkommunistische Völkerstämme mit anderen Völkern, die bereits auf hoher kapitalistischer Entwicklungsstufe stehen, in Berührung kommen. Solche Fälle haben wir bei den meisten Entdeckungen und Eroberungen der sogenannten wilden und halbzivilisierten Länder durch Europäer: bei der Entdeckung Amerikas durch die Spanier, bei der Eroberung Indiens durch die Holländer, Ostindiens durch die Engländer, dasselbe bei der Besitzergreifung der Engländer, Holländer, Deutscher, in Afrika. In den meisten dieser Fälle war der plötzliche Einfall der Europäer in diese Länder von einer Katastrophe im Leben der dortigen primitiven Völker begleitet. Was wir als einen Vorgang von 24 Stunden angenommen haben, braucht in der Tat manchmal nur wenige Jahrzehnte. Die Eroberung des Landes durch einen europäischen Staat oder auch nur die Ansiedlung einiger europäischer Handelskolonien in diesen Ländern hat sehr bald zur Folge eine gewaltsame Abschaffung des Gemeineigentums an Grund und Boden, |717| die Zerteilung und Zerstückelung des Grundeigentums in Privateigentum, die Wegnahme der Viehherden. die Umkrempelung sämtlicher hergebrachter Verhältnisse der Gesellschaft, nur daß das Resultat dabei meistens nicht, wie wir angenommen, die Verwandlung der kommunistischen Gemeinde in eine Gesellschaft freier Privatproduzenten mit Warenaustausch ist. Denn das aufgelöste Gemeineigentum wird nicht zum Privateigentum der Eingeborenen, sondern zum gestohlenen und geraubten Gut der europäischen Eindringlinge gemacht, und die Eingeborenen selbst, die ihrer alten Existenzformen und Existenzmittel beraubt sind, werden entweder zu Lohnsklaven oder einfach zu Sklaven der europäischen Kaufleute gemacht oder aber, wo beides nicht angängig - direkt ausgerottet. Für alle primiciven Völker in den Kolonialländern ist also der Übergang von den primitiven kommunistischen Zuständen zu den modernen kapitalistischen tatsächlich als eine plötzliche Katastrophe. als ein unsägliches Unglück voll furchtbarster Leiden eingetreten. Bei der europäischen Bevölkerung jedoch war es nicht eine Katastrophe, sondern ein langsamer, allmählicher und unmerklicher Prozeß, der lange Jahrhunderte dauerte. Die Griechen und die Römer treten in die Geschichte noch mit dem Gemeineigentum ein. Die alten Germanen, die bald nach Christi Geburt vom Norden nach Süden dringen, das römische Reich zerstören und sich in Europa ansiedeln, bringen noch die kommunistische Urgemeinde mit und halten sie eine Zeitlang aufrecht. Die ausgebildete Warenwirtschaft der europäischen Völker aber, wie wir sie geschildert haben, kommt erst am Ausgang des Mittelalters, im 15. und 16, Jahrhundert, auf.

