Unser Kampf | IV. 2. | Inhalt | IV. 4. | Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Einführung in die Nationalökonomie«, S. 747-751.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie

IV. Lohnarbeit - 3.


|747| Die zweite Methode des Kapitalisten, den Mehrwert zu vergößern, ist die Herabdrückung des Arbeitslohns. Auch der Lohn ist, wie der Arbeitstag, an sich an keine bestimmten Grenzen gebunden. Vor allem, wenn wir vom Arbeitslohn sprechen, so ist zu unterscheiden das Geld, das der Arbeiter vom Unternehmer erhält, von der Menge Lebensmittel, die er dafür kriegt. Wissen wir vom Lohn eines Arbeiters nur, daß er zum Beispiel 2 M täglich beträgt, so wissen wir soviel wie gar nichts. Denn für dieselben 2 M kann man in Zeiten der Teuerung viel weniger Lebensmittel kaufen als in Zeiten der Billigkeit; in einem Lande bedeutet dasselbe Zweimarkstück eine andere Lebenshaltung als im anderen, ja fast in jeder Gegend eines Landes. Der Arbeiter kann auch mehr Geld als früher als Lohn bekommen und gleichwohl nicht besser, sondern ebensoschlecht oder gar noch schlechter leben als früher. Der wirkliche, reelle Lohn ist also die Summe Lebensmittel, die der Arbeiter kriegt, während Geldlohn nur der nominelle Lohn ist. Ist also der Lohn nur der Geldaus- |748| druck des Werts der Arbeitskraft, so wird dieser Wert in Wirklichkeit durch die Menge Arbeit dargestellt, die auf die notwendigen Lebensmittel des Arbeiters verwendet wird. Aber was sind »notwendige Lebensmittel«? Abgesehen von individuellen Unterschieden zwischen einem Arbeiter und dem anderen, die keine Rolle spielen, beweist schon die verschiedene Lebenshaltung der Arbeiterklasse in verschiedenen Ländern und Zeiten, daß der Begriff »notwendige Lebensmittel« ein sehr veränderlicher und dehnbarer ist. Der bessergestellte englische Arbeiter von heute betrachtet den täglichen Gebrauch von Beefsteaks als notwendig zum Leben, der chinesische Kuli lebt von einer Handvoll Reis. Bei der Dehnbarkeit des Begriffs der »notwendigen Lebensmittel« entwickelt sich über die Größe des Arbeitslohnes ein ähnlicher Kampf zwischen Kapitalist und Arbeiter wie über die Länge des Arbeitstages. Der Kapitalist steht als Warenkäufer auf seinem Standpunkt, indem er erklärt: Es ist zwar ganz richtig, daß ich die Ware Arbeitskraft wie jeder ehrliche Käufer nach ihrem Wert bezahlen muß, aber was ist der Wert der Arbeitskraft? Die notwendigen Lebensmittel? Nun wohl, ich gebe meinem Arbeiter genausoviel, wie zum Leben notwendig; was aber absolut notwendig ist, um einen Menschen am Leben zu erhalten, das sagt erstens die Wissenschaft, die Physiologie, und zweitens die allgemeine Erfahrung. Und es versteht sich von selbst, daß ich genau aufs Haar dieses Minimum gebe; denn würde ich einen Pfennig mehr geben, so wäre ich nicht ein ehrlicher Käufer, sondern ein Narr, ein Philanthrop, der aus eigener Tasche demjenigen Geschenke macht, von dem er eine Ware gekauft hat; ich schenke meinem Schuster oder Zigarrenhändler auch nicht einen Pfennig und suche ihre Ware so billig wie möglich zu kaufen, Ebenso suche ich die Arbeitskraft so billig wie möglich zu kaufen, und wir sind vollkommen quitt, wenn ich meinem Arbeiter das knappste Minimum gebe, womit er sich am Leben erhalten kann. Der Kapitalist ist hier vom Standpunkte der Warenproduktion vollkommen in seinem Rechte. Aber nicht minder im Reche ist der Arbeiter, der als Warenverkäufer entgegnet: Freilich habe ich nicht mehr zu