Unser Kampf | IV. 1. | Inhalt | IV. 3. | Rosa Luxemburg

Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. »Einführung in die Nationalökonomie«, S. 739-747.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998

Rosa Luxemburg - Einführung in die Nationalökonomie

IV. Lohnarbeit - 2.


|739| Der Unternehmer kauft die Arbeitskraft und zahlt wie jeder Käufer ihren Wert, das heißt ihre Herstellungskasten, indem er dem Arbeiter im Lohn einen Preis zahlt, der den Unterhdes Arbeiters deckt. Aber die gekaufte Arbeitskraft ist in der Lage, mit den durchschnittlich in der Gesellschaft gebrauchten Produktionsmitteln mehr herzustellen als bloß die eigenen Unterhaltskosten. Dies ist bereits, wie wir wissen, eine Voraussetzung des ganzen Geschäfts, das sonst sinnlos wäre; darin besteht der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft. Da der Wert des Unterhalts der Arbeitskraft wie bei jeder anderen Ware durch die Menge Arbeit bestimmt wird, die zu ihrer Herstellung erforderlich, so können wir annehmen, die Nahrung, Kleidung etc., die zur täglichen Erhaltung des Arbeiters im arbeitsfähigen Zustand nötig sind, erfordern, sagen wir zum Beispiel, sechs Stunden Arbeit. Der Preis der Ware Arbeitskraft, das heißt ihr Lohn, muß alsdann normal sechs Stunden Arbeit in Geld betragen. Aber der Arbeiter arbeitet für seinen Unternehmer nicht sechs Stunden, sondern länger, sagen wir zum Beispiel elf Stunden. Dann hat er in diesen elf Stunden erstens dem Unternehmer den empfangenen Lohn in sechs Stunden zurückerstattet und außerdem noch fünf Stunden Arbeit umsonst daraufgegeben, dem Unternehmer geschenkt. Der Arbeitstag jedes Arbeiters besteht also notwendig und normal aus zwei Teilen: einem bezahlten, worin der Arbeiter nur den |740| Wert seines eigenen Unterhalts zurückerstattet, wo er sozusagen für sich selbst arbeitet, und einem unbezahlten, worin er geschenkte Arbeit oder Mehrarbeit für den Kapitalisten schafft.

Ähnliches war auch bei den früheren Formen der gesellschaftlichen Ausbeutung der Fall. Zur Zeit der Hörigkeit war die Arbeit des hörigen Bauern für sich und seine Arbeit für den Fronherrn sogar zeitlich und räumlich getrennt. Der Bauer wußte ganz genau, wann und wieviel er für sich arbeitete und wann und wieviel für die Erhaltung des gnädigen Herrn, Adligen oder Geistlichen. Er arbeitete erst einige Tage auf eigenem Acker, dann einige Tage auf herrschaftlichem. oder er arbeitete vormittags auf eigenem und nachmittags auf herrschaftlichem, oder er arbeitete einige Wochen durchweg nur auf eigenem und dann einige Wochen auf dem herrschaftlichen. So war zum Beispiel in einem Dorfe der Abtei Maurusmünster im Elsaß die Fronarbeit um die Hälfte des 12. Jahrhunderts folgendermaßen festgesetzt: Seit Mitte April bis Mitte Mai stellte jede Bauernhufe eine Mannskraft drei volle Tage pro Woche, von Mai bis Johanni einen Nachmittag pro Woche, von Johanni bis zur Heumahd zwei Tage pro Woche, zur Erntezeit drei Nachmittage pro Woche und von Martini bis Weihnachten drei volle Tage pro Woche. Freilich wuchs im späteren Mittelalter mit dem Fortschritt zur Leibeigenschaft die herrschaftliche Arbeit so anhaltend, daß bald fast alle Tage in der Woche und alle Wochen im Jahre der Fronleistung gehörten und der Bauer kaum noch Zeit mehr hatte, um den eigenen Acker zu bestellen. Aber auch dann wußte er ganz genau, daß er nicht für sich, sondern für andere arbeitete. Eine Täuschung darüber war bei dem blödesten Bauern nicht möglich.

