Unser Kampf | | | III. 4. | | | Inhalt | | | IV. 2. | | | Rosa Luxemburg |
Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975.
»Einführung in die Nationalökonomie«, S. 731-739.
1. Korrektur
Erstellt am 20.10.1998
|731| Alle Waren tauschen sich gegeneinander aus nach ihrem Wert, das heißt nach der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Spielt das Geld die Rolle des Vermittlers, so ändert das an dieser Grundlage des Austausches der Waren nichts: Das Geld ist selbst nur der nackte Ausdruck der gesellschaftlichen Arbeit, und die Menge des Werts, die in jeder Ware steckt, wird ausgedrückt durch die Menge Geld, für die die Ware verkauft wird. Auf Grund dieses Wertgesetzes herrscht zwischen den Waren auf dem Markt vollkommene Gleichheit. Und es würde auch unter den Warenverkäufern völlige Gleichheit herrschen, wenn nicht unter den |732| Millionen von verschiedenen Warenarten, die überall auf dem Markt zum Austausch gelangen, eine einzige Ware von ganz besonderer Beschaffenheit wäre: die Arbeitskraft. Diese Ware wird von denjenigen auf den Markt gebracht, die selbst keine Produktionsmittel besitzen, um andere Waren zu produzieren. In einer Gesellschaft, die ausschließlich [auf] den Warenaustausch gegründet ist, bekommt man, wie wir wissen, nichts anders als im Wege des Austauschs. Wir haben ja gesehen, daß die von jedermann auf den Markt gebrachte Ware der einzige Anspruchstitel dieses Menschen auf den Anteil an der gesellschaftlichen Produktenmasse ist und zugleich das Maß dieses Anteils. Jeder Mensch kriegt in beliebigen Waren nach freier Wahl genausoviel von der Masse der in der Gesellschaft geleisteten Arbeit, wie er selbst an gesellschaftlich notwendiger Arbeit in Form von irgendeiner Ware liefert. Um also leben zu können, muß jeder Mensch Waren liefern und verkaufen. Das Warenproduzieren und -verkaufen ist Existenzbedingung für den Menschen geworden. Wer keine Ware auf den Markt bringt, bekommt keine Existenzmittel. Aber zur Herstellung irgendeiner Ware gehören: Arbeitsmittel, Werkzeuge und dergleichen, ferner Rohstoffe und Hilfsstoffe, desgleichen eine Arbeitsstätte, eine Werkstatt mit den erforderlichen Bedingungen der Arbeit, wie Beleuchtung etc., endlich ein gewisses Quantum Lebensmittel, um während der Dauer der Produktion und bis zum Verkauf der Ware aushalten zu können. Nur einige wenige geringfügige Waren sind ohne Auslagen an Produktionsmitteln herzustellen: zum Beispiel die im Walde gesammelten Pilze oder Beeren, die Muscheln, die von den Bewohnern der Seeufer am Strande gesammelt werden. Aber auch hierfür sind immer noch gewisse Produktionsmittel, wie Körbe und dergleichen, nötig und jedenfalls Lebensmittel, die während dieser Arbeit die Existenz ermöglichen. Die meisten Warenarten jedoch erfordern in jeder Gesellschaft mit entwickelter Warenproduktion ganz bedeutende, zum Teil enorme Auslagen an Produktionsmitteln. Wer diese Produktionsmittel nicht hat, also keine Waren zu produzieren imstande ist, dem bleibt nichts übrig, als sich selbst, das heißt seine eigene Arbeitskraft, als Ware auf den Markt zu bringen.