2. Die zweite Korrektur, die an unserer Darstellung zu machen wäre, ergibt sich aus der ersten. Wir haben angenommen, daß bereits im Schoße der kommunistischen Gemeinde alle möglichen Arbeitszweige spezialisiert und gesondert waren, das heißt, daß die Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft bis zu einem sehr hohen Grad der Entwicklung gediehen war, so daß bei dem Eintritt jener Katastrophe, die das Gemeineigentum abgeschafft und die Privatproduktion mit Austausch herbeigeführt hatte, die Arbeitsteilung als Grundlage des Austausches bereits fertig war. Diese Annahme ist geschichtlich unzutreffend. Innerhalb der primitiven Gesellschaftszustände ist, solange das Gemeineigentum besteht, die Arbeitsteilung nur sehr wenig, erst keimartig entwickelt. Wir haben das an dem Beispiel der indischen Dorfgemeinde gesehen. Nur etwa 12 Personen waren aus der Klasse der Gemeindeeinwohner ausgeschieden und mit besonderen Berufen betraut, darunter eigentliche Handwerker nur sechs: der Schmied. der Zimmermann, der Töpfer, der Barbier, der Wäscher und der |718| Silberschmied. Die meisten Handwerksarbeiten, wie das Spinnen, Weben, Kleidermachen, Backen, Schlachten, Wurstmachen usw., das alles wurde von jeder Familie als Nebenbeschäftigung neben der landwirtschaftlichen Hauptarbeit zu Hause betrieben, wie dies auch jetzt noch in vielen Dörfern in Rußland der Fall ist, insofern die Bevölkerung nicht bereits in den Austausch, in den Handel hineingezogen ist. Die Arbeitsteilung, das heißt die Absonderung einzelner Arbeitszweige als ausschließliche Spezialberufe, kann sich nämlich erst richtig entwickeln, wenn das Privateigentum und der Austausch bereits da sind. Erst das Privateigentum und der Austausch ermöglichen die Herausbildung besonderer Spezialberufe. Denn erst, wenn ein Produzent Aussicht hat, seine Produkte regelmäßig gegen andere auszutauschen, hat es für ihn Zweck, überhaupt sich der Spezialproduktion zu widmen. Und erst das Geld gibt jedem Produzenten die Möglichkeit, die Frucht seines Fleißes aufzubewahren und aufzuhäufen und dadurch auch den Antrieb zur möglichst ausgedehnten regelmäßigen Produktion für den Markt. Andererseits aber wird dieses Produzieren für den Markt und das Aufhäufen des Geldes nur dann einen Zweck für den Produzenten haben, wenn sein Produkt und dessen Erlös sein Privateigentum sind. In der kommunistischen Urgemeinde ist aber das Privateigentum gerade ausgeschlossen, und die Geschichte zeigt uns, daß das Privateigentum erst infolge des Austausches und der Spezialisierung der Arbeiten entstanden ist. So stellt es sich heraus, daß die Ausbildung der Spezialberufe, das heiß; die hochentwickelte Arbeitsteilung, nur bei Privateigentum und bei entwickeltem Austausch möglich ist. Andererseits aber ist es klar, daß der Austausch selbst nur dann möglich ist, wenn die Arbeitsteilung bereits vorhanden ist; denn welchen Zweck hätte der Austausch unter Produzenten, die alle ein und dasselbe produzieren? Erst wenn X zum Beispiel nur Stiefel produziert, während Y nur Brot bäckt, hat es Sinn und Zweck, daß die beiden ihre Produkte austauschen. So stoßen wir auf einen seltsamen Widerspruch: Der Austausch ist nur möglich bei Privateigentum und bei entwickelter Arbeitsteilung, die Arbeitsteilung kann aber erst infolge des Austausches und auf Grundlage des Privateigentums entstehen, das Privateigentum seinerseits entsteht aber erst durch den Austausch. Es ist dies, wenn Sie näher zusehen, sogar ein doppelter Widerspruch: Die Arbeitsteilung muß vor dem Austausch da sein, und der Austausch soll zugleich vor der Arbeitsteilung schon da sein; ferner: Das Privateigentum ist die Voraussetzung für die Arbeitsteilung und den Austausch, es kann sich aber selbst nicht anders entwickeln als erst aus der Arbeitsteilung und dem Austausch. Wie ist eine solch Verschlingung möglich. Wir drehen uns da |719| offenbar im Kreise, und schon der erste Schritt aus der primitiven kommunistischen Urgemeinde heraus erscheint als ein Unmöglichkeit. Die menschliche Gesellschaft war da anscheinend in einen Widerspruch eingeklemmt, von dessen Lösung der weitere Fortgang der Entwicklung abhing. Nun, die Ausweglosigkeit ist nur eine scheinbare. Ein Widerspruch ist freilich für [die] einzelnen Menschen im gewöhnlichen Leben etwas Unübersteigbares, im Leben der Gesellschaft im ganzer jedoch finden Sie bei näherem Zusehen solche Widersprüche auf Schritt und Tritt. Was heute als Ursache einer anderen Erscheinung auftritt, ist morgen ihre Wirkung und umgekehrt, ohne daß dieser fortwährende Wechsel in den Beziehungen das Leben der Gesellschaft aufhält. Im Gegenteil. Der Einzelmensch kann, wo er in seinem Privatleben vor einem Widerspruch steht, keinen Schritt weiter machen. Es wird in bezug auf das tägliche Leben sogar so sehr angenommen, der Widerspruch sei etwas Unmögliches, daß ein Angeklagter, der sich vor dem Gericht in Widersprüche verwickelt. dadurch schon als der Unwahrheit überführt gilt, und die Widersprüche können ihn unter Umständen ins Zuchthaus oder gar an den Galgen bringen. Die menschliche Gesellschaft im ganzen verwickelt sich aber fortwährend in Widersprüche, sie geht aber daran nicht zugrunde, sondern tritt umgekehrt erst dann in Bewegung, wo sie in Widersprüchen steckt. Der Widerspruch im Leben der Gesellschaft löst sich nämlich immer in Entwicklung, in neue Fortschritte der Kultur auf. Der große Philosoph Hegel sagt: »Der Widerspruch ist das Fortleitende.«[1] Und diese Bewegung in lauter Widersprüchen ist eben die wirkliche Art der Entwicklung der menschlichen Geschichte. Auch im gegebenen Fall, der uns hier interessiert, das heißt bei dem Übergang der kommunistischen Gesellschaft zum Privateigentum mit Arbeitsteilung und Austausch, hat sich der Widerspruch, den wir gefunden haben, in eine besondere Entwicklung, in einen langen geschichtlichen Vorgang aufgelöst. Dieser Vorgang jedoch war, abgesehen von den von uns angebrachten Korrekturen, im Wesen genau der von uns gegebenen Darstellung entsprechend.