Bei der modernen Lohnarbeit liegt die Sache ganz anders. Der Arbeiter schafft nicht etwa in dem ersten Teil seines Arbeitstages Gegenstände, die er selbst braucht: seine Nahrung, Kleidung etc., um später andere Dinge für den Unternehmer zu produzieren. Im Gegenteil, der Arbeiter in der Fabrik oder auf dem Werk produziert den ganzen Tag einen und denselben Gegenstand, und zwar meistens einen Gegenstand, den er nur zum geringsten Teil oder gar nicht zum eigenen privaten Konsum braucht: etwa lauter Stahlfedern oder Gummibänder oder Seidengewebe oder gußeiserne Rohren. In dem unterschiedslosen Haufen Stahlfedern oder Bänder oder Gewebe, den er tagsüber geschaffen hat, sieht jedes Stück aufs Haar genauso aus wie das andere, man merkt daran nicht den geringsten Unterschied, ob ein Teil davon bezahlte oder unbezahlte Arbeit ist, ob ein Teil für den Arbeiter, ein anderer für den Unternehmer ist. Im Gegenteil, das Produkt, an dem der Arbeiter arbeitet, hat für ihn gar keinen Nutzen, |741| und es gehört ihm ja davon nicht ein Stückchen; alles, was der Arbeiter produziert, gehört dem Unternehme. Hierin liegt ein großer äußerer Unterschied zwischen der Lohnarbeit und der Hörigigkeit. Der Fronbauer mußte in normalen Verhältnissen unbedingt einige Zeit haben, um auf eigenem Acker zu arbeiten, und das, was er für sich arbeitete gehörte auch ihm. Bei dem modernen Lohnarbeiter gehört sein ganzes Produkt dem Unternehmer, und so sieht es aus, als hätte seine Arbeit in der Fabrik gar nichts zu tun mit seiner eigenen Erhaltung. Er hat seinen Lohn erhalten und kann damit machen, was er will. Dafür hat er zu arbeiten, was ihm der Unternehmer anweist, und alles, was er produziert, gehört dem Unternehmer. Aber der Unterschied, der dem Arbeiter unsichtbar ist, zeigt sich nachher wohl in der Rechnung des Unternehmers, wenn er den Erlös aus der Produktion seiner Arbeit berechne. Für den Kapitalisten ist das der Unterschied zwischen der Geldsumme, die er nach dem Verkauf des Produkts einnimmt, und seinen Auslagen sowohl für die Produktionsmittel wie für die Löhne seiner Arbeiter. Das, was ihm verbleibt als Gewinn, ist eben der Wert, der von der unbezahlten Arbeit geschaffen [wurde], das heißt der Mehrwert, den die Arbeite geschaffen haben. Jeder Arbeiter produziert also, wenn er auch nur Gummibänder oder Seidenstoffe oder Gußröhren produziert, zunächst seinen eigenen Lohn und dann geschenkten Mehrwert für den Kapitalisten. Hat er zum Beispiel in 11 Stunden 11 Meter Seidenstoff gewebt, so enthalten 6 Meter davon den Wert seines Lohns, und 5 sind Mehrwert für den Unternehmer.