beanspruchen als den tatsächlichen Wert meiner Ware Arbeitskraft. Aber ich verlange eben, daß du mir diesen vollen Wert auch wirklich bezahlst. Ich will also nicht mehr als die notwendigen Lebensmittel. Aber was sind notwendige Lebensmittel.? Du sagst darauf gebe Antwort die Wissenschaft der Physiologie und die Erfahrung, welche zeigen, was ein Mensch zum mindesten braucht, um am Leben erhalten zu werden. Du unterschiebst also bei dem Begriff: »notwendige Lebensmittel« die absolute, die physiologische Notwendigkeit. Dies ist aber gegen das Gesetz des Warenaus- |749| tausches. Denn du weißt so gut wie ich, daß für den Wert jeder Ware auf dem Markte die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendige Arbeit maßgebend ist. Wenn dein Schuster dir ein Paar Stiefel bringt und dafür 20 M verlangt, weil er vier Tage lang daran arbeitete, so wirst du ihm sagen: »Solche Stiefel kriege ich aus der Fabrik schon für 12 M, denn dort wird mit Maschine das Paar in einem Tag gemacht. Ihre viertägige Arbeit war also - da es bereits üblich ist, die Stiefel maschinell zu produzieren - nicht notwendig, gesellschaftlich genommen, wenn sie auch für Sie notwendig war, weil Sie nicht mit Maschinen arbeiten. Aber ich kann dafür nichts und zahle Ihnen nur für die gesellschaftlich notwendige Arbeit, sage 12 M.« Wenn du so beim Kauf von Stiefeln verfahren würdest, so mußt du auch mir beim Kauf meiner Ware Arbeitskraft die gesellschaftlich notwendigen Kosten ihrer Erhaltung bezahlen. Gesellschaftlich notwendig ist aber zu meinem Leben das alles, was in unserem Lande und im jetzigen Zeitalter als der gewohnte Unterheines Mannes meiner Klasse gilt. Mit einem Wort, du mußt mir nicht das physiologisch notwendige Minimum, das mich knapp am Leben erhält, wie einem Tier geben, sondern das gesellschaftlich übliche Minimum, das mir meine gewohnte Lebenshaltung sichert. Dann erst hast du als ehrlicher Käufer den Wert der Ware bezahlt, sonst kaufst du unter ihrem Wert.

Wir sehen, daß der Arbeiter vom reinen Warenstandpunkt mindestens ebenso recht hat wie der Kapitalist. Aber diesen Standpunkt macht er erst mit der Zeit geltend, denn er kann ihn nur geltend machen - als gesellschaftliche Klasse, das heißt als Ganzes, als Organisation. Erst mit der Entstehung der Gewerkschaften und der Arbeiterpartei beginnt der Arbeiter den Verkauf seiner Arbeitskraft zu ihrem Wert, das heißt, seine Lebenserhaltung als soziale und kulturelle Notwendigkeit durchzusetzen. Vor dem Auftreten der Gewerkschaften im Lande jedoch und vor ihrer Geltung in jedem einzelnen Gewerbezweig ist für die Gestaltung der Löhne die Tendenz des Kapitalisten maßgebend, die Lebensmittel auf das physiologische, sozusagen tierische Minimum herabzudrücken, das heißt, die Arbeitskraft ständig unter ihrem Wert zu bezahlen. Die Zeiten der zügellosen Herrschaft des Kapitals, der noch kein Widerstand durch die Arbeiterkoalition und -organisation entgegengesetzt wird, führten zu derselben barbarischen Degradation der Arbeiterklasse in bezug auf Löhne wie in bezug auf Arbeitszeit vor der Einführung der Fabrikgesetze. Es ist ein Kreuzzug des Kapitals gegen jede Spur von Luxus, Bequemlichkeit, Behaglichkeit im Leben des Arbeiters, die er noch von den früheren Zeiten des Handwerks und der Bauernwirtschaft her gewohnt war. Es |750| ist ein Bestreben, die Konsumtion des Arbeiters auf einen einfachen öden Akt der Zufuhr eines Minimums von Futter an den Leib zu reduzieren, wie das Vieh