Vor allem beginnt der Austausch tatsächlich schon in den primitiven Urzuständen mit Gemeineigentum, und zwar, wie wir es auch angenommen haben, in der Form von Tauschhandel, das heißt Produkt direkt gegen Produkt. Den Tauschhandel finden wir schon auf sehr frühen Kulturstufen der Menschheit. Da jedoch zum Austausch, wie dargelegt, das Privateigentum der beiden Austauschenden gehört und ein solches innerhalb der pri- |720| mitiven Gemeinde unbekannt ist, so vollzog sich auch der erste Tauschhandel nicht innerhalb der Gemeinde oder des Stammes, sondern außerhalb, nicht zwischen den Mitgliedern eines und desselben Stammes, einer und derselben Gemeinde, sondern zwischen verschiedenen Stämmen und Gemeinden, wo sie miteinander in Berührung kamen. Und zwar ist es hier nicht etwa ein einzelnes Mitglied eines Stammes, das mit einem anderen Stammfremden handelt, sondern es sind die Stämme, die Gemeinden als ganze, die miteinander in Tauschhandel treten, wobei sie durch ihre Oberhäupter handeln. Jene landläufige Vorstellung der Gelehrten der Nationalökonomie von einem Urjäger und Urfischer, die in der ersten Morgendämmerung der menschlichen Kultur in den Urwäldern Amerikas miteinander ihre Fische und ihr Wild austauschen, ist also ein doppeltes historisches Trugbild. Nicht nur existierten in den Urzeiten, wie wir gesehen, keine isolierten, für sich lebenden und arbeitenden Individuen, sondern auch ein Tauschhandel zwischen Einzelmensch und Einzelmensch hat sich erst um Jahrtausende später herausgebildet. Zunächst kennt die Geschichte nur miteinander handeltreibende Stämme und Völker. »Wilde Völker«, sagt Lafitau in seinem Werke über die amerikanischen Wilden, »treiben fortwährend Tausch miteinander. Ihr Handel hat das Gemeinsame mit dem Handel des Altertums, daß er einen unmittelbaren Austausch von Produkten gegen Produkt darstellt. Jedes von diesen Völkern besitzt etwas, was die anderen nicht haben, und der Handel überträgt alle diese Dinge von einem Volk zum anderen. Dahin gehören Korn, Töpferwaren, Pelze, Tabak, Decken, Kähne, wildes Rindvieh, Hausgerätschaften, Amulette, Baumwolle, mit einem Wort alles, was zum Unterhdes menschlichen Lebens gebraucht wird ... Ihr Handel wird mit dem Haupt des Stammes geführt, welches das ganze Volk vertritt.«(1)