Aber der Unterschied zwischen der Lohnarbeit und der Sklaven- oder Fronarbeit hat noch wichtigere Folgen. Der Sklave wie der Fronbauer lieferten ihre Arbeit hauptsächlich für den eigenen privaten Bedarf, für den Konsum des Herrn. Sie schaffen für ihren Herrn Nahrungs- und Kleidungsgegenstände, Möbel, Luxussache,. usw. Dies war jedenfalls das Normale, bevor die Sklaverei und das Fronverhältnis unter dem Einfluß des Handels ausarteten und ihrem Verfall entgegengingen. Die Konsumtionsfähigkeit des Menschen, auch der Luxus im Privatleben, haben aber in jedem Zeitalter ihre bestimmten Grenzen. Mehr als volle Speicher, volle Ställe, reiche Kleider, ein üppiges Leben für sich und den ganzen Hofhalt, reich ausgestattete Zimmer, mehr als das konnten der antike Sklavenhalter oder der mittelalterliche Adlige nicht brauchen. Solche Gegenstände, die zum täglichen Bedarf dienen, können ja nicht einmal in zu großen Vorräten aufbewahrt werden, da sie dabei zugrunde gehen: Das Korn verfällt leicht der Fäulnis oder wird von Ratten und Mäusen gefressen, Heu und Strohvorräte geraten leicht in Brand, Kleiderstoffe werden beschädigt |742| usw., Milchprodukte, Obst und Gemüse lassen sich überhaupt schlecht aufbewahren. Der Verbrauch in der Sklavenwirtschaft wie in der Fronwirtschaft hatte also bei üppigstem Leben seine natürlichen Grenzen, und damit hatte auch die normale Ausbeutung des Sklaven und des Bauern ihre Schranken. Anders bei dem modernen Unternehmer, der die Arbeitskraft zur Warenproduktion kauft. Das, was der Arbeiter in der Fabrik oder auf dem Werk meistens produziert, ist für ihn selbst ganz unnütz, aber ebenso unnütz für den Unternehmer. Dieser läßt die gekaufte Arbeitskraft nicht für sich Kleider und Nahrung bereiten, sondern läßt sie irgendeine Ware herstellen, die er selbst gar nicht braucht. Er läßt die Seidenstoffe oder Röhren oder Särge nur produzieren, um sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden, zu verkaufen. Er läßt sie produzieren, um durch ihren Verkauf Geld zu kriegen. Und er erhält sowohl seine Auslagen zurückerstattet wie die geschenkte Mehrarbeit seiner Arbeiter in Geldform. Zu diesem Zweck, um die unbezahlte Arbeit der Arbeiter in Geld zu schlagen, macht er ja das ganze Geschäft und kauft die Arbeitskraft. Das Geld ist aber, wie wir wissen, das Mittel der unbegrenzten Aufhäufung des Reichtums. In Geldform verliert der Reichtum durch das längste Lagern nichts an Wert, im Gegenteil, wie wir später sehen werden, scheint der Reichtum in Geldform durch das bloße Lagern sogar zu wachsen. Und in Geldform kennt der Reichtum gar keine Grenzen, er kann wachsen ins unendliche. Dementsprechend hat auch der Hunger des modernen Kapitalisten nach Mehrarbeit keine Grenzen. Je mehr unbezahlte Arbeit aus den Arbeitern herausgeschlagen wird, um so besser. Mehrwert auspressen, und zwar schrankenlos auspressen - das ist der eigentliche Zweck und die Aufgabe des Kaufs der Arbeitskraft.

Der natürliche Trieb des Kapitalisten zur Vergrößerung des den Arbeitern abgepreßten Mehrwerts findet vor allem zwei einfache Wege, die sich sozusagen von selbst bieten, wenn wir die Zusammensetzung des Arbeitstages betrachten. Wir sahen, daß der Arbeitstag jedes Lohnarbeiters normalerweise aus zwei Teilen besteht: aus dem Teil, wo der Arbeiter seinen eigenen Lohn zurückerstattet, und aus dem anderen, wo er unbezahlte Arbeit, Mehrwert liefert. Um also den zweiten Teil möglichst zu vergrößern, kann der Unternehmer nach zwei Seiten vorgehen: entweder den ganzen Arbeitstag verlängern oder den ersten, bezahlten Teil des Arbeitstages verkürzen, das heißt den Lohn des Arbeiters herabdrücken. Tatsächlich greift der Kapitalist gleichzeitig zu beiden Methoden, und daher ergibt sich bei dem System der Lohnarbeit eine ständige Doppeltendenz: sowohl zur Verlängerung der Arbeitszeit als zur Verkürzung der Löhne.