Wie jede andere Ware hat auch die Ware Arbeitskraft ihren bestimmten Wert. Der Wert jeder Ware wird, wie wir wissen, durch die Menge Arbeit bestimmt, die zu ihrer Herstellung erforderlich ist. Um die Ware Arbeitskraft herzustellen, ist gleichfalls eine bestimmte Menge Arbeit notwendig, nämlich diejenige Arbeit, die den Lebensunterhalt, die Nahrung, Kleidung usw. für den Arbeiter produziert. Soviel Arbeit also erforderlich |733| ist, um den Menschen arbeitsfähig, um seine Arbeitskraft zu erhalten, soviel ist auch seine Arbeitskraft wert. Der Wert der Ware Arbeitskraft wird also dargestellt durch die Menge Arbeit, die zur Herstellung der Lebensmittel für den Arbeiter nötig ist. Ferner: Wie bei jeder anderen Ware wird der Wert der Arbeitskraft auf dem Markt im Preis, das heißt in Geld, eingeschätzt. Der Geldausdruck, das heißt der Preis der Ware Arbeitskraft, heißt Lohn. Bei jeder anderen Ware steigt der Preis, wenn die Nachfrage rascher wächst als das Angebot, und sinkt, wenn umgekehrt die Zufuhr der Ware größer ist als die Nachfrage. Dasselbe bewährt sich auch in bezug auf die Ware Arbeitskraft: Bei steigender Nachfrage nach Arbeitern haben die Löhne im allgemeinen die Tendenz zu steigen, nimmt die Nachfrage ab oder wird der Arbeitsmarkt mit frischer Ware überfüllt, so zeigen Löhne eine Tendenz zum Sinken. Endlich, wie bei jeder anderen Ware, wird der Wert der Arbeitskraft, also mit ihr auch schließlich der Preis größer, wenn die zu ihrer Herstellung nötige Arbeitsmenge größer wird: in diesem Fall, wenn die Lebensmittel des Arbeiters mehr Arbeit zu ihrer Produktion erfordern. Und umgekehrt führt jede Ersparnis an der Arbeit, die zur Herstellung der Lebensmittel für den Arbeiter erforderlich ist, zur Herabdrückung des Wertes der Arbeitskraft, also auch ihres Preises, das heißt des Arbeitslohns. »Man verringere die Produktionskosten von Hüten«, schrieb David Ricardo im Jahre 1817 »und ihr Preis wird schließlich auf ihren neuen natürlichen Preis zurückgehen, obwohl sich die Nachfrage verdoppelt, verdreifacht oder vervierfacht haben mag. Man verringere die Unterhaltskosten der Arbeiter, indem man den natürlichen Preis der Nahrungsmittel und der Kleidung, die das Leben erhalten, senkt, und die Löhne werden schließlich sinken, trotzdem die Nachfrage nach Arbeitern sehr erheblich gestiegen sein mag.«[1]
Somit zeichnet sich die Ware Arbeitskraft auf dem Markte zunächst durch nichts von anderen Waren aus als etwa dadurch, daß sie von ihrem Verkäufer, dem Arbeiter, untrennbar ist und daß sie deshalb kein langes Warten auf den Käufer verträgt, weil sie sonst zusammen mir ihrem Träger, dem Arbeiter, vor Mangel an Lebensmitteln zugrunde geht, während die meisten anderen Waren eine mehr oder minder lange Wartezeit bis zum Verkauf an sich gut vertragen können. Die Besonderheit der Ware Arbeitskraft äußert sich also noch nicht auf dem Markt, wo nur der Tauschwert eine Rolle spielt. Sie liegt anderswo - im Gebrauchswert dieser Ware. Jede Ware wird gekauft wegen des Nutzens, den sie im Gebrauch bringen |734| kann. Stiefel werden gekauft, um als Fußbekleidung zu dienen; eine Tasse wird gekauft, damit man aus ihr Tee trinkt. Zu was kann eine gekaufte Arbeitskraft dienen? Offenbar zum Arbeiten. Aber damit ist noch gar nichts gesagt. Arbeiten konnten und mußten die Menschen zu allen Zeiten, solange die menschliche Gesellschaft existiert, und doch vergingen ganze Jahrtausende, in denen die Arbeitskraft als käufliche Ware etwas gänzlich Unbekanntes war. Andererseits stellen wir uns vor, daß der Mensch mit seiner vollen Arbeitskraft nur imstande