Ferner, wenn wir bei unserer früheren Darlegung den Austausch mit einem Einzelfall - dem Tausch zwischen Schuster und Bäcker - begannen und dies als etwas Zufälliges behandelten, so entspricht auch dies der strengen historischen Wahrheit. Im Anfang ist der Austausch zwischen den einzelnen wilden Stämmen und Völkern etwas rein Zufälliges, Unregelmäßiges; auch hängt es von den mehr zufälligen Begegnungen und Berührungen unter ihnen ab. Deshalb sehen wir den regelmäßigen Tauschhandel am frühesten bei den Nomadenvölkern aufkommen, weil sie durch |721| ihren häufigen Ortswechsel am häufigsten mit anderen Völkern in Berührung kamen.[2] Solange der Austausch zufällig ist, wird auch nur der Überfluß an Produkten, das, was nach der Deckung des eigenen Bedarfs bei dem Stamme oder der Gemeinde übrigbleibt, im Tausch gegen anderes geboten. Mit der Zeit jedoch, je häufiger sich der zufällige Austausch wiederholt, um so mehr wird er zur Gewohnheit, dann zur Regel, und nach und nach beginnt man direkt für den Austausch die Produkte herzustellen. Die Stämme und Völker spezialisieren also zum Zwecke des Austausches immer mehr irgendeinen oder einige Produktionszweige. Die Arbeitsteilung zwischen den Stämmen und Gemeinden entwickelt sich. Dabei bleibt der Handel noch sehr lange reiner Tauschhandel, das heißt direkter Austausch von Produkt gegen Produkt. In vielen Gegenden der Vereinigten Staaten war noch Ende des 18. Jahrhunderts der Tauschhandel verbreitet. In Maryland setzte die gesetzgebende Versammlung die Proportionen fest, in denen Tabak, Öl, Schweinefleisch und Brot gegeneinander ausgetauscht werden sollten. In Corrientes liefen noch im Jahre 1815 hausierende Jungen auf den Straßen mit dem Ausruf: »Salz für Kerzen, Tabak für Brot!« In den russischen Dörfern wurde noch bis in die neunziger Jahre, zum Teil jetzt noch von umherziehenden Hausierern, sogenannten Prasols, mit den Bauern einfacher Tauschhandel getrieben. Allerlei Kleinigkeiten, wie Nadeln, Fingerhüte, Bänder, Knöpfe, Pfeifer., Seife usw., rauschen sie gegen Borsten, Daunen, Hasenfelle und dergleichen aus. Ähnlichen Handel treiben in Rußland die mit ihren Wagen herumziehenden Töpfer, Blechschmiede usw., die ihre eigenen Erzeugnisse gegen Korn, Flachs, Hanf, Leinwand usw. tauschen.(2) Mit der Häufigkeit und Regelmäßigkeit der Austauschgelegenheiten sondert sich aber schon sehr früh von selbst in jeder Gegend, bei jedem Stamme diejenige Ware aus, die am leichtesten herzustellen ist, also am häufigsten in den Tausch gebracht werden kann, oder aber umgekehrt diejenige, die am meisten fehlt, also allgemein begehrt wird. Eine solche Rolle spielen zum Beispiel das Salz und die Datteln in der Wüste Sahara, der Zucker im englischen Westindien, Tabak in Virginien und Maryland, der sogenannte Ziegeltee (ein hartes Gemisch von Teeblättern und Fett in Form von Ziegeln) in Sibirien, das Elfenbein bei den Afrikanegern, Kakaobohnen im alten Mexiko. Somit führen schon die klimatischen und Bodenbesonderheiten der verschiedenen |722| Gegenden zur Aussonderung einer »allgemeinen Ware«, die als Grundlage des ganzen Handels und Vermittlerin aller Tauschgeschäfte zu dienen geeignet ist. Dasselbe ergibt sich mit der späteren Entwicklung aus der besonderen Beschäftigung jedes Stammes. Bei den Jägervölkern ist das Wild selbstverständlich die von ihnen für alle möglichen Produkte gebotene »allgemeine Ware«. Im Handel der Hudsonbaigesellschaft spielen diese Rolle die Biberfelle. Bei den Fischerstämmen sind Fische die natürlichen Vermittler aller Tauschgeschäfte. Nach der Erzählung eines französischen Reisenden wird auf den Shetlandinseln sogar beim Kauf eines Theaterbilletts der Rest in Fischen herausgegeben.[3] Die Notwendigkeit einer solchen allgemein beliebten Ware als allgemeiner Tauschvermittlerin wird manchmal sehr empfindlich fühlbar. So beschreibt zum Beispiel der bekannte Afrikareisende Samuel Baker seinen Tauschhandel mit den Negerstämmen im Innern Afrikas: »Er wird immer schwerer, sich die Nahrungsmittel zu verschaffen. Die Eingeborenen verkaufen Mehl nicht anders als im Tausch gegen Fleisch. Deshalb verschaffen wir es uns folgendermaßen: Im Tausch gegen Kleider und Schuhe kaufen wir bei türkischen Kaufleuten eiserne 'Hämmer' (Spaten); für Hämmer kaufen wir einen Ochsen, dieser wird in ein entlegenes Dorf geführt, geschlachtet, und das Fleisch wird ungefähr in 100 Stücke zerteilt. Mit diesem Fleisch und mit drei großen Körben setzten sich meine Leute auf die Erde, die Eingeborenen kommen dann und schütten für jedes Stück Fleisch in die Körbe ein kleines Körbchen Mehl. Dies ein Beispiel des mühevollen mittelafrikanischen Mehlhandels.«(3)