gefüttert oder die Maschine geölt wird. Dabei werden die tiefststehenden und bedürfnislosesten Arbeiter als das Muster und Beispiel den verwöhnten Arbeitern hingestellt. Dieser Kreuzzug gegen die menschliche Lebenshaltung der Arbeiter begann - wie die kapitalistische Industrie - zuerst in England. Ein englischer Schriftsteller jammerte im 18. Jahrhundert: »Man betrachte nur die haarsträubende Klasse von Überflüssigkeiten, die unsere Manufakturarbeiter verzehren, als da sind: Branntwein, Gin, Tee, Zucker, fremde Früchte, starkes Bier, gedruckte Leinwand, Schnupf und Rauchtabak usw.« Den englischen Arbeitern wurden damals die französischen, holländischen, deutschen als Muster der Enthaltsamkeit hingestellt. So schrieb ein englischer Fabrikant: »Die Arbeit ist ein ganzes Drittel wohlfeiler in Frankreich als in England; denn die französischen Armen, (so nannte man die Arbeiter - R. L.) arbeiten hart und fahren hart an Nahrung und Kleidung, und ihr Hauptkonsum sind Brot, Kräuter, Wurzeln und getrockneter Fisch, denn sie essen sehr selten Fleisch und, wenn der Weizen teuer ist, sehr wenig Brot.« Gegen Anfang des 19. Jahrhunderts verfaßte ein Amerikaner, Graf Rumford, ein spezielles »Kochbuch für Arbeiter« mit Rezepten zur Verbilligung ihrer Nahrung. So lautete zum Beispiel ein Rezept aus diesem berühmten Buch, das mit großer Begeisterung von der Bourgeoisie verschiedener Länder aufgenommen wurde: »Fünf Pfund Gerste, fünf Pfund Mais, für 30 Pf Heringe, 10 Pf Salz, 10 Pf Essig, 20 Pf Pfeffer und Kräuter - Summa von 2,08 M, gibt eine Suppe für 64 Menschen, ja mit den Durchschnittspreisen von Korn kann die Kost auf noch nicht 3 Pf pro Kopf herabgedrückt werden.« Von den Arbeitern in den Bergwerken Südamerikas, deren tägliches Geschäft, das schwerste vielleicht in der Welt, darin besteht, eine Last Erz von 180 bis 200 Pfund aus einer Tiefe von 450 Fuß auf ihren Schultern zutage zu fördern, erzählt Justus Liebig, daß sie nur noch von Brot und Bohnen leben. Sie würden das Brot allein zur Nahrung vorziehen, allein ihre Herren, welche gefunden haben, daß sie mit Brot nicht so stark arbeiten können, behandeln sie wie Pferde und zwingen sie, die Bohnen zu essen, weil die Bohnen mehr zur Knochenbildung beitragen als Brot. In Frankreich gab es schon im Jahre 1831 die erste Hungerrevolte der Arbeiter - diejenige der Seidenweber in Lyon. Aber die größten Orgien feierte das Kapital in der Herabdrückung der Löhne unter dem Zweiten Kaiserreich in den sechziger Jahren, als die eigentliche Maschinenindustrie Einzug hielt in Frankreich. Die Unternehmer flüchteten |751| aus den Städten aufs flache Land, um billigere Hände zu Finden. Und sie brachten es darin so weit, daß es Frauen gab, die zu 1 Sou, das heißt etwa 4 Pf, Taglohn arbeiteten. Allerdings dauerte diese Herrlichkeit nicht lange; denn solche Löhne konnten nicht einmal für das tierische Dasein genügen. In Deutschland führte das Kapital zuerst ähnliche Zustände in der Textilindustrie herbei, wo die selbst unter das physiologische Minimum herabgedrückten Löhne in den vierziger Jahren zu den Hungeraufständen der Weber in Schlesien und in Böhmen führten. Heute bildet das tierische Minimum der Lebensmittel die Regel für die Löhne - bei den Landarbeitern in Deutschland, in der Konfektion, in den verschiedenen Zweigen der Hausindustrie - überall, wo die Gewerkschaft ihre Wirkung auf die Lebenshaltung nicht ausübt.


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