wäre, den eigenen Lebensunterhfür sich selbst herzustellen, so wäre der Kaut einer solchen Arbeitskraft, also die Arbeitskraft als Ware, eine Sinnlosigkeit. Denn falls jemand eine Arbeitskraft kauft und bezahlt, sie dann mit seinen eigenen Produktionsmitteln arbeiten läßt und schließlich im Resultat nur den Lebensunterhfür den Träger seiner gekauften Ware, für den Arbeiter, erhält, so liefe es darauf hinaus, daß der Arbeiter durch den Verkauf seiner Arbeitskraft nur die fremden Produktionsmittel kriegt, um mit ihnen für sich selbst zu arbeiten. Es wäre dies vom Standpunkt des Warenaustausches ein ebenso sinnloses Geschäft, wie wenn jemand Stiefel kaufen würde, um sie nachher dem Schuster als Geschenk zurückzugeben. Würde die menschliche Arbeitskraft keinen anderen Gebrauch zulassen, dann hätte sie für den Käufer keinen Nutzen und könnte also nicht als Ware auf dem Markt erscheinen. Denn nur Produkte von bestimmtem Nutzen können als Waren figurieren. Damit also die Arbeitskraft überhaupt als Ware erscheint, genügt es nicht, daß der Mensch arbeiten kann, wenn man ihm Produktionsmittel gibt, sondern daß er mehr arbeiten kann, als zur Herstellung seiner eigenen Existenzmittel notwendig ist. Er muß nicht nur für seinen eigenen Unterhalt, sondern auch für den Kaufherrn seiner Arbeitskraft arbeiten können. Die Ware Arbeitskraft muß also im Gebrauch, das heißt bei der Arbeit, nicht bloß ihren eigenen Preis, das heißt den Lohn, ersetzen können, sondern darüber hinaus auch noch Mehrarbeit für den Käufer liefern. Die Ware Arbeitskraft hat auch tatsächlich diese angenehme Eigenschaft. Aber was heißt das? Ist es etwa eine Natureigenschaft des Menschen oder des Arbeiters, daß er Mehrarbeit leisten kann? Nun, zur Zeit, wo die Menschen jahrelang eine Axt aus Stein machten oder Feuer durch stundenlanges Aneinanderreiben von zwei Holzstücken erzeugten, wo sie zur Verfertigung eines einzigen Bogens mehrere Monate brauchten, hätte der schlauste und rücksichtsloseste Unternehmer keine Mehrarbeit aus einem Menschen auspressen können. Es ist also eine gewisse Höhe der Produktivität der menschlichen Arbeit erforderlich, damit der Mensch überhaupt Mehrarbeit leisten kann. Das heißt die Werkzeuge, |735| die Geschicklichkeit, das Wissen des Menschen, sein Herrschaft über die Naturkräfte müssen bereits eine genügende Höhe er eicht haben, damit die Kraft eines Menschen imstande ist, nicht bloß die Lebensmittel für ihn selbst, sondern noch darüber hinaus. also eventuell für andere herstellen zu können. Diese Vollkommenheit der Werkzeuge, das Wissen, die gewisse Beherrschung der Natur wurden aber erst durch lange Jahrtausende qualvoller Erfahrung der menschlichen Gesellschaft erworben. Der Abstand von den ersten plumpen Steininstrumenten und der Entdeckung des Feuers bis zu den heutigen Dampf- und Elektrizitätsmaschinen bedeutet den ganzen gesellschaftlichen Entwicklungsgang der Menschheit, eine Entwicklung, die eben nur innerhalb der Gesellschaft, durch das gesellschaftliche Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Menschen möglich war. Jene Produktivität der Arbeit also, die der Arbeitskraft des heutigen Lohnarbeiters die angenehme Eigenschaft verleiht, Mehrarbeit zu leisten, ist nicht eine von der Natur gegebene, physiologische Besonderheit des Menschen, sondern sie ist eine gesellschaftliche Erscheinung, die Frucht einer langen Entwicklungsgeschichte. Die Mehrarbeit der Ware Arbeitskraft ist nur ein anderer Ausdruck für die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, die durch eines Menschen Arbeit mehrere Menschen zu erhalten vermag.