|743| Wenn der Kapitalist die Ware Arbeitskraft kauft, so kauft er sie wie jede Ware, um aus ihr einen Nutzen zu ziehen. Jeder Warenkäufer sucht aus seinen Waren möglichst viel Gebrauch zu ziehen. Wenn wir zum Beispiel Stiefel kaufen, so wollen wir sie solange wie möglich tragen. Dem Käufer der Ware gehört der volle Gebrauch, der ganze Nutzen der Ware. Der Kapitalist also, der die Arbeitskraft gekauft hat, hat vom Standpunkte des Warenkaufs vollständig recht, zu verlangen, daß ihm die gekaufte Ware solange wie möglich und soviel wie möglich dient. Hat er die Arbeitskraft für eine Woche bezahlt, so gehört ihm die Woche Gebrauch, und er hat von seinem Standpunkt; als Käufer das Recht, den Arbeiter womöglich siebenmal 24 Stunden pro Woche arbeiten zu lassen. Andererseits aber hat der Arbeiter als Verkäufer der Ware einen ganz umgekehrten Standpunkt. Freilich gehört dem Kapitalisten der Gebrauch der Arbeitskraft, aber dieser findet seine Grenzen in der physischen und geistigen Leistungskraft des Arbeiters. Ein Pferd kann, ohne ruiniert zu werden, nur acht Stunden tagein, tagaus arbeiten. Ein Mensch muß auch, um seine in der Arbeit verbrauchte Kraft wiederzuerlangen, eine gewisse Zeit zur Nahrungsaufnahme, Kleidung, Erholung etc. [haben]. Hat er das nicht, so wird seine Arbeitskraft nicht nur verbraucht, sondern auch vernichtet. Durch übermäßige Arbeit wird sie geschwächt und das Leben des Arbeiters verkürzt. Wenn also der Kapitalist durch schrankenlosen Gebrauch der Arbeitskraft in jeder Woche das Leben des Arbeiters um zwei Wochen verkürzt, so ist es dasselbe, als wenn er für den Lohn von einer Woche drei Wochen sich aneignen würde. Von demselben Standpunkte des Warenhandels bedeutet das also, daß der Kapitalist den Arbeiter bestiehlt. So vertreten Kapitalist und Arbeiter in bezug auf die Länge des Arbeitstages, beide auf dem Boden des Warenmarktes, zwei genau entgegengesetzte Standpunkte, und die tatsächliche Länge des Arbeitstages wird auch nur auf dem Wege des Kampfes zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse als eine Machtfrage entschieden.[1] An sich ist der Arbeittrag also an keine bestimmten Schranken gebunden; je nach der Zeit und dem Ort finden wi auch den achtstündigen, zehn-, zwölf-, vierzehn-, sechzehn-, achtzehnstündigen Arbeitstag. Und im ganzen ist es ein jahrhundertelanger Kampf um die Länge des Arbeitstages. In diesem Kampf sehen [wir] zwei wichtige Abschnitte. Der erste beginnt schon am Ausgang des Mittelalters, in 14. Jahrhundert, wo der Kapitalismus erst die ersten schüchterner, Schritte macht und an dem festen Schutzpanzer des zunftlichen Regiments zu rütteln beginnt. Die normale gewohnheits- |744| mäßige Arbeitszeit betrug zu Zeiten der Blüte des Handwerks etwa zehn Stunden, wobei die Mahlzeiten, die Schlafzeit, die Erholungszeit, die Sonntags- und Festtagsruhe mit aller Behaglichkeit und Umständlichkeit wahrgenommen wurden. Dem alten Handwerk mit seiner langsamen Arbeitsmethode genügte das, den beginnenden Fabrikunternehmungen nicht. Und so ist das erste, was die Kapitalisten von den Regierungen erringen, Zwangsgesetze zur Verlängerung der Arbeitszeit. Vom 14. bis Ende des 17. Jahrhunderts sehen wir in England wie in Frankreich wie in Deutschland lauter Gesetze über den Minimalarbeitstag, das heißt Verbote an die Arbeiter und Gesellen, weniger als eine bestimmte Arbeitszeit, und zwar meistens zwölf Stunden täglich, zu arbeiten. Der Kampf mit der Faulenzerei der Arbeiter: das ist der große Ruf seit dem Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Seit aber die Kraft des alten Zunfthandwerks gebrochen war und das massenhafte Proletariat, ohne alle Arbeitsmittel bloß auf den Verkauf der Arbeitskraft angewiesen, andererseits die großen Manufakturen mir fieberhafter Massenproduktion entstanden waren, seit dem 18. [Jahrhundert] wendet sich das Blatt. Es beginnt eine plötzliche und so schrankenlose Aussaugung der Arbeiter jeden Alters, beider Geschlechter, daß ganze Arbeiterbevölkerungen in wenigen Jahren wie von einer Pest niedergemäht werden. Im Jahre 1863 erklärte ein Abgeordneter im englischen Parlament: »Die Baumwollindustrie zählt 90 Jahre ... In drei Generationen der englischen Race hat sie neun Generationen von Baumwollarbeitern verspeist.«(1) Und ein bürgerlicher englischer Schriftsteller, John Wade, schreibt in seinem Werke über die »Geschichte des Mittelstandes und der Arbeiterklasse«: Die Gier der Fabrikanten und ihre Grausamkeit bei der Jagd nach Gewinn waren nicht übertroffen von den Grausamkeiten der Spanier gegen die Rothäute Amerikas bei ihrer Jagd nach Gold.(2) In England wurden noch in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts in gewissen Industriezweigen, wie in der Spitzenfabrik, kleine Kinder von 9 bis 10 Jahren von 2, 3 und 4 Uhr des Morgens bis 10, 11, 12 Uhr nachts beschäftigt. In Deutschland sind die Zustände, wie sie bis vor kurzem zum Beispiel in den Quecksilberspiegelbelegereien, in der Bäckerei herrschten, wie sie noch heute in der Konfektion, in der Hausindustrie durchweg herrschen, bekannt. Erst die moderne kapitalistische Industrie hat die bis dahin ganz unbekannte Erfindung der Nacht- |745| arbeit zuwege gebracht. In allen früheren Gesellschaftszuständen gdie Nacht als eine von Natur selbst zur Ruhe für den Menschen bestimmte Zeit.