Mit dem Übergang zur Viehzucht wird das Vieh allgemeine Ware im Tauschhandel und allgemeiner Wertmaßstab. Dies war der Fall bei den alten Griechen, wie sie uns Homer beschreibt. Indem er zum Beispiel die Ausrüstung jedes Helden genau schildert und einschätzt, sagt er, daß das Rüstzeug des Glaukus 100 Rinder kostete, dasjenige von Diomedes 9 Rinder. Neben dem Vieh dienten aber zu jener Zeit bei den Griechen auch noch einige andere Produkte als Geld. Derselbe Homer sagt, daß bei der Belagerung Trojas für den Wein aus Lemnos bald Felle, bald Ochsen, bald Kupfer oder Eisen gezahlt wurde. Bei den alten Römern war, wie gesagt, der Begriff »Geld« mit Vieh identisch: ebenso gbei den alten Germanen das Vieh als allgemeine Ware. Mit dem Übergang zur Land- |723| wirtschaft bekommen nun die Metalle, Eisen und Kupfer, eine hervorragende Bedeutung in der Wirtschaft, zum Teil als Stoff für Herstellung der Waffen, noch mehr aber als Stoff für landwirtschaftliche Arbeitsmittel. Das Metall wird mit seiner vermehrten Herstellung und verbreitetem Gebrauch allgemeine Ware und verdrängt das Vieh aus dieser Rolle. Zunächst wird es allgemeine Ware, eben weil es wegen seinem natürlichen Gebrauch - als Stoff für allerlei Werkzeuge - allgemein nützlich und begehrt ist. Auf diesem Stadium wird es auch als roher Stoff, in Barren und nur nach Gewicht, im Handel verwendet. Bei den Griechen war das Eisen, bei den Römern das Kupfer im allgemeinen Gebrauch, bei den Chinesen ein Gemisch von Kupfer und Blei. Erst viel später kommen in Gebrauch und auch in Handelsverkehr die sogenannten Edelmetalle: Silber und Gold. Doch auch diese werden noch sehr lange in ihrem rohen Zustande, ungemünzt. nach Gewicht, in Handel genommen.[4] Hier ist also noch sichtbar die Herkunft der allgemeinen Ware, der Geldware von einem einfachen zu irgendeinem Gebrauch nützlichen Produkt. Das einfache Stück Silber, das heute im Handel für Mehl gegeben wurde, mochte morgen noch direkt zur Anfertigung eines glänzenden Ritterschildes verwendet werden. Der ausschließliche Gebrauch des Edelmetalles als Geld, das heißt das gemünzte Geld war weder bei den alten Hindu noch bei den Ägyptern, noch auch bei den Chinesen bekannt. Auch die alten Juden kannten nur erst die Metallstücke nach Gewicht. So zahlte Abraham, wie es im Alten Testament heißt, als er bei Hebron die Grabstätte für Sara kaufte, wohlgewogene 400 Schekel Handelssilber. Man nimmt an, daß das Geldmünzen erst im 10. oder gar im 8. Jahrhundert v. Chr. aufgekommen ist, und zwar war dies zuerst von Griechen eingeführt. Von diesen lernten es die Römer, die ihre ersten Silber und Goldmünzen im 3. Jahrhundert v. Chr. verfertigten.[5] Mit dem Prägen von Geldstücken aus Gold und Silber erreicht die lange, Jahrtausende zählende Geschichte der Entwicklung des Austausches ihre vollste und reifste, endgültige Form.