Die Produktivität der Arbeit, besonders wo sie durch glückliche Naturbedingungen schon auf primitiven Kulturstufen ermöglicht wird, führt jedoch durchaus nicht immer und überall zum Verkauf der Arbeitskraft und zu ihrer kapitalistischen Ausbeutung. Versetzen wir uns für einen Augenblick in jene begnadeten tropischen Gegenden Zentral- und Südamerikas, die nach der Entdeckung Amerikas und bis Anfang des 19. Jahrhunderts spanische Kolonien waren, jene Gegenden mit heißem Klima und fruchtbarem Boden, wo die Bananen die Hauptnahrung der Bevölkerung sind. »Ich glaube nicht«, schrieb Humboldt, »daß es auf dem Erdboden noch eine andere Pflanze gibt, die auf einem so kleinen Fleck Bodens eine so ansehnliche Masse nahrhafter Substanz hervorbringt.«[2] »Nach diesem Prinzip«, berechnet v. Humboldt, »findet man die sehr merkwürdige Tatsache, daß in einem besonders fruchtbaren Land ein halber Hektar Boden, der mit Bananen von der großen Gattung (Platano arton) angebaut ist, über fünfzig Individuen nähren kann, da hingegen dieser nämliche Fleck Landes in Europa (das achte Korn angenommen) bloß 576 Kilogramm Weizenmehl, also nicht einmal Nahrung für zwei Perso- |736| nen, geben würde.«[3] Dabei erfordert die Banane die geringste Mühe vom Menschen, sie bedarf nur ein- oder zweimaliger leichter Aufrüttelung der Erde um die Wurzeln. »Am Fuße der Kordilleren, in den feuchten Tälern der Intendantschaften von Veracruz, von Valladolid oder Guadalajara«, sagt weiter Humboldt, »braucht ein Mann nur zwei Tage in der Woche sich mit harter Arbeit zu beschäftigen, um eine ganze Familie zu ernähren.«[4] Es ist klar, daß hier die Produktivität der Arbeit an sich eine Ausbeutung wohl ermöglicht, und ein Gelehrter mit echt kapitalistischer Seele, wie Malthus, ruft auch mit Tränen bei der Beschreibung dieses irdischen Paradieses: »Welch enorme Mittel zur Produktion unendlicher Reichtümer!« [5] Das heißt mit anderen Worten: Wie herrlich ließe es sich aus der Arbeit dieser Bananenfresser für rührige Unternehmer Gold schlagen, wenn man diese Faulenzer zur Arbeit anspannen könnte. Aber was sahen wir in Wirklichkeit? Die Einwohner dieser begnadeten Gegenden dachten nicht daran, für Anhäufung von Geld zu schanzen, sondern sahen nur ein bißchen hie und da nach den Bäumen, ließen sich ihre Bananen schmecken, und die viele freie Zeit lagen sie in der Sonne und freuten sich des Lebens. Humboldt sagt auch sehr bezeichnend: »Oft hört man in den spanischen Kolonien die Behauptung wiederholen, daß sich die Bewohner der heißen Gegend (Tierre caliente) so lange nicht aus dem Zustand von Apathie, in welchen sie seit Jahrhunderten versunken sind, erheben könnten, als kein königlicher Befehl die Zerstörung der Bananas-Pflanzungen (Platanares) verordnete.«[6] [Hervorhebung - R. L.] Diese vom europäischen kapitalistischen Standpunkt sogenannte »Apathie« ist eben der Geisteszustand aller Völker, die noch in den Verhältnissen des primitiven Kommunismus leben, in denen als Zweck der menschlichen Arbeit bloß die Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse des Menschen und nicht die Anhäufung von Reichtümern erscheint. Solange aber diese Verhältnisse vorherrschen, kann bei der größten Produktivität der Arbeit an eine Ausbeutung der einen Menschen durch die anderen, an die Verwendung der menschlichen Arbeitskraft zur Produktion von Mehrarbeit nicht gedacht werden.