[2] Der kapitalistische Betrieb erfand, daß der Mehrwert, der nachts aus dem Arbeiter gepreßt wird, sich durch nichts unterscheidet von dem am Tage ausgepreßten, und führte die Tag- und Nachtschicht ein. Desgleichen wurde der Sonntag, der im Mittelalter von dem Zunfthandwerk in strengster Weise hochgehalten wurde, dem Mehrwerthunger des Kapitalisten geopfert und zu den übrigen Arbeitstagen geschlagen. Dazu kamen noch Dutzende von kleinen Erfindungen zur Verlängerung der Arbeitszeit: das Einnehmen der Mahlzeiten während der Arbeit ohne jede Pause, das Reinigen der Maschinen nicht während des üblichen Arbeitstages, sondern nach seiner Beendigung, das heißt während der Erholungszeit des Arbeiters usw. Diese Praxis der Kapitalisten, die in den ersten Jahrzehnten ganz frei und schrankenlos waltete, machte bald eine neue Serie von Gesetzen über den Arbeitstag nötig, diesmal nicht zur zwangsweisen Verlängerung, sondern zur Verkürzung der Arbeitszeit. Und zwar waren die ersten gesetzlichen Bestimmungen über den Maximalarbeitstag nicht sowohl durch den Druck der Arbeiter erzwungen wie durch den einfachen Erhaltungstrieb der kapitalistischen Gesellschaft. Gleich die ersten paar Jahrzehnte der unumschränkten Herrschaft der Großindustrie haben eine so vernichtende Wirkung auf die Gesundheit und Lebenszustände der arbeitenden Volksmasse ausgeübt, eine so ungeheure Sterblichkeit. Kränklichkeit, physische Verkrüppelung, geistige Verwahrlosung, epidemische Krankheiten, militärische Untauglichkeit erzeugt, daß der Bestand selbst der Gesellschaft aufs tiefste bedroht erschien.(3) Es war klar, daß, falls dem naturwüchsigen Drang des Kapitals nach Mehrwert nicht vom Staate Zügel angelegt werden, er über kurz oder lang ganze Staaten in Riesenkirchhöfe verwandeln wird, auf denen nur Knochen der Arbeiter sichtbar wären. Aber ohne Arbeiter keine Ausbeutung der Arbeiter. Das Kapital mußte also im eigenen Interesse, um sich für die Zukunft die Ausbeutung zu ermöglichen, der Ausbeutung in der Gegenwart einige Schranken setzen. Die Volkskraft mußte etwas geschont werden, um ihre weitere Aus- |746| beutung zu sichern. Von einer unwirtschaftlichen Raubwirtschaft mußte zur rationellen Ausbeutung übergegangen werden. Daraus sind die ersten Gesetze über den Maximalarbeitstag entstanden, wie die gesamte bürgerliche Sozialreform entsteht. Ein Gegenstück dazu haben wir in den Jagdgesetzen. Ebenso wie dem Edelwild eine bestimmte Schonzeit durch Gesetze gesichert wird, damit es sich rationell verbreitet und regelmäßig als Gegenstand der Jagd dienen kann, ebenso sichert die Sozialreform eine gewisse Schonzeit der A.rbeitskraft des Proletariats, damit sie rationell zur Ausbeutung durch das Kapital dienen kann. Oder wie Marx sagt: Die Beschränkung der Fabrikarbeit war diktiert durch dieselbe Notwendigkeit, welche die Landwirte zwingt, den Dünger über die Felder auszugießen. Die Fabrikgesetzgebung wird im harten jahrzehntelangen Kampf mit dem Widerstand der Einzelkapitalisten erst für Kinder und Frauen und in einzelnen Industrien Schritt für Schritt geboren. Dann folgte Frankreich, wo erst die Februarrevolution von 1848 unter dem ersten Druck des siegreichen Pariser Proletariats den zwölfstündigen Arbeitstag proklamierte, welches das erste allgemeine Gesetz über die Arbeitszeit aller Arbeitenden, auch der erwachsenen Männer in allen Arbeitszweigen, war. In den Vereinigten Staaten begann gleich nach dem Bürgerkrieg von 1861, der die Sklaverei abschaffte, eine allgemeine Bewegung der Arbeiter für den Achtstundentag, die nach dem europäischen Kontinent hinüberschlug. In Rußland entstanden die ersten Schutzgesetze für Frauen und Minderjährige aus den großen Fabrikunruhen des Jahres 1882 im Moskauer Industriebezirk und der elfeinhalbstündige Arbeitstag für erwachsene Männer aus den ersten Generalstreiks der 60.000 Textilarbeiter Petersburgs im Jahre 1896 und 1897. Deutschland hinkt jetzt mit seinen Schutzgesetzen nur für Frauen und Kinder allen anderen modernen Großstaaten nach. Wir haben bis jetzt nur von einer einzigen Seite der Lohnarbeit gesprochen: von der Arbeitszeit, und schon hier sehen wir, wie sehr das bloße einfache Warengeschäft: der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft, eigentümliche Erscheinungen nach sich gezogen hat. Aber hier ist es notwendig, mit den Worten von Marx zu reden: »Man muß gestehn, daß unser Arbeiter anders aus dem Produktionsprozeß herauskommt, als er in ihn ein- |747| trat. Auf dem Markt trat er als Besitzer der Ware 'Arbeitskraft' andren Warenbesitzern gegenüber. Warenbesitzer dem Warenbesitzer. Der Kontrakt, wodurch er dem Kapitalisten seine Arbeitskraft verkaufte, bewies sozusagen schwarz auf weiß, daß er frei über sich selbst verfügt. Nach geschlossenem Handel wird entdeckt, daß er 'kein freier Agent' war, daß die Zeit, wofür es ihm freisteht, seine Arbeitskraft zu verkaufen, die Zeit ist, wofür er gezwungen ist, sie zu verkaufen, daß in der Tat sein Sauger nicht losläßt, 'solange noch ein Muskel, eine Sehne, ein Tropfen Bluts auszubeuten'. Zum 'Schutz' gegen die Schlange ihrer Qualen müssen die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.«[3] [Hervorhebungen - R. L.]