Wir haben gesagt, daß das Geld, das heißt die allgemeine Ware, bereits ganz ausgebildet war, bevor man überhaupt die Metalle zum Geldanfertigen verwendete. Schon in der Viehform zum Beispiel hat das Geld tatsächlich genau dieselben Funktionen im Austausch wie heute die Goldmünze: als Vermittler der Tauschgeschäfte, als Wertmesser, als Schatz- |724| mittel, als Verkörperung des Reichtums. Allein erst in der Form des Metallgeldes kommt die Bestimmung des Geldes auch in seiner äußeren Erscheinung zum Ausdruck. Wir haben gesehen: Der Austausch beginnt mit dem einfachen Tausch von zwei beliebigen Arbeitsprodukten. Er kommt zustande, weil der eine Produzent - die eine Gemeinde oder der Stamm - nicht ohne die Arbeitsprodukte anderer gut auskommen kann. Sie helfen einander mit ihren Arbeitserzeugnissen aus, indem sie sie tauschen. Mit der Häufigkeit und Regelmäßigkeit solcher Tauschgeschäfte stellt sich je ein Produkt als besonders bevorzugt, weil allgemein begehrt, heraus, und dieses wird zum Vermittler aller Tauschgeschäfte, zur allgemeinen Ware. An sich könnte jedes Arbeitsprodukt zu einer solchen Ware, das heißt zum Gelde werden: Stiefel oder Hüte, Leinwand oder Wolle, Vieh oder Korn, und wir sehen auch, daß verschiedenste Waren zeitweise diese Rolle spielten. Welche Ware gerade gewählt wird, hängt nur von den besonderen Bedürfnissen oder von der besonderen Beschäftigung des Volkes ab.

Das Vieh wird zunächst allgemein beliebt als nützliches Produkt, als Lebensmittel. Mit der0 Zeit aber wird es hauptsächlich als Geld begehrt und genommen. Denn als solches dient das Vieh jedermann dazu, die Früchte seiner Arbeit in einer solchen Form aufzubewahren, die jederzeit austauschbar gegen jedes beliebige Arbeitsprodukt der Gesellschaft ist. Das Vieh, sagten wir, ist im Unterschied von allen anderen Privatprodukten das einzige direkt gesellschaftliche, weil jederzeit unbeschränkt austauschbare Produkt. Aber im Vieh kommt doch noch die Doppelnatur der Geldware stark zum Ausdruck: Ein Blick auf das Vieh zeigt, daß es doch, trotzdem es allgemeine Ware, gesellschaftliches Produkt ist, zugleich ein einfaches Lebensmittel ist, das man schlachten und verzehren kann, ein gewöhnliches Produkt der menschlichen Arbeit, der Arbeit des Hirtenvolks. In der Goldmünze hingegen ist schon jede Erinnerung an die Herkunft des Geldes von einem einfachen Produkt verschwunden. Das geprägte Goldscheibchen ist an sich zu nichts anderem tauglich, hat gar keinen anderen Gebrauch, denn als Tauschmittel, als allgemeine Ware zu dienen. Es ist überhaupt nur noch Ware insofern, als es auch wie jede andere Ware Produkt der menschlichen Arbeit ist, der Arbeit des Goldgräbers und des Goldschmieds, aber es hat jeden Privatgebrauch als Lebensmittel verloren, es ist eben nichts als ein Stück menschliche Arbeit ohne jede für das Privatleben nützliche und gebräuchliche Form, es hat gar keinen Gebrauch mehr als privates Lebensmittel, Nahrung, Kleidung oder Schmucksache oder was es sei, es hat nur noch den rein gesellschaftlichen Gebrauch zum |725| Zweck: als Vermittler im Austausch anderer Waren zu dienen. Und deshalb gerade kommt erst in dem an sich sinnlosen und zwecklosen Gegenstand: in der Goldmünze, der rein gesellschaftliche Charakter des Geldes, der allgemeinen Ware, zum reinsten und reifsten Ausdruck.