Allein der moderne Unternehmer hat diese angenehme Eigenschaft der menschlichen Arbeitskraft nicht als erster entdeckt. Tatsächlich sehen wir |737| die Ausbeutung der Mehrarbeit durch Nichtarbeitende schon in alten Zeiten. Die Sklaverei im Altertum wie das Fronverhältnis und die Leibeigenschaft im Mittelalter beruhen beide auf der bereits erreichten Produktivität, das heißt der Fähigkeit der menschlichen Arbeit, mehr als einen Menschen zu erhalten. Beide sind auch bloß verschiedene Formen, in denen eine Klasse der Gesellschaft sich diese Produktivität zunutze machte, indem sie sich von der anderen Klasse erhalten ließ. In diesem Sinne sind der antike Sklave wie der mittelalterliche Leibeigene direkte Vorfahren des heurigen Lohnarbeiters. Aber weder im Altertum noch im Mittelalter wurde die Arbeitskraft trotz ihrer Produktivität und trotz ihrer Ausbeutung zur Ware. Das Besondere im heutigen Verhältnis des Lohnarbeiters zum Unternehmer, was es von der Sklaverei wie von der Leibeigenschaft unterscheidet, ist vor allem die persönliche Freiheit des Arbeiters. Der Warenverkauf ist ja ein auf völliger individueller Freiheit beruhendes, freiwilliges, privates Geschäft jedes Menschen. Ein unfreier Mensch kann seine Arbeitskraft nicht verkaufen. Ferner aber ist dazu noch als Bedingung erforderlich, daß der Arbeiter keine Produktionsmittel besitzt. Hätte er solche, so würde er selbst Waren produzieren und nicht seine Arbeitskraft als Ware veräußern. Die Loslösung, die Trennung der Arbeitskraft von den Produktionsmitteln ist also neben der persönlichen Freiheit, was heute die Arbeitskraft zur Ware macht. In der Sklavenwirtschaft ist die Arbeitskraft von den Produktionsmitteln nicht getrennt, im Gegenteil, sie bildet selbst ein Produktionsmittel und gehört neben Werkzeugen, Rohstoffen usw. als Privateigentum ihrem Herrn. Der Sklave ist selbst bloß ein Teil der unterschiedslosen Masse der Produktionsmittel des Sklavenhalters. In dem Fronverhältnis ist die Arbeitskraft direkt rechtlich an das Produktionsmittel, an die Scholle, gefesselt, sie ist selbst nur Zubehör des Produktionsmittels. Die Fronleistungen und Abgaben werden ja gar nicht von Personen, sondern vom Grundstück geleistet; geht das Grundstück als Erbe oder dergleichen in andere Arbeitshände über, so mit ihm zugleich die Abgaben. Jetzt ist der Arbeiter persönlich frei, und weder ist er jemandes Eigentum, noch ist er an Produktionsmittel gefesselt. Im Gegenteil, die Produktionsmittel sind in einer Hand, die Arbeitskraft in anderer, und zwar stehen sich die zwei Eigentümer als selbständige und freie, als Käufer und Verkäufer gegenüber - der Kapitalist als Käufer, der Arbeiter als Verkäufer der Arbeitskraft. Endlich führen aber auch die persönliche Freiheit sowie die Trennung der Arbeitskraft von den Produktionsmitteln, auch bei hoher Produktivität der Arbeit, nicht immer zur Lohnarbeit, zum Verkauf der Arbeitskraft. Ein solches Beispiel sahen wir |738| im alten Rom, nachdem die große Masse der freien Kleinbauern durch die Herausbildung großer adeliger Besitztümer mit Sklavenwirtschaft von ihren Grundstücken verdrängt wurden. Sie blieben persönlich freie Menschen, da sie aber keinen Grund und Boden mehr, also keine Produktionsmittel hatten, so kamen sie vom Lande her massenweise nach Rom als freie Proletarier. Indes hier konnten sie ihre Arbeitskraft nicht etwa verkaufen, denn es würde sich kein Käufer dafür finden; die reichen Grundbesitzer und Kapitalisten brauchten keine gekauften freien Arbeitskräfte, weil sie sich von Sklavenhänden erhalten ließen. Die Sklavenarbeit genügte damals vollständig zur Befriedigung aller Lebensbedürfnisse der Grundbesitzer, die für sich alles mögliche durch Sklavenhände verfertigen ließen. Mehr aber als zum eigenen Leben und Luxus konnten sie Arbeitskräfte