Die Arbeiterschutzgesetze sind in der Tat das erste offizielle Bekenntnis der heutigen Gesellschaft, daß die formelle Gleichheit und Freiheit, die der Warenproduktion und dem Warenaustausch zugrunde liegt, bereits in die Brüche geht, in Ungleichheit und Unfreiheit umschlägt, seit die Arbeitskraft als Ware auf dem Markte erscheint.


Fußnoten von Rosa Luxemburg

(1) Karl Marx: Das Kapital, Bd. I, S. 229. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 282.] <=

(2) Siehe Karl Marx: Das Kapital, Bd. I, S. 204. [Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 258, Fußnote 64.] <=

(3) Seit der Einführung der allgemeinen militärischen Dienstpflicht verkleinert sich das mittlere Körpermaß der erwachsenen Männer und damit auch das gesetzlich vorgeschriebene Maß bei der Aushebung immer mehr. Vor der großen Revolution war das Minimum für den Infanteristen in Frankreich 165 cm, nach dem Gesetz von 1818 157 cm, seit 1852 156 cm, durchschnittlich wird in Frankreich wegen mangelnder Größe und Gebrechen über die Hälfte ausgemustert. Da Militärmaß war in Sachsen 1780 178 cm, in den sechziger Jahren nur noch 155 cm, in Preußen 157 cm. Berlin konnte 1858 sein Kontingent an Ersatzmannschaft nicht stellen, es fehlten 156 Mann. <=


Redaktionelle Anmerkungen

[1] Randnotiz R. L.: Interessen der kap. Prod. selbst? <=

[2] Randnotiz R. L.: Äg. Skl. <=

[3] Karl Marx: Das Kapital, Erster Band. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 23, S. 319/320. <=


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