Die Folgen der endgültigen Ausbildung des Geldes in der Metallform sind: starke Verbreitung des Handels und Verfall aller Gesellschaftsverhältnisse, die früher nicht auf den Handel, sondern auf den Selbstverbrauch gerichtet waren.[6] Die alte kommunistische Gemeinde wird durch den Handel zerrüttet, denn dieser beschleunigt die Ungleichheit des Vermögens unter ihren Mitgliedern, den Zusammenbruch des Gemeineigentums und schließlich den Zerfall der Gemeinde selbst.[7] Die kleine freie Bauernwirtschaft, die zuerst nur für sich alles produziert und nur den Überfluß verkauft, um das Geld in den Strumpf zu tun, wird nach und nach, namentlich durch die Einführung der Geldsteuern, gezwungen, schließlich ihr ganzes Produkt zu verkaufen, um hinterher nicht nur Nahrung, Kleidung, Hausgeräte, sondern sogar das Korn zur Aussaat zu kaufen. Das Beispiel einer solchen Verwandlung der Bauernwirtschaft aus einer für den Eigenbedarf produzierenden in eine für den Markt produzierende und dadurch ganz ruinierte haben wir erst vor unseren Augen in den letzten Jahrzehnten in Rußland erlebt. In der altertümlichen Sklaverei bringt der Handel eine tiefe Veränderung mit sich. Solange die Sklaven nur zur Hauswirtschaft gebraucht wurden, zu landwirtschaftlichen oder Handwerksarbeiten für den Bedarf des Herrn und seiner Familie, trug die Sklaverei noch einen patriarchalischen, milden Charakter. Erst wie die Griechen und später die Römer in den Geschmack des Geldes gekommen waren und für den Handel produzieren ließen, beginnt eine unmenschliche Schinderei der Sklaven, die schließlich zu den Massenaufständen der Sklaven führte, die zwar an sich ganz aussichtslos, aber Vorboten und deutliche Zeichen waren, daß die Sklaverei sich überlebt, eine unhaltbare Ordnung geworden war.[8] Genau dasselbe wiederholt sich im Mittelalter mit den Fronverhältnissen. Zuerst waren sie ein Schutzverhältnis, für das die Bauernschaft dem adeligen Schutzherrn eine ganz bestimmte mäßige Abgabe in Naturprodukten oder Arbeitsleistung schuldete, die zum Eigenbedarf der Herrschaft dienten. Später, als der Adel die Annehmlichkeiten des Geldes kennengelernt hatte, wurden die Leistungen und Abgaben zum |726| Zwecke des Handels immer mehr erhöht, das Fronverhältnis wird zur Leibeigenschaft, der Bauer wird geschunden bis zu den äußersten Grenzen. Zum Schluß führt dieselbe Verbreitung des Handels und Herrschaft des Geldes zur Ablösung der Naturalleistungen aus der Leibeigenschaft in Geldabgaben. Damit hat aber auch die Stunde der ganzen überlebten Fronverhältnisse geschlagen.[9]

Endlich bringt der Handel im Mittelalter die freien Städte zu Macht und Reichtum, führt aber dadurch auch noch die Zersetzung und den Verfall des alten Zunfthandwerks herbei. Sehr früh wird durch das Aufkommen des Metallgeldes namentlich der Welthandel aufgebracht. Schon im Altertum widmen sich besondere Völker wie die Phönizier der Kaufmannsrolle zwischen den Völkern, um auf diesem Wege Geldmassen an sich zu bringen und Reichtümer in Geldform zu sammeln. Im Mittelalter fällt diese Rolle den freien Städten, zuerst den italienischen Städten zu. Nach der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Ostindien am Ende des 15. Jahrhunderts erfährt der Welthandel eine plötzliche große Erweiterung: Die neuen Länder boten sowohl neue Produkte für den Handel wie neue Goldminen, das heiße Geldstoff.[10] Nach der enormen Goldeinfuhr aus Amerika im 16. Jahrhundert kommen die norddeutschen Städte - hauptsächlich die Hansastädte - durch den Welthandel zu enormen Reichtümern, dann Holland und England. Damit wird in den europäischen Städten und zum großen Teil auch auf dem flachen Lande die Warenwirtschaft, das heißt die Produktion für den Austausch, zur herrschenden Form des Wirtschaftslebens. So beginnt der Austausch aus leisen, unmerklichen Anfängen schon in grauer Vorzeit an den Grenzen der wilden kommunistischen Stämme, rankt sich empor und wächst neben allen sukzessiven planmäßigen Wirtschaftsorganisationen, wie freie einfache Bauernwirtschaft, orientalische Despotie, antike Sklaverei, mittelalterliches Fronverhältnis, städtisches Zunftregiment, um sie nacheinander alle zu zerfressen und zum Zusammenbruch bringen zu helfen und schließlich die völlig anarchische, planlose Wirtschaft isolierter Privatproduzenten als alleinige und allgemein herrschende Wirtschaftsform zur Herrschaft zu bringen.[11]


Fußnoten von Rosa Luxemburg

(1) [Lafitau:] Moeurs des sauvages américaines comparées aux moeurs des premiers temps, [Paris] 1724, Bd. II, S. 322/323. zit. nach: Sieber [N. J. Siber: Dawid Rikardo i Karl Marks b ich obstschestwenno - ekonomischeskich issledowanijach. In: Isbrannyje ekonomitscheskije proiswedenija w dwuch tomach, Bd. 1, Moskau 1959], S. 245. <=

(2) Sieber [N. J. Siber: Dawid Rikardo i Karl Marks b ich obstschestwenno - ekonomischeskich issledowanijach. In: Isbrannyje ekonomitscheskije proiswedenija w dwuch tomach, Bd. 1, Moskau 1959], S. 245/246. <=

(3) [Samuel Baker:] Reise zu den Nilquellen [Der Albert Nyanza, das große Becken des Nil und die Erforschung der Nilquellen, Erster Band, Jena 1867], S. 3 <=


Redaktionelle Anmerkungen

[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, Zweiter Teil, hrsg. von Georg Lassau, Berlin 1971, S. 31 32. Siehe auch: S. 48-62. <=

[2] Randnotiz R. L.: NB. Vorhist. Funde! Vor allem Nomadentum. <=

[3] Randnotiz R. L.: Sieber [N. J. Siber: Dawid Rikardo i Karl Marks b ich obstschestwenno - ekonomischeskich issledowanijach. In: Isbrannyje ekonomitscheskije proiswedenija w dwuch tomach, Bd. 1, Moskau 1959], S. 246. <=

[4] Randnotiz R. L.: Warum Edelmetalle bei der Rolle geblieben? <=

[5] Randnotiz R. L.: Sieber [N. J. Siber: Dawid Rikardo i Karl Marks b ich obstschestwenno - ekonomischeskich issledowanijach. In: Isbrannyje ekonomitscheskije proiswedenija w dwuch tomach, Bd. 1, Moskau 1959], S. 247. <=

[6] Randnotiz R. L.: NB. Ersatz der Nutzmetalle durch Edelmetalle nb. Gold. <=

[7] Randnotiz R. L.: Ausführlicher. <=

[8] Randnotiz R. L.: Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1. S. 197. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 249/250] <=

[9] Randnotiz R. L.: Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1. S. 198-200. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 250-253] <=

[10] Randnotiz R. L.: NB. Fauxfrais [Unkosten] der planlosen Gesellschaft; im Geld muß sie sozusagen noch einmal ihren ges. Reichtum herstellen. <=

[11] Randnotiz R. L.: NB. Kulturbedeutung des Handels seit Prähistorie. intern. Zusammenhang! <=


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