nicht verwenden, weil nur eigener Konsum und nicht Warenverkauf Zweck der Sklavenproduktion war. Den römischen Proletariern waren somit alle Lebensquellen aus eigener Arbeit verschlossen, und es blieb ihnen auch nichts anderes übrig, als vom Bettel - vom Staatsbettel, von periodischen Verteilungen der Lebensmittel - zu leben. Statt der Lohnarbeit entstand also im alten Rom Massenfütterung der besitzlosen Freien auf Staatskosten, weshalb der französische Ökonomist Sismondi sagte: Im alten Rom erhielt die Gesellschaft ihre Proletarier, heute erhalten die Proletarier die Gesellschaft. Wenn aber heute die Arbeit der Proletarier für eigene und fremde Erhaltung, wenn der Verkauf ihrer Arbeitskraft möglich ist, so ist es deshalb, weil heute die freie Arbeit die einzige und ausschließliche Form der Produktion ist und weil sie als Warenproduktion eben nicht auf den direkten Konsum gerichtet ist. sondern auf Herstellung von Produkten zum Verkauf. Der Sklavenhalter kaufte Sklaven zur eigenen Bequemlichkeit und zum Luxus, der Feudalherr preßte dem Fronbauern Leistungen und Abgaben zu demselben Zweck ab: um in Saus und Braus mit seiner Sippschaft zu leben. Der moderne Unternehmer läßt die Arbeiter nicht Gegenstände der Nahrung, Kleidung und Luxus für den eigenen Gebrauch produzieren, sondern er läßt sie Waren zum Verkauf produzieren, um dafür Geld zu lösen. Und dieses Geschäft eben macht ihn zum Kapitalisten, wie es den Arbeiter zum Lohnarbeiter macht.
So sehen wir, daß die bloße Tatsache des Verkaufs der Arbeitskraft als Ware auf eine ganze Reihe bestimmter gesellschaftlicher und geschichtlicher Verhältnisse hinweist. Die bloße Erscheinung der Arbeitskraft als Ware auf dem Markt zeigt an: 1. die persönliche Freiheit der Arbeiter; 2. ihre Trennung von den Produktionsmitteln sowie Ansammlung der Produktionsmittel in den Händen Nichtarbeitender; 3. einen hohen Grad der |739| Produktivität der Arbeit, das heißt die Möglichkeit, Mehrarbeit zu leisten; 4. die allgemeine Herrschaft der Warenwirtschaft, das heißt die Schaffung der Mehrarbeit in Warenform zum Verkauf als Zweck des Kaufs der Arbeitskraft.
Äußerlich, vom Standpunkte des Marktes, ist der Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft ein ganz gewöhnliches Geschäft, wie sie zu Tausenden jeden Augenblick vor sich gehen, wie ein Kauf von Stiefeln oder Zwiebeln. Wert der Ware und seine Veränderungen, ihr Preis und dessen Schwankungen, Gleichheit und Unabhängigkeit des Käufers und Verkäufers auf dem Markt, Freiwilligkeit des Geschäfts - alles ist genauso wie bei jedem anderen Kaufgeschäft. Aber durch den besonderen Gebrauchswert dieser Ware, durch die besonderen Verhältnisse, die diesen Gebrauchswert erst schaffen, wird dieses alltägliche Marktgeschäft der Warenwelt zu einem neuen, ganz besondern gesellschaftlichen Verhältnis. Sehen wir weiter zu, was sich aus diesem Marktgeschäft entwickelt.
Redaktionelle Anmerkungen
[1] David Ricardo: Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Gerhard Bondi, Berlin 1959, S. 376. <=
[2] Friedrich Alexander von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreiches Neu-Spanien, Dritter Band, Tübingen 1812, S. 17/18. <=
[3] Friedrich Alexander von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreiches Neu-Spanien, Dritter Band, Tübingen 1812, S. 22. <=
[4] Friedrich Alexander von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreiches Neu-Spanien, Dritter Band, Tübingen 1812, S. 24. <=
[5] Thomas Robert Malthus: Principles of Political Economy Considerend. With a View To Their Practical Application, London 1820, S. 383. <=
[6] Friedrich Alexander von Humboldt: Versuch über den politischen Zustand des Königreiches Neu-Spanien, Dritter Band, Tübingen 1812, S. 23